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Positive Rückkoppelung

Bei einer Herde kommt’s zur Stampede. Beim Journalismus zu Schlimmerem.

Unter Rückkoppelung versteht man allgemein, dass sich ein Signal verstärkend auf sich selbst auswirkt. Man nennt das in der Physik auch «Selbsterregung». Nein, das ist nicht das, was nun vielleicht der männliche Tamedia-Redaktor hineinliest, dieses sexistische Schwein.

Diese Rückkoppelung bricht normalerweise recht schnell zusammen. Im Ernstfall kann sie auch Schäden anrichten, bspw. an Schaltkreisen. Passiert das bei einem Mikrophon, entsteht ein unangenehmes Pfeifen, das alle anderen Geräusche übertönt.

Es gibt auch erwünschte Formen von Rückkoppelungen und die sogenannte negative. Das würde hier zu weit führen.

Solche Rückkoppelungen gibt es auch im tierischen und menschlichen Verhalten. Paradebeispiel bei Tieren ist die Herde, zum Beispiel von Huftieren wie Kühen oder Bisons. Ohne denen zu nahe treten zu wollen, ist ihr IQ eher begrenzt. Also konkret die Fähigkeit zum selbständigen Denken oder Analysieren.

Stattdessen hat ihnen die Natur eine Rückkoppelung eingebaut, die häufig rettend wirkt. Bemerkt zum Beispiel eine Kuh am Rand der Herde, dass sich ein Raubtier mit finsteren Absichten nähert, gibt sie sofort ihrem Fluchtreflex nach und rennt los. Die Kühe am anderen Rand der grossen Herde haben nichts vom Raubtier mitbekommen, bemerken aber, dass sich dort unten immer mehr Kühe fluchtartig in Bewegung setzen. Also machen alle mit, was im Fachbegriff Stampede heisst und der Alptraum jedes Cowboys ist.

Denn ob mit oder ohne realen Grund, dieser Fluchtreflex durch Rückkoppelung geht meistens nicht ohne Verletzte und Tote ab. Zudem dauert es ein Weilchen und wird meistens durch reine Erschöpfung bewirkt, dass sich die Herde wieder beruhigt und ihren normalen Tagesaufgaben nachgeht: Gras fressen. Wer sich aber einer solchen Stampede in den Weg stellt, ob Raubtier oder Cowboy, hat eher schlechte Überlebenschancen.

Bei den Tieren ist’s Stampede, bei uns Massenpanik

Kühe sind halt blöd, weiss man ja. Bei Menschen nennt man das gleiche Verhalten nicht Stampede, sondern etwas vornehmer Massenpanik. Auch hier braucht es eine grössere, amorphe Masse von Menschen – und einen wie auch immer gearteten Anlass.

Der Idiot, der in einem dunklen Kinosaal «Feuer» ruft, kann ein solcher Anlass sein. In einem modernen Gebäude würden eigentlich genügend Notausgänge zur Verfügung stehen und eine geordnete Flucht wäre leicht möglich. Dennoch kommt es immer wieder zu einer Massenpanik; Menschen werden niedergetrampelt, buchstäblich zerquetscht. Taucht irgendwo ein unerwartetes Hindernis auf, drücken die hinteren Massen panisch nach, während vorne beim Hindernis Menschen sterben.

Die Panik im Heisel-Stadium 1984 ist ein bis heute bekanntes schreckliches Beispiel. 39 Tote, bis zu 600 Verletzte war die Bilanz einer plötzlich ausgebrochenen Massenpanik.

Nicht so direkt lebensgefährdend, aber ebenfalls sehr schädlich sind Rückkoppelungen in den Medien. Massenmedien sind per Definition Verstärker, sie transportieren Informationen und Meinungen, die vielen Menschen als Grundlage für ihr Weltbild, ihre Ansichten, auch ihre Verhaltensweisen dienen. Entsprechend hoch sollte eigentlich das Verantwortungsbewusstsein der Meinungsmacher, der Hersteller von News sein.

Ein frommer Wunsch, heutzutage. Denn es hat immer mehr eine besonders fatale Form von Rückkoppelung stattgefunden, die sich immer stärker fortpflanzt. Durch die ständige Überprüfbarkeit der Leserreaktion im Internet, also durch das Messen von Klicks, kann man real time entscheiden, welche Artikel, welche Themen, welche Trigger Wirkung zeigen und welche nicht.

Gib dem Leser, was der Leser will

Wer triggern will, muss stimulieren. «Eine Untersuchung der Denkstrukturen des russischen Präsidenten» versus «Sprengt der Wahnsinnige die ganze Welt in die Luft?» – welcher Titel generiert wohl mehr Klicks?

