Böse Staatsverweigerer!
Der neue Feind: Das sind die Staatsverweigerer. Inzwischen auch für die einst behördenkritische «Die Ostschweiz».
Von Stefan Millius
SRF, «20 Minuten», natürlich der «Blick», aber auch der «Beobachter» und Nischenportale wie zentralplus.ch und FM1today haben diese Gefahr für sich entdeckt und rapportieren fleissig darüber. Ihr Thema seit Wochen: Was sind das bloss für Leute, die ihre Steuern nicht mehr zahlen? Oder andere Rechnungen, deren Ertrag der Staatskasse zugedacht ist? Was fällt denen nur ein?
Seit der Coronazeit ist die Zahl derer, die nicht einfach pflichtschuldig abdrücken, wenn die Behörden gern Geld hätten, explodiert. Nun könnte man als von Natur aus neugieriger Journalist der Frage nachgehen, woran das liegt. Hat es vielleicht damit zu tun, dass der Staat es in den letzten Jahren mit den Grund- und Freiheitsrechten der Bevölkerung nicht so genau nahm? Dass er die Verfassung kurzerhand eingefroren hat? Dass er eine Rekordverschuldung anhäufte für «Schutzmassnahmen» und eine beispiellose Impfkampagne? Dass seine Repräsentanten rund um Corona immer mal wieder bei haltlosen Behauptungen bis hin zur blanken Lüge erwischt wurden?
Das könnte man alles fragen, aber darauf hat die angebliche vierte Macht wenig Lust. Man hat ja schliesslich auch Steuern zu bezahlen, wenn man mit dem Staat nicht ganz glücklich ist. Sogar dann, wenn die Landesregierung die demokratischen Spielregeln ausser Kraft setzt, sich das Parlament in verfrühte Ferien zurückzieht und der Bundesrat Volksabstimmungen dank – gelinde gesagt – reichlich kreativer Fragestellung gewinnt.
Wer das nicht tut, ist dann eben ein «Staatsverweigerer». Die Medien widmen diesen elenden Kerlen, die unseren armen Betreibungsämtern so viel Arbeit aufhalsen, lange Artikel. Dort geht es nicht etwa um die Beweggründe für die Verweigerung, sondern nur darum, wie sehr die staatlich besoldeten Leute darunter leiden. Da will man eine ruhige Kugel für überdurchschnittlich viel Geld mit absoluter Jobsicherheit schieben, und dann macht einer Ärger. Droht da allenfalls sogar eine Überstunde?
Unter den Leidenden ist beispielsweise Johannes Wagner, Leiter des Betreibungs- und Konkursamts Appenzell Innerrhoden. Unter uns gesagt: Der Kanton hat 16’000 Einwohner, der Mann und seine Funktion sind also gleichbedeutend mit dem Pendant einer Schweizer Kleinstadt. Aber jedenfalls ist er richtig sauer. Die Staatsverweigerer hängen ihm zum Hals raus. Es sei ihm – und das ist wörtlich zitiert – «Hans was Heiri», wenn jemand sich querstelle. Zahlen müsse er dennoch, basta.
Natürlich muss er das. Sonst bekäme der gute Herr Wagner ja irgendwann seinen Lohn nicht mehr. Er wird dafür besoldet, dass er Ausstände beim gemeinen Bürger eintreibt. Ihn muss es nicht interessieren, ob es dafür allenfalls gute Gründe gibt. Der Beamtenstatus in der Schweiz ist zwar abgeschafft, aber Wagner hat damit dennoch den Titel «Beamter des Jahres» verdient. Dem Staat treu bis in den Tod, und bitte einfach keine Fragen stellen.
Das alles wäre halb so wild und völlig normal, weil die meisten Medien längst so nahe zur Staatsgewalt gerückt sind, dass kein Blatt Papier mehr dazwischen Platz findet. Das Problem ist nur, dass Wagner und eine Reihe seiner Kollegen aus anderen Ostschweizer Kantonen im aktuellen Beispiel nicht etwa bei den üblichen Verdächtigen zu Wort kommen. Sondern in «Die Ostschweiz». Hier ist das gesammelte Gejammer und Gestammel der staatlichen Bürolisten nachzulesen.
Ich bin natürlich vorbelastet, weil ich «Die Ostschweiz» einst mitbegründet und mehrere Jahre als Chefredaktor geführt habe. Das mit der klaren Mission, nicht einfach mit den Wölfen zu heulen, sondern die entscheidenden Fragen zu stellen. Zu meiner Zeit galt das Motto: Ein Staat hat sich nicht über Staatsverweigerer zu empören, sondern darüber nachzudenken, warum es zu diesem Phänomen kommt und gegebenenfalls an sich selbst zu schrauben. Vor allem, wenn die Entwicklung zunimmt. Frei nach Shakespeare: «Es ist was faul im Staate Schweiz».
Mit diesem redaktionellen Kurs war die kleine Ostschweizer Onlinezeitung lange eine gefragte Adresse bei den Leuten, die eine einfache Formel verinnerlicht hatten. Der Staat? Das ist zunächst mal das Volk. Und wer dort arbeitet, ist dessen Angestellter. Und wenn die Repräsentanten dieses Staats durchdrehen, darf man ruhig darüber nachdenken, ihm die Mittel zu entziehen.
Das ist offensichtlich vorbei. Nun dürfen sich auch bei «Die Ostschweiz» Staatsangestellte über die Renitenz einiger Bürger ausweinen. Was publizistisch übrigens keinen Sinn macht, weil die Story schweizweit schon vor Wochen durch war. Aber das machen regionale Medien gern: Schauen, was andere gerade treiben und dann mal kurz die Betreffenden vor Ort telefonisch durchgehen. «Global – lokal» hiess das schon in meinen Anfängen vor über 30 Jahren. Das braucht wenig Zeit und schafft «Nähe zum Leser».
Nur hat sich die Medienlandschaft seither verändert. Wer jetzt aus der Masse hervorstechen will, muss klare Kante zeigen. Das hat «Die Ostschweiz» früher getan. Jetzt ist sie offensichtlich zum Sprachrohr von Regierung und Behörden geworden. Eines unter vielen. Der Bürger, der sich Gedanken macht, ist der Feind.
Was bei früheren Stammlesern zur Reaktion führen könnte: «Ist das eine Zeitung – oder kann das weg?»