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Der Bauchnabel-Journalismus

Die Welt und das Ich: Icherstattung.

Heute Morgen bin ich mal wieder vor dem Läuten des Weckers aufgewacht. Die Verdauung funktionierte zufriedenstellend, die Bartstoppeln waren etwas länger als sonst, da ich mich am Sonntag nicht rasiert habe. Ob ich Corona-positiv bin, weiss ich nicht, weil ich mich nicht getestet habe. Obwohl ich kürzlich bei Freunden zum Lunch war, bei denen der Gatte Omikron hat. Aber das beunruhigt mich nicht sonderlich.

Hallo, noch jemand da und nicht weggeschnarcht? Danke. Das war ein Ausflug in die Niederungen des modernen Spar- und Bauchnabeljournalismus. Corona-Kreische Marc Brupbacher twittert Intimes über seinen letzten Familienausflug ins Elsass, ist aber nicht in der Lage, eine journalistische Anfrage zu beantworten.

Nicht nur Nicole Althaus füllt regelmässig Gefässe mit der Betrachtung des eigenen Bauchnabels (und der Gebärmutter) ab. Überhaupt wächst einem weltpolitischen Ereignis nur dann berichtenswerte Bedeutung zu, wenn es am Empfinden des Journalisten gespiegelt werden kann. Der ist dann «beunruhigt», er «befürchtet», «warnt», «fordert».

Ein Journi fällt im Fitness vom Laufband? Tritt auf der Strasse in Hundekot? Hat sich den Magen verdorben? Eine Story, ein «Erlebnisbericht». Immer mehr Journalisten meinen: was mich selbst beschäftigt, ist doch auch für die Leser rasend interessant. Meine Meinung zur Wahl Lulas in Brasilien ist doch viel wichtiger als das Ereignis selbst. Meine Gefühle gegenüber Putin sind doch von weltgeschichtlicher Bedeutung. Meine Entscheidung, ob ich mich so oft boostern lasse, bis ich durchlöchert wie ein Stecknadelkissen bin, ist nicht nur berichtenswert, sondern sollte als Vorbild für alle dienen.

So degeneriert Berichterstattung immer mehr zur Icherstattung. Mangelnde Fähigkeit zur Beschreibung, Einordnung und Analyse wird durch ungehemmtes Ego ersetzt. Statt Berichte über das, was in Nah und Fern so passiert, heisst das Thema «ich und die Welt, die Welt durch mich». Als hätten die Journis sich der philosophischen Denkrichtung verschrieben, die davon ausgeht, dass die Welt nur durch das Individuum existiert, der Raum, den es gerade verlassen hat, keine Existenzberechtigung mehr hat und verschwindet.

Dazu sind sie zu ungebildet. Aber das Prinzip wenden sie mit schlafwandlerischer Sicherheit an. Geradezu teuflische Ergebnisse hat diese Ichperspektive in der «Weltwoche». Wen sie hochlobt oder hochhält, verliert garantiert. Das war bei Donald Trump so. Das ist bei Liz Truss oder bei Jair Bolsonaro so. Sie ernennt den neuen britischen Premier Rishi Sunak zum «Supertalent», nachdem doch noch vor Kurzem Truss «die richtige Frau am richtigen Ort» war. Nun muss man sich um die politische Zukunft von Sunak echt Sorgen machen. Und Roger Köppel himself erklärt Heinz Tännler zu seinem «Bundesratsfavoriten». Der Arme, damit hat er – Fluch der WeWo – keine Chance mehr.

Wahlprogramme, vergangene Erfolge oder Misserfolge, Persönlichkeitsstruktur, Umfeld, Analyse der Situation? Pustekuchen, es geht um «ich und Putin», «ich und die Bundesratswahlen», «ich und Corona».

Es ist ausserdem ein sehr narzisstisches Ich, also schnell eingeschnappt, beleidigt, wenn es feststellen muss, dass nicht alle in der Welt seiner Meinung sind. Was sehr bedauerlich ist, denn sonst wäre die Welt ein viel besserer Ort. Da das Ich ja Lösungen für eigentlich alles zur Hand hat, vom Kater nach dem zuvielten Glas bis zum Weltfrieden: nur das Ich fragen.

Wer das nicht tut, wird entweder zum Leugner oder zum Versteher. Immerhin nicht zum verstehenden Leugner oder zum leugnenden Versteher. Aber zum Klima- oder Corona-Leugner, bzw. zum Putin- oder China-Versteher. Beides ist schlecht und falsch. Das muss auch nicht weiter begründet werden; verwendet das narzisstische Ich diese beiden Bannbegriffe, dann hat der Betroffene eigentlich nur noch die Möglichkeit, sich zu schämen und zu verstummen.

Im angelsächsischen Journalismus, immer noch die Benchmark, die für alles Deutsche in unerreichbare Ferne abschwirrt, ist es eine Selbstverständlichkeit bis heute, dass in der Berichterstattung über ein Ereignis ein Wort garantiert nicht vorkommt: I. Im Kommentar ist’s erlaubt, bei der Nachricht selbstverständlich nicht.

Sicherlich ist es schwieriger geworden, angesichts des krachenden Versagens der Verlagsmanager und der ungebrochenen Geldgier der Besitzerclans der Schweizer Medienkonzerne, anständigen, qualitativ hochstehenden und geldwerten Journalismus zu betreiben.

Wer aber statt Mehrwert und ausgewogene Orientierung bietenden Informationsjournalismus saure Milch, verschwitzte Socken, Mundgeruch, flackernde Blicke und Notizen rund um den Bauchnabel sowie Maulaffen und vorgefasste Meinungen feilhält, muss sich wirklich nicht wundern, dass sich immer mehr zahlende Leser mit Grausen abwenden.

Was all diesen Egobolzen fehlt, könnte man in ihrem Jargon so bezeichnen: sie sind keine Leserversteher.