Lerne zu klagen, ohne zu leiden. Das Motto so vieler Gruppen, Bewegungen heutzutage.
Die weiblichen, ausschliesslich die weiblichen Mitarbeiter von Tamedia sind Opfer unerträglicher Arbeitsbedingungen. Sie werden diskriminiert, schikaniert, negiert, demotiviert.
Aber das lassen sie sich nicht länger bieten, nehmen es nicht mehr hin. Weil es nicht zum Aushalten ist. Also schreiben und unterschreiben sie zuhauf einen Protestbrief zuhanden der Geschäftsführung von Tamedia. Irgendeine Unterzeichnerin hält es zudem für eine gute Idee, ihn Jolanda Spiess-Hegglin zuzuhalten, die in ihrem ambivalenten Verhältnis zur Wahrheit flugs behauptet, sie habe das Schreiben im Fall in «Absprache» mit den Unterzeichnern ins Netz gestellt.
Seither sagt sie nichts mehr dazu. Seither beantworten die Unterzeichner keine einzige Anfrage von mir. Sondern schweigen ebenfalls finster. Das ist alles Schnee von vor zwei Monaten. Das Protestschreiben ist Plusquamperfekt, vergilbt.
Wir stellen ein Ultimatum
Allerdings: Wie es sich für einen Klagenkatalog mit anonymen Beispielen gehört, enthält er auch Forderungen. Wie es sich für Forderungen gehört: Mit Deadline. Am 5. März mit genügend Spielraum gesetzt: der 1. Mai.
Bis dahin wird erwartet, muss erfolgen, ist es dringend nötig, Blabla. Sonst? Sonst wird gestreikt? Dienst nach Vorschrift? Die Damentoilette verstopft? Die Damen- und die Herrentoilette verstopft? Das schöne Glashaus besprayt? Rutishauser mit Tampons, Supino mit gebrauchten Tampons beworfen?

Schmerzen nur im Hirn.
Aber nein. Es geschieht – einfach nichts. Niemand kümmert sich mehr um diese Datum. Weder die Unterzeichner noch die Kollegen der übrigen Medien. Angeblich sollte es unerträgliche Zustände zumindest abmildern. Nun bleiben die Zustände unerträglich – und unverändert.
Weil das ein Phantom-Schmerz ist, nicht mehr, nicht weniger.
Gestohlenes Leiden für mehr Lebenssinn
Ein unversehrter Mensch hält sich plötzlich für einen Beinamputierten. Und beklagt Schmerzen im fehlenden Bein. Aber er tut das nur stellvertretend. Weil er sich ein Leiden leihen möchte. Es auf sich übertragen. Weil sein Leben sonst so langweilig und leer wäre.
Der Treiber für solche Phantom-Schmerzen, für geliehenes, gestohlenes, angeeignetes Leiden sind die Krachverstärker, die versumpfenden Kammern des Wahnsinns und des Echos, der Selbstverstärkung, die sogenannten sozialen Plattformen. Hier hetzt die Meute von einem Leiden zum nächsten.

Hinauf oder hinunter?
Sie leidet am Mohrenkopf. Sie leidet an angeblich diskriminierenden Bezeichnungen an uralten Häusern in der Zürcher Altstadt. Sie leidet an Denkmälern, die angeblich Sklavenhändlern und Rassisten huldigen. Sie leidet am Klima. Auch an der Rassendiskriminierung. Nicht nur in der Schweiz, vor allem in den USA. Gibt es einen lächerlicheren Anblick, als wenn weisse Bürgerkids mit schuldgebeugtem Rücken und niedergeschlagenem Blick in der Schweiz niederknien und «Black lives matter» grölen?
Kämpfe und Schlachten im Nirgendwo
Gibt es etwas Kindischeres, als wenn Journalisten, die wahrlich anderes zu tun hätten, einen verbissenen Kampf um das korrekte Setzen eines Sternchens führen? Weil sie damit, selbst in privilegierter Position und grossflächige Multiplikatoren benützend, ein Zeichen setzen wollen für die Unterdrückten, Diskriminierten, Beleidigten, Erniedrigten?
Weil auch hier fremdes Leid, vermutetes Leid angeeignet, gestohlen wird, um das eigene banale Leben wenigstens mit etwas Grösserem aufzupumpen. Mit der Imitation von Schmerzen, mit Phantom-Schmerzen, ohne dass vorher etwas abhanden kam.
Es gibt etwas noch Kindischeres. Wenn man Journalisten dabei zuschauen muss, wie sie ihren eigenen Bauchnabel betrachten. Ihn betasten, drücken. In der perversen Hoffnung, noch ein neues, individuelles, nicht schon beklagtes Leiden zu evozieren. Denn allzu viele sind schon besetzt. Erobert, werden mit Nachdruck verteidigt. Wer schon unter Rassismus leidet, obwohl ihm noch nie etwas Rassistisches widerfuhr, will dieses Leiden nicht einfach teilen.
Tut was weh?
Wer unter Sexismus und männlicher Unterdrückung leidet, will das lautstark und gemeinsam tun. Selbst wenn Frauen wie Claudia Blumer ein entsprechendes Protestschreiben unterzeichnen, obwohl sie einräumt, selbst noch nie mit den dort beklagten Verhaltensweisen konfrontiert worden zu sein. Aber keiner, keine zu klein, Leidender zu sein.
Falls man ums Verrecken kein individuell zugeschnittenes Leiden findet, sozusagen ein massgeschneidertes, dann leidet man halt an der Welt. Dazu gehört dann vor allem ein grimmig-melancholischer Gesichtsausdruck. Lukas Bärfuss hat hier Bahnbrechendes geleistet. Es gibt ihn nur in ernst, in besorgt, in beunruhigt. In wütend. Vor allem mit diesem Gesichtsausdruck hat er sogar den Büchner-Preis erobert. Denn an seinen schriftlichen Werken kann das nicht gelegen sein.
Hinter all dem Abgründe von Heuchelei
Hinter all diesen Leidensmienen, hinter diesen Klagegesängen über Phantom-Schmerzen steckt aber noch etwas anderes. Noch mieseres, als sich mit fremdem Leiden zu schmücken. Dahinter steckt eine abgrundtiefe Heuchelei, eine Verlogenheit, die übelkeitserregend ist.
Mit einem Tweet, einem Daumen hoch, einem «ich bin dabei»-Blödspruch Solidarität für, den Kampf gegen, ein «gemeinsam werden wir» wohlfeil zu «unterstützen», zu meinen, damit einen kleinen, aber doch bedeutenden Beitrag gegen das Unrecht auf dieser Welt geleistet zu haben, das ist verlogen.
Heuchlerisch ist, sich angeblich gegen das Unrecht, die Ausbeutung, das Leiden hier und vor allem in der Dritten Welt einzusetzen. Kinderhände, die in Färbebottichen verstümmelt werden, furchtbar. Kleine Gestalten mit alten Gesichtern, die mit blossen Händen wertvolle Erden aus auf ihre Grösse in den Boden gehauenen Gängen herausbrechen. Ständig in der Gefahr, verschüttet zu werden. Unerträglich.
Und dann erst China; diese Sklavenarbeiter dort. Diese Ausbeutung, das Fehlen von Rechten, Zuständige wie bei der industriellen Revolution. Das geht alles nicht, dagegen muss etwas unternommen werden. Her mit dem Hashtag, wo kann man ein Fanal setzen. Braucht’s auch ein Foto? Das Gleiche wie immer oder muss ein neues mit Pappkarton und anderem Spruch drauf gemacht werden?
Man könnte auch, aber wieso denn eigentlich?
Alles kein Problem, am besten mit dem neuen iPhone, Samsung, Huawei. Man könnte sich auch ein nachhaltig hergestelltes kaufen. Aber kennt jemand überhaupt eine solche Marke? Richtig, dann ist’s teurer und hat noch nicht 5 G, und die Kamera, vor allem im Dämmerlicht; also das geht gar nicht.
Vielleicht könnte man ja zertifizierte Lebensmittel oder Kosmetika oder Kleidung kaufen. Was immer die Labels auch wert sein mögen: die so bezeichneten Produkte werden meistens fairer hergestellt als die ohne Label. Das wäre doch was, dabei so einfach. Genau. Deshalb gibt jeder Schweizer pro Kopf und Jahr für nachhaltige Produkte – ziemlich genau 100 Franken aus. Es wäre noch weniger, wenn es beispielsweise bei Migros oder Coop bestimmte Früchte anders als mit Zertifizierung gäbe. Aber wer eine Banane kaufen will, muss das dort in Kauf nehmen, dass sie Max Havelaar kontrolliert ist.

Alles nur Kopf-Fehlgeburten.
Gibt es eine unangenehmere Mischung? Stehlen von Phantomschmerzen. Heuchelei, Verlogenheit. Ach, und tiefste Humorlosigkeit. Denn das Grauen der Welt kann nur ernst bekämpft werden. Zumindest, wenn man so tut, als ob.