Klar, ist nicht mal eine rhetorische Frage. Stimulieren und triggern ist das Gegenteil von differenzieren, analysieren und erklären. Vorhandene Urteile zu bestätigen ist viel wirkungsvoller als gegen den Strom schwimmen zu wollen.

Ein einfaches Schwarzweissdenken, verbunden mit Rückkoppelung, ist mit anderen Worten das Ende jeder sinnvollen Information. Absurderweise hat dieses Verhalten die gleichen Auswirkungen wie idiotische Zensurversuche in Autokratien. Dort versucht das Regime, ihm unpässliche Meinungen und Informationen schlichtweg durch Zensur zu unterbinden. Aber schon vor dem Internet gab es beispielsweise in Russland das Phänomen des Samisdat. Mit diesem «Selbstherausgegebenen» unterliefen Dissidenten das staatliche Meinungsmonopol.

Allerdings war die Massenwirkung beschränkt.

Auch im Westen gibt es eine Samisdat-Presse

Bei der sogenannten «freien Presse» im Westen findet ein ähnliches Phänomen statt. Die grossen Massenmedien beschallen ihr Publikum mit Rückkoppelung der vorher festgeklopften, einfachen Weltbilder und Meinungen. Kurz: Selinskyj strahlender Held, Putin wahnsinniger Bösewicht.

Daneben gibt es natürlich auch im Westen Alternativmedien, vertiefte Analysen, die Fähigkeit, aus diesem primitiven Schwarzweiss auszusteigen. Diese Medien sind zwar nicht, wie im alten Ostblock und heute noch in Russland oder China, verboten. Aber sie haben eine sehr überschaubare Einschaltquote. Und bekommen sie gelegentlich Aufmerksamkeit in den grossen Plattformen, werden sie dort verächtlich gemacht. Der «Putin-Versteher», der «Verschwörungstheoretiker», der «nützliche Idiot», das «Opfer der russischen Propaganda».

Ernstgemeinte Frage: wo ist genau der Unterschied?

Geheime Tipps für noch mehr Klicks

Der Titel ist schon mal Bauernfängerei. Und nun kommt noch der Sex ins Spiel.

Fragen im Titel? Das, wurde einem früher eingebläut, geht im Journalismus gar nicht. Man soll nicht werweissen, sondern informieren. Doch im Online-Journalismus gilt diese eiserne Regel nicht mehr. Denn ein klarer Titel verführt weniger zum Klicken. Und Klicks – Visits – bedeuten mehr Werbung. Gaudenz Looser, Chefredaktor von «20 Minuten», weiss, wie das geht. Wer unter ihm arbeitet, kann ein Lied davon singen. Der Titel muss sitzen und der kurze Text sofort reinziehen. Ein immer noch treffender Artikel in der NZZ am Sonntag (März 2020, hinter Bezahlschranke) bringt das auf den Punkt. Der Druck sei hoch, es gebe interne Rankings, ein Video müsse bei jedem Ausrücken her, wenn es pressiere, schreibe man ein Zitat und frage bei den Politikern, ob das so ok sei. Den letzten Vorwurf wies Looser vehement zurück. Auch die anderen Beispiele hielt Looser für realitätsfremd, «da sie von anonymen Quellen stammen». Nur, wer in der Schweiz offen Kritik übt am System, hat es schwierig im Medienkuchen. Wenn Klicks so sehr zählen, schreibt man entsprechend. Sex geht immer, Fragen im Titel sind bald Standard.

Clever ist hier der «Blick», der eine gute alte Publireportage fast schon als Investigativ-Text aufmacht. Und dann 5000 Zeichen darüber bringt, wie verantwortungsvoll Philip Morris doch ist.

«20 Minuten» lässt oft im Titel und im Lead die Katze nicht aus dem Sack. Man wird aber gwundrig und schon hat man geklickt. Drei schöne Beispiele hier:

Natürlich und wie gesagt. Sex geht immer. Auch wenn der Teaser-Text (vom Dienstagmittag) leicht überholt daherkommt: «Neben Boutiquebesitzern und Restaurantinhabern haben sich Single-Frauen wohl am meisten auf die Lockerung des Lockdowns gefreut. Jetzt kann das Sexdating endlich wieder losgehen.»  Da kann ZACKBUM.ch nur sagen: schlechte Qualitätskontrolle bei 20 Minuten.

Auch nicht schlecht ist die Masche mit den Listicles, auch wenn dieser Trend eher wieder abzuebben scheint. Die «Du-Form» geht natürlich nur bei «20 Minuten». König der Listen (und der Katzenbilder) ist aber eigentlich das Millionengrab watson.ch. Aber davon ein andermal.