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Das Ausnahmegenie Georg Büchner

Er hätte eine bessere Würdigung verdient.

Ueli Bernays hat schon einiges auf dem Kerbholz. Man liess ihm den unverschämten Titel «Der Künstler als Täter» in der NZZ durchgehen, als Anschuldigungen gegen den Rammstein-Sänger erhoben wurden. Unschuldsvermutung, die hier auch besonders Sinn gemacht hätte, weil sich später alle Denunziationen in Luft auflösten? Nicht mit Bernays. Eine nachträgliche Entschuldigung, Erklärung auf Anfrage? Nicht mit Bernays.

Fast genauso schlimm, wenn sich der Träger eines berühmten Namens an Bertolt Brechts «Leben des Galilei» vergreift. Und dabei seinen Kunstbegriff enthüllt, der an Banalität schwer zu überbieten ist: «Kunst bleibt Kunst, solange sie sich auf Andeutung beschränkt und sich gegen die Banalität des Realen abgrenzt.»

Vielleicht muss man Bernays Stück über Georg Büchner genau so lesen. Er eröffnet damit eine NZZ-Feuilletonreihe über Exil-Geschichten von Künstlern, die in die Schweiz geflohen sind. Eigentlich eine gute Idee, auch wenn man die Absicht – Ukraine-Flüchtlinge – spürt und leicht verstimmt ist. Aber das ist von Goethe, und der suchte in der Schweiz kein Asyl, weil er als Fürstenknecht, Pardon, Fürstendichter keine Verfolgung zu befürchten hatte.

Hier aber Büchner, das wohl grösste Genie der deutschen Literatur, des Theaters, der politischen Kampfschrift. Es ist eine unfassbare Tragödie, dass der Mensch bereits mit 23 Jahren in Zürich starb. Man kann mit Fug und Recht vermuten, dass er die wohl grösste Kathedrale deutscher Literatur hinterlassen hätte, wäre ihm nur etwas mehr Zeit auf Erden vergönnt gewesen.

Aber auch so hat Büchner eigentlich alle Felder bespielt. «Dantons Tod», eine aus ihrer Zeit bis heute hineinragende Abrechnung mit einer fanatisch werdenden Revolution. Erst von Hilary Mantels «Brüder» wieder erreicht, aber die brauchte über 1000 Seiten dafür. «Lenz», eine kongeniale Kurzgeschichte über den deutschen Dichter, der sich in den Wahnsinn flüchtete. «Woyzeck», ein dermassen abgründiges Fragment, dass man schon die Sprachgewalt von Heiner Müller braucht, um ihm einigermassen gerecht zu werden: «Ein vielmal vom Theater geschundener Text, der einem Dreiundzwanzigjährigen passiert ist, dem die Parzen bei der Geburt die Augenlider weggeschnitten haben, vom Fieber zersprengt bis in die Orthografie, eine Struktur, wie sie beim Bleigießen entstehen mag, wenn die Hand mit dem Löffel vor dem Blick in die Zukunft zittert, blockiert als schlafloser Engel den Eingang zum Paradies, in dem die Unschuld des Stückeschreibers zu Hause war.»

Aber Büchner konnte auch die vermeintlich leichte Muse, wie er mit dem bitterbösen Lustspiel «Leonce und Lena» bewies. Und dann sein «Hessischer Landbote», ein Vorläufer des Kommunistischen Manifests von Marx und Engels, mit dem ikonischen Einleitungssatz «Krieg den Palästen, Friede den Hütten». Das war Agitation pur, Aufforderung zