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Zahlenakrobatik

Besonders eine Behauptung Mileis sorgt für Hallo.

Verwenden wir die Version von Markus Somm, damit dessen unermüdlicher Newsletter etwas mehr Leser bekommt. Der schreibt:

Wenn jemand nämlich von solchen Wachstumsraten profitiert hat, dann vor allem die Armen. Milei:

  • Um 1800 lebten 95% der Menschheit in tiefer Armut. Sie erarbeiteten geradeso viel, dass sie den Tag überstanden. Eine Missernte, eine Absatzkrise: Und sie verhungerten, buchstäblich, nicht symbolisch
     
  • Gegenwärtig (kurz vor der Pandemie) gelten noch 5% der Weltbevölkerung als extrem arm. Seit 1800 wurden demnach 90 Prozent der Menschheit aus grauenhaften Lebensverhältnissen befreit
Das sind Fakten. Jederzeit abrufbar. Warum aber scheinen so viele kluge Menschen sie nicht zu kennen – oder nicht zur Kenntnis nehmen wollen? Wer die Geschichte Argentiniens studiert, weiss, warum Milei uns hier weiterhelfen kann:

«Jederzeit abrufbare Fakten», behauptet Somm. Ein terrible simplificateur. Es gibt kaum eine komplexere Definition als die der «absoluten Armut». Es gibt kaum einen Indikator, der schwerer weltweit zu messen ist. Oder glaubt jemand im Ernst, dass in gescheiterten afrikanischen Staaten oder in Diktaturen die Zahl der Armen korrekt erhoben und veröffentlicht wird?

Der am meisten verwendete Masstab ist ein gewisses kaufkraftbereinigtes Minimaleinkommen pro Person und Tag. Wer darunter liegt, sei absolut arm. Dieses Kriterium hat zwei Schwachstellen. Wer unter dieser Schwelle liegt, also nicht das Geld hat, um sich das Lebensnotwendige zu verschaffen, müsste eigentlich tot sein, oder sterben. Und damit aus der Statistik fallen.

Zum zweiten berücksichtigen diese Statistiken der Weltbank und anderer Organisationen nur Einkommen, die in Geld messbar sind. Tauschhandel, familiäre oder Stammesfürsorge, nicht quantifizierbare Formen von Überlebensstrategien sind nicht abgebildet.

Noch absurder ist es, für 1800 eine solche Zahl nennen zu können. Damals waren weite Teile der Welt noch statistisch gesehen Terra incognita.

Zu all diesem Unfug kommt noch etwas hinzu. Somm zitiert zustimmend, dass der argentinische Präsident für diese Entwicklung in erster Linie den Kapitalismus verantwortlich macht, während der Sozialismus das Gegenteil bewirkt habe. Mehr Friedman und Hayek lesen, jubiliert Hobbyökonom Somm, der nicht mal seinen «Nebelspalter» in die schwarzen Zahlen führen kann. Muss man das so sehen, dass es sich hier um ein sozialistisches Experiment handelt?

Wie auch immer, der Hauptwiderspruch in der von ihm bejubelten Argumentation von Milei fällt Somm – wie den meisten Kommentatoren – gar nicht auf. Denn mit Abstand der wichtigste Grund für die tatsächlich stattfindende Verminderung der Armut auf der Welt trägt einen Namen: China. Indem in China Hunderte Millionen Menschen zu einem bescheidenen Wohlstand kamen, verringerte sich die Zahl der Armen auf der Welt. In Schwarzafrika hingegen nahm sie zu.

Nun ist China zweifellos eine kommunistische Parteidiktatur. Also von all den angeblich zentral wichtigen Errungenschaften wie freie Marktwirtschaft, kaum staatliche Lenkung, Meinungsfreiheit usw. weit entfernt. So legte China über viele Jahre Wachstumsraten hin, von denen kapitalistische Staaten nicht mal träumen konnten.

Statt spitze Jubelschreie auszustossen, wäre es doch viel sinnvoller gewesen, wenn Somm versucht hätte, diese Widersprüche oder zumindest Komplexitäten darzustellen, so als eigenständige intellektuelle Leistung. Aber eben, dafür braucht es halt gewisse Voraussetzungen und Fähigkeiten, oberhalb davon, Buchstaben sortieren zu können.

Sicher ist die Unsicherheit

Glücklich sind die Einfältigen und Einfachen im Geist. Aber wie weiter in unsicheren Zeiten?

Wer schon immer wusste, dass die Vernunft siegt, kann sich beruhigt zurücklehnen. Angeblich haben wir nun doch alle Voraussetzungen, um dieser Pandemie ein für alle Mal den Garaus zu machen.

Wer nicht in der Lage ist, seine Hirntätigkeit dermassen herunterzufahren, macht sich Sorgen. Nicht unbedingt um die medizinischen Entwicklungen, auch nicht um einen möglichen Zusammenbruch des Gesundheitssystems. Wirklich besorgniserregend ist etwas ganz anderes, was in all den Hunderten von Berichten und Kommentaren kein einziges Mal thematisiert wird.

