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Das Undenkbare denken

Unterwegs in die strahlende Zukunft?

Das eigentlich Undenkbare hat ein Gefahrenpotenzial, das man nicht unterschätzen sollte. Es ist inzwischen 77 Jahre her, dass die USA gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zweimal die Atombombe einsetzten. Bis heute ist umstritten, ob damit der Zweite Weltkrieg verkürzt und Japan zur schnellen Kapitulation gebombt wurde – oder ob es sich um einen reinen Terrorangriff (mehr als 200’000 zivile Tote, Langzeitschäden und -folgen bis heute) handelte.

Damals wollten die USA auch zeigen, dass sie als erste Militärmacht über diese neue Waffe verfügten; der Beginn des atomaren Wettrüstens, das die Welt im Kalten Krieg mehrfach an den Rand der Vernichtung brachte. Neuerdings wird immer häufiger auf die Oktoberkrise 1962 verwiesen. Nach vielen Untersuchungen und Konferenzen zum Thema weiss man inzwischen, dass wohl niemals im ganzen Kalten Krieg die Welt so nahe an einem atomaren Schlagabtausch stand.

Die damalige Sowjetunion hatte auf Kuba Atomraketen stationiert, mit denen die USA innert Minuten hätten erreicht werden können. 1959 hatte auf der Zuckerinsel die Guerilla von Fidel Castro gesiegt und den von den USA unterstützten Diktator Batista verjagt. Bis 1959 war Kuba mehr oder minder ein Protektorat der USA, wo sich seit der Prohibition die Mafia eingenistet hatte. Glücksspiel, Prostitution, Alkohol, Drogen. Und ein korrupter Diktator.

Graham Greene hat die vorrevolutionäre Zeit genial in seinem Roman «Unser Mann in Havanna» ironisch gebrochen beschrieben. Nach dem Triumph der Revolution setzte ein fast zwangsläufiger Mechanismus ein, der die Insel von den USA entfremdete und die Nationalrevolutionäre um Castro in die Arme der einzigen anderen Supermacht trieb. Natürlich liess sich die UdSSR die Gelegenheit nicht entgehen, sozusagen über einen Flugzeugträger im Unterbauch der USA zu verfügen.

Die Geschichte der Oktoberkrise 1962 wäre unvollständig ohne die Vorgeschichte der Invasion in der Schweinebucht. Exilkubaner, unterstützt von der CIA und wohlwollend aufmunitioniert von der Regierung Eisenhower, hatten 1961 den Versuch unternommen, Castro von der Macht zu vertreiben. In völliger Verkennung der Sachlage meinten sie, nach einer Landung auf Kuba würde die Bevölkerung in Scharen zu ihnen überlaufen, man würde ein Stückchen Kuba zur befreiten Zone erklären, von den USA als legitime Regierung anerkannt werden und mit amerikanischer Militärhilfe in Havanna einmarschieren.

In Wirklichkeit war die Landung in der Schweinebucht von Anfang an ein Desaster, Fidel Castro höchstpersönlich führte die Gegenwehr an, und in 48 Stunden war der Spuk vorbei. Hans Magnus Enzensberger beschrieb grossartig, wie der anschliessende Prozess in Havanna gegen die mehr als 1000 gefangen genommenen Invasoren ablief. Castro höchstpersönlich stellte sich ihnen, sicherte ihnen zu, dass niemandem etwas geschehen würde und liess sich auf die Debatte ein, wieso man ihn eigentlich von der Macht vertreiben wollte.

Anschliessend wurden die geschlagenen Konterrevolutionäre – mit wenigen Ausnahmen von Folterknechten von Batista – in die USA zurückspediert. Ein grossartiger erster Sieg Lateinamerikas gegen den US-Imperialismus. Aber nach dieser Invasion, die vom neuen Präsidenten Kennedy nur halbherzig unterstützt worden war, gab es auf Kuba die Befürchtung, dass es zu einem zweiten Versuch kommen könnte, diesmal mit militärischer Rückendeckung der USA.

Wie freigegebene Protokolle belegen, forderte der mutmassliche Kriegsverbrecher Henry Kissinger noch viel später vom damaligen Präsidenten Nixon, dass man Castro nun endlich erledigen müsse. Dieser Plan scheiterte am erzwungenen Rücktritt Nixons. Nachdem Kuba bereits wirtschaftlich vom Ostblock unterstützt wurde, bekam die Insel des Sozialismus nach der Schweinebucht auch massive militärische Hilfe – bis hin zur Stationierung von Atomwaffen.

Die UdSSR stritt das zunächst ab, bis die USA mit Spionageflügen die Existenz von Abschussrampen beweisen konnten. Der damalige Kreml-Herrscher Chruschtschow ging davon aus, dass der immer noch relativ unerfahrene US-Präsident Kennedy nicht wagen würde, es auf eine Konfrontation ankommen zu lassen. Der reagierte aber mit einer Seeblockade um Kuba. Der näherte sich bis auf wenige Kilometer eine russische Flotte, die wohl weiteren Nachschub nach Kuba hätte bringen sollen.

Das war der Moment, als in beiden Kommandozentralen in den USA und in der UdSSR der Finger jeweils nur wenige Zentimeter vom roten Knopf entfernt war, mit dem ein Atomkrieg ausgelöst werden konnte. Erst im letzten Moment drehte die russische Flotte ab. Anschliessend wurde in komplizierten Geheimverhandlungen vereinbart, dass die UdSSR die Atomraketen wieder aus Kuba abzog. Gegen die Zusicherung der USA, keine weitere militärische Invasion zu versuchen – und ihrerseits Atomwaffen aus der Türkei abzuziehen, von denen sich die UdSSR bedroht sah.

