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Bombenstimmung

Auch Kriege werden global. Kiew ist auf dem Landweg rund 2100 km von Bern entfernt.

Am 26. April 1986 begann die Atomkatastrophe im Reaktorblock 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl. Das ukrainische AKW liegt auch rund 2100 km von Bern entfernt. Für diese Distanz braucht Radioaktivität kaum 24 Stunden.

Tschernobyl war der bislang schwerste Reaktorunfall der Geschichte. Er ereignete sich wegen menschlichen Fehlern, des Verstosses gegen Sicherheitsvorschriften und wegen einer gefahrenanfälligen Technologie.

Saporischschja ist das grösste AKW Europas. Es ist knapp 2600 km Landweg von Bern entfernt. Russland und die Ukraine beschuldigen sich gegenseitig, es gelegentlich unter Artilleriefeuer zu nehmen. Hier kann sich Tschernobyl jederzeit wiederholen; die Auswirkungen wären wohl noch verheerender.

Zum bislang einzigen militärischen Einsatz von Atomwaffen kam es 1945. Die USA zündeten über Hiroshima und Nagasaki in Japan zwei Atombomben. Rund 200’000 Menschen starben sofort; die Nachwirkungen der radioaktiven Verstrahlung halten bis heute an.

Der russische Präsident Putin hat während seiner Rede zur Ankündigung einer Teilmobilmachung nochmals klargestellt, dass sich Russland «mit allen Mitteln» gegen einen Angriff auf sein Territorium verteidigen würde, und «das ist kein Bluff». Damit meint er, dass er bereit ist, in diesem Fall auch Atomwaffen einzusetzen.

In den sogenannten autonomen Teilrepubliken im Osten der Ukraine werden «Referenden» durchgeführt, die darüber entscheiden, ob sich diese Gebiete Russland anschliessen und analog der Krim dann als russisches Territorium gälten.

Sollte die Ukraine versuchen, diesen Teil ihres Staatsgebiets zurückzuerobern, wäre das dann aus der Sicht des Kremlherrschers ein Angriff auf russisches Territorium. Nachdem sich die russische Armee bislang während dieser «militärischen Spezialoperation» als weitgehend unfähig erwiesen hat, es ukrainischen Streitkräften in wenigen Tagen gelungen ist, Gebiete zurückzuerobern, für deren Besetzung Russland Monate brauchte, ist mit dem Schlimmsten zu rechnen.

Das ist nun kein Grund, auf alte Gewohnheiten wie den Verzehr von Rösti oder Fondue zu verzichten. Der Bissen muss einem auch nicht im Hals steckenbleiben, wenn man diese Lageanalyse liest.

Aber das Unvorstellbare hat immer den Nachteil, dass es unvorstellbar ist. Bis es eintritt. Heisst das nun, dass der wehrhafte Schweizer seinen Luftschutzkeller wieder in Betrieb nehmen sollte, überprüfen, ob die Türe noch luftdicht schliesst, der Notvorrat bereitsteht und genügend Jodtabletten in Griffweite sind?

Eher nicht. Denn bei aller Wehrhaftigkeit im Rahmen der bewaffneten Neutralität der Schweiz gibt es in einer globalisierten Welt mit globalisierten Kriegen kein Entkommen, wenn eine Atommacht darin verwickelt ist.

US-Militärs spielten mindestens zweimal ernsthaft mit dem Gedanken, Atomwaffen einzusetzen. Während des Korea- und während des Vietnamkriegs. Und dass die Welt den Kalten Krieg überlebte, als sich zwei Atommächte hochgerüstet gegenüberstanden, grenzt an ein Wunder.

Damals rettete die Welt wohl nur ein Prinzip, das die schöne Abkürzung MAD trägt. MAD wie verrückt, MAD wie mutual assured destruction. Die gegenseitig garantierte Vernichtung bedeutete nichts anderes als: wer zuerst auf den roten Knopf eines Atomschlags drückt, stirbt als Zweiter. Also wurde immerhin kein Krieg begonnen, in dem es keinen Gewinner geben konnte.

Nun ist die Lage in der Ukraine anders. Die ehemalige Sowjetrepublik hat ihre Atomwaffen nach dem Zusammenbruch der UdSSR an Russland zurückgegeben. Gegen die Zusicherung, dass seine territoriale Integrität nicht in Frage gestellt wird. Oder einfacher: dass es nicht von Russland überfallen wird – unter welchem Vorwand auch immer.

Nun hat in diesem asymmetrischen Krieg die eine Seite das grösste Atomwaffenarsenal der Welt – die andere direkte Kriegspartei dagegen hat nur konventionelle Waffen. Die Ukraine steht auch nicht, mangels Mitgliedschaft, unter dem atomaren Abschreckungsschirm der Nato. Und es ist kaum vorstellbar bis ausgeschlossen, dass Atommächte wie die USA, England oder Frankreich die Ukraine mit Atomwaffen ausrüsten werden.

Eine potenziell fatale Situation. Soll man wünschen, dass es Russland gelingt, mit konventionellen Waffen die eroberten Gebiete gegen ukrainische Gegenoffensiven zu verteidigen? Soll man hoffen, dass es auch im Kreml noch genügend vernünftige Menschen gibt, die den Einsatz von taktischen Atomwaffen verhindern würden?

Mit der Teilmobilmachung ist der Ukrainekrieg in der russischen Gesellschaft angekommen. Soll man hoffen, dass die Reaktion Putin aus dem Amt fegen könnte? Oder soll man befürchten, dass ein in die Ecke gedrängter Autokrat lieber mit einem grossen Knall untergehen will statt mit Gewinsel?

Letztlich tröstet der Gedanke auch nicht, dass es völlig egal ist, was Schweizer in der Schweiz in Bezug auf die Ukraine hoffen, denken, wünschen. Die Entscheidungen werden in Moskau, Kiew, Washington und Brüssel gefällt. Nicht in Bern und auch nicht in Zürich. Also bleibt eigentlich nur, das Geschnetzelte und das Leben so intensiv wie möglich zu geniessen. Solange noch das Lämpchen glüht.