Jeder, der wirtschaftliche Verantwortung trägt oder schon einmal etwas davon gehört hat, weiss, dass es immer Flexibilität und Anpassungsfähigkeit braucht, wenn ein Geschäftsmodell die Zeiten überleben will. Aber es gibt ein potenziell tödliches Gift, das lähmt und tötet: Unsicherheit.

Es ist ein alter Scherz, dass Prognosen über die Zukunft schwierig sind. Es ist eine alte Erkenntnis, dass ein gedeihliches wirtschaftliches Wirken auf zwei Grundvoraussetzungen beruht. Rechtssicherheit und Handlungssicherheit.

Rechtssicherheit bedeutet, dass nicht plötzlich die Spielregeln geändert werden, gar noch rückwirkend. Unternehmerische Entscheidungen haben normalerweise ein Pay Back von sieben Jahren. Also eine heutige Investition sollte sich in dieser Zeit amortisiert haben. Wenn alles gutgeht. Muss nicht sein, daher spricht man auch vom Unternehmerrisiko.

Aber Staaten, die über längere Zeit Rechtssicherheit garantieren können, denen geht es normalerweise gut. Auch hier können sowohl politisch wie gesellschaftlich jede Menge Fehler gemacht werden. Aber wenn diese Rahmenbedingung stimmt, dann ist die wirtschaftliche Entwicklung belastbar. Und, man mag das mögen oder nicht, das Wohlergehen der Teilhaber einer Gesellschaft hängt vom ökonomischen Unterbau ab. Nicht vom Herumgehampel im intellektuellen Überbau.

Die zwei Triebkräfte der Prosperität

Eine robuste Wertschöpfung ist zunächst einmal die Grundlage für alle Debatten um Umverteilung. Denn auch umverteilt kann nur werden, was zunächst produziert wurde. Ausser, aber das geht mittelfristig nie gut, man ersetzt Wertschöpfung durch Geldschöpfung.

Die zweite Voraussetzung heisst Handlungssicherheit. Mit allen Unwägbarkeiten der Zukunft hilft es beispielsweise bei einem Investitionsentscheid, wenn es Anlass zur Hoffnung gibt, dass in sieben Jahren die Anfangsinvestition wieder hereinkommt. Weil mit keinen gravierenden Veränderungen zu rechnen ist.

Die geschichtliche Erfahrung zeigt, dass Staaten, die Rechts- und Handlungssicherheit garantieren, prosperieren. Kommt dazu noch ein gut ausgebautes Bildungssystem und eine belastbare, moderne Infrastruktur, hohe Subsidiarität und genügend Partizipationsmöglichkeiten in gesellschaftlichen Prozessen und Entscheidungen, dann ist dieser Staat ziemlich gut unterwegs. Noch ein Sprutz Innovationskraft, möglichst wenig natürliche Ressourcen (die stürzen das sie besitzende Land meistens ins Elend), und schon sprechen wir von der Schweiz.

Nun ist ein solcher Zustand allerdings nicht unumkehrbar. In der Geschichte gab es Reiche, die viel länger Bestand hatten als der moderne Kapitalismus, der sich in seiner vergleichsweise kurzen Existenz schon zweimal beinahe selbst in die Luft gesprengt hätte. Und ein beinahe tödliches Kräftemessen mit einer gesellschaftlichen Alternative überstand.

Ohne Antagonist kein Fortschritt

Auch hier gilt der alte Satz: Konkurrenz belebt das Geschäft. Dass nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen die sogenannten Sozialstaaten entstanden, wäre ohne die Konkurrenz durch die vermeintlichen Arbeiter- und Bauernparadiese nicht möglich gewesen.

Der Wegfall dieses Antagonisten hat bis heute verheerende Auswirkungen. Vom Ende der Geschichte wurde fantasiert, von der Unbesiegbarkeit des Kapitalismus. Bis die Finanzkrise 2008 das Vertrauen nachhaltig erschütterte. Bis allen klar wurde, dass wir vorher in einer bipolaren Welt lebten, inzwischen aber in einer multipolaren.

Was die Finanzkrise fürs Wirtschaftssystem war, ist die Pandemie für den geistigen Überbau. Ein Rückfall in längst überwunden geglaubte Verhaltensweisen. Debattierunfähigkeit, emotional gesteuerte Rechthaberei.

Schlimmer noch: statt vorhersehbarer und Sicherheit gebender Regierungspolitik wildes Rudern, hektisches Hyperventilieren. Welcher Geschäftsmann weiss heutzutage, welchen Rahmenbedingungen er morgen ausgesetzt ist?

Nicht nur Betreiber von Restaurants haben keine Ahnung, ob und wie sie die nächsten Wochen und Monate überleben werden. Das gilt für eine Vielzahl von Geschäftsmodellen. Bislang werden die gravierenden Auswirkungen mit Geld zugeschüttet. Aber Fiatgeld kann keine Wertschöpfung ersetzen. Wertschöpfung ist nur mit stabilen Sicherheiten möglich.

Also wäre es sinnvoll und dringend, mal über solche Fragen öffentlich nachzudenken. Doch dazu bräuchte es die entsprechenden Denker von Format. In den Mainstream-Medien finden sie nicht statt. Gibt es sie überhaupt noch?