Diese Ereignisse sind im Film «Thirteen Days» mit Starbesetzung eindrücklich nachgespielt, wen’s interessiert. Nicht nur in Kenntnis dieses Films ist klar: die aktuelle Bedrohung durch den möglichen Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine ist mit der damaligen Situation nicht zu vergleichen.

Heute haben wir einen russischen Präsidenten, der mit seinem Versuch, die Ukraine blitzschnell zu erobern (oder zu «befreien»), krachend gescheitert ist. Statt mit einer «militärischen Spezialoperation» die Hauptstadt Kiew innert weniger Tage einzunehmen, die Regierung zu stürzen und eine Russland genehme einzusetzen, ist Putin inzwischen in einen langwierigen Stellungskrieg verwickelt, der zudem die Schwächen der russischen Militärmacht geradezu peinlich offenbart.

Eroberte Gebiete können nicht gehalten werden, offenbar gibt es dramatische Verluste an Mensch und Material. Immer wieder ist von Versorgungsschwierigkeiten, demotivierten Truppen, korrupten Anführern und schweren taktischen Fehlern die Rede. Ein Autokrat wie Putin kann es sich nicht leisten, selbst verkündete Kriegsziele aufzugeben. Zu hoch hat er bereits gepokert, zu tiefgreifend ist das Verhältnis zum Westen bereits zerstört.

Weder auf dem Schlachtfeld, noch mit seinen wirtschaftlichen Kriegszügen ist Putin sonderlich erfolgreich. Europa ist zwar wirtschaftlich geschwächt, wovon die USA als lachender Dritter profitieren. Aber die über Russland verhängten Sanktionen treffen die dortige Wirtschaft viel nachhaltiger. China ist nicht bereit, bei High-Tech-Produkten in die Bresche zu springen, ganz abgesehen davon, dass auch China – im Gegensatz zu Taiwan – gar nicht über die entsprechenden Produktionskapazitäten verfügt.

Nun hat Putin noch eine Teilmobilmachung angeordnet, womit der Krieg in der russischen Gesellschaft angekommen ist und Tausende von jungen Russen das Land verlassen. Durch die völkerrechtswidrige Annexion von vier Teilrepubliken aufgrund eines lächerlichen Referendums hat Putin die Vorraussetzungen geschaffen, um seine Drohung wahr zu machen, auf Angriffe auf russische Territorien mit allen Mitteln zu reagieren, «und das ist kein Bluff».

Mit diesen Mitteln meint er auch den möglichen Einsatz von Atomwaffen. Das wäre einerseits absurd und militärisch unsinnig. Putin würde im Ernstfall selbst russisches Territorium bombardieren und durch die Verstrahlung unbewohnbar machen. Auf der anderen Seite ist es kitzlig, auf eine solche Drohung adäquat zu reagieren.

Der langsam Amok laufende ukrainische Präsident fordert bereits «Präventivschläge» als Reaktion auf diese Drohung. Denn die schönfärberischen Berichte in den westlichen Medien über ukrainische Erfolge können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Infrastruktur des Landes zunehmend zerstört ist, der Krieg bereits Schäden in der Höhe von wohl über 500 Milliarden Dollar angerichtet hat, der Staat seine Verpflichtungen nur dank ständig neu fliessenden westlichen Krediten nachkommen kann. Genauso, wie die Ukraine militärisch von westlicher Unterstützung abhängig ist.

Also ist nun die Frage, ob der Westen ukrainische Rückeroberungen von annektierten Gebieten mit voller Kraft unterstützen würde. Auch auf die Gefahr hin, dass der andere Amok im Kreml mit einem Atomschlag antwortet. Was er wohl spätestens beim Versuch, die Krim zurückzuerobern, zweifellos tun würde.

Die neue Situation besteht auch darin, dass während der Kubakrise die Militärdoktrin MAD, mad für verrückt, existierte. Mutual Assured Destruction hiess das, oder einfach: wer zuerst atomar angreift, stirbt als zweiter. Im Fall der Ukraine ist die Gefahr nicht allzu gross, dass die Welt in einem atomaren Feuersturm untergehen würde. Denn es ist nicht damit zu rechnen, dass die USA (oder ihre alliierten Atommächte England und Frankreich) atomar auf den Einsatz von taktischen Atomwaffen durch Russland reagieren würden.

Putin wäre damit endgültig zum Paria unter den Staatsführern geworden, nicht einmal China (oder Indien) würde ihn weiterhin unterstützen. Also haben wir zurzeit die Situation eines klassischen Showdowns. Zwei Revolverhelden stehen sich gegenüber, die Hand auf der Waffe. Jeder sucht beim anderen nach Anzeichen, ob der ziehen will. Oder einknickt. Fehlt nur noch die Musik von Ennis Morricone. Leider stehen sich aber nicht Charles Bronson und Henry Fonda gegenüber. Sondern ein leicht seniler US-Präsident und ein in die Enge getriebener Autokrat in Moskau.

Wir alle dürfen mit offenen Mündern zuschauen und wieder einmal zur Kenntnis nehmen, dass unsere Meinung, unsere Existenz überhaupt keine Rolle spielen, wenn Grosssmächte Grossmachtspolitik betreiben.