Das NZZ-Desaster
Hoch lebe die Meinungsfreiheit. Aber muss das sein?
Gekonnt ist gekonnt. Kommentator Jörg Himmelreich setzt schon den allerersten Satz in den Sand: «Putins Invasion in die Ukraine im Februar 2022 stellt das grösste Desaster bundesdeutscher Aussenpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg dar.»
Der Mann lehrt an der «École Supérieure de Commerce de Paris». Hat aber offensichtlich von Geschichte nicht den Hauch einer Ahnung. Das vormalige Desaster deutscher Aussenpolitik im Zweiten Weltkrieg war die Invasion der Ukraine, wo die Nazis – fleissig unterstützt von ukrainischen Kollaborateuren um den heute noch verehrten Kriegsverbrecher und Judenhasser Stepan Bandera – wie die Barbaren wüteten. Bis die Rote Armee die Sowjetrepublik unter grossen Opfern – und gegen den erbitterten Widerstand auch von Nazi-Ukrainern – vom Joch des Faschismus befreite.
Das zum Thema Desaster. Dann zum Thema Deutschland – Russland: «Die Missdeutung der Herrschaftskultur Russlands und seiner Politik folgt jahrhundertealten tiefen Spuren in der deutschen Geschichte und Kultur über alle Kriege hinweg.»
Dann holt Himmelreich weit in die Geschichte bis zu Iwan dem Schrecklichen (1530 – 1584) aus, um mit gewählteren Worten zu sagen, dass der Iwan, der slawische Mensch als solcher, der Russe halt (und blöd auch, dass das Wort vom bolschewistischen Untermenschen ein Geschmäckle hat) halt modernen Errungenschaften wie Demokratie, Eigentumsgarantie oder Trennung von Kirche und Staat nicht mächtig sei. Dabei waren zum Beispiel Kirche und Staat fast im ganzen letzten Jahrhundert strikt getrennt. Aber dass es von 1917 bis 1991 eine Sowjetunion gab, ignoriert der Wissenschaftler.
Das hindert ihn nicht daran, Ignoranz der deutschen Politik vorzuwerfen: «Auf der Verkennung dieser historischen Tatsachen beruhten die Kernirrtümer deutscher Russlandpolitik. Der historischen Herrschaftskultur sind die Begriffe von Demokratie, von Grund- und Menschenrechten fremd.» Das ist nun echt witzig, denn der deutschen Politik waren diese Grundbegriffe bis 1918 auch nicht geläufig, und dann gab es doch noch irgendwann so ein Drittes Reich, das nicht nur gegenüber den jüdischen Mitbürgern auf Menschenrechte geschissen hat.
Und ab 1949 war zumindest die Hälfte Deutschlands auch nicht wirklich mit Demokratie gesegnet.
Nach diesem Blindflug durch die Geschichte kommt Himmelreichs zur Gegenwart zurück: «Russland kehrt sich von Europa ab und besinnt sich zurück auf alte Pfade asiatischer Orientierungen – nach Karl Marx solche einer «asiatischen Despotie». So ist halt der Iwan. Wird bloss ein wenig vom Westen sanktioniert, sein Überfall auf die Ukraine wird zum Stellvertreterkrieg gemacht, in dem auch deutsche Panzer endlich wieder durch das Land rasseln dürfen und gegen russische Invasoren schiessen, und schon wendet der sich der asiatischen Despotie zu, wie schon Marx wusste.
Aber weiter im wilden Ritt wider Vernunft und Geschichte: «Gegenüber einer Macht, deren historische Staatsräson militärische Expansion ist, kann westliche Demokratie und Freiheit nicht mit Verträgen, temporären Waffenstillständen und einer alle russischen völkerrechtswidrigen Annexionen hinnehmenden Appeasement-Politik verteidigt werden.»
«Westliche Demokratie und Freiheit» hat in den letzten zwei Jahrhunderten dreimal Russland überfallen. Frankreichs Napoleon, Deutschlands Wilhelm Zwo und schliesslich noch Hitler. Währenddessen hat Russland in der geglichen Zeit (und auch zuvor) niemals den Westen angegriffen. Der Ostblock entstand als unausweichliche Folge des Zusammenbruchs des Hitlerfaschismus. Für die Befreiung Europas von dieser braunen Pest hat die Sowjetunion übrigens den höchsten Blutzoll aller Alliierten erlitten; über 25 Millionen Tote.
Bis hierher ist es nur hirnrissig, was Himmelreich dichtet. Dann wird’s aber richtig gefährlich: «Einer Herrschaftskultur, die sich alleine durch ihre rechtswidrige Machtausübung definiert, diplomatisch nachzugeben, ist tödlich.» Das heisst mit anderen Worten: besser schiessen statt reden.
Dann wärmt Himmelreich doch tatsächlich die alte Lüge in modernem Gewand auf, dass Hitlers Überfall auf die Sowjetunion in Wirklichkeit ein Präventivschlag war:
«Die deutsche Politik und weite Teile der deutschen Gesellschaft müssen endlich begreifen, dass Putin Deutschland schon längst den Krieg erklärt hat.»
Und wie damals gibt es natürlich moskauhörige Trottel: «Putins fünfte Kolonne bilden all die Ex- Stasi- und Ex-SED-Netzwerke, die nützlichen Idioten von AfD, der Linken und Teilen der SPD.»
Während die das Geschäft des Kremls verrichten, gehe es in Wirklichkeit darum: «Es bedarf endlich einer abgestimmten westlichen Politik, Russland vor allem wirtschaftlich zu besiegen und damit seine latente historische Gefahr für Europa nach dem Zusammenbruch der UdSSR 1991 endgültig zu neutralisieren.»
Wir lesen genau: besiegen, «vor allem» wirtschaftlich. Also auch militärisch. Aus diesem Vokabular ist auch der Begriff «neutralisieren» entlehnt.
Mit anderen Worten: Germans to the front, schliesslich kennt sich der deutsche Landser, bzw. sein moderner Nachfahr, der «Staatsbürger in Uniform», damit doch bestens aus. Hat ja immer prima geklappt.
In Wirklichkeit, das ist ein von angesehenen Historikern mehrfach beschriebene historische Konstante, herrschte immer dann Frieden in Europa, wenn es friedliche Beziehungen zwischen Deutschland und Russland gab. Das war schon so, als Deutschland noch gar nicht existierte und Preussen die Führungsmacht im deutschen Fleckenteppich von Kleinstaaten war.
Es lebe die Meinungsfreiheit und jeder darf sich öffentlich zum Deppen machen. Aber muss das in der NZZ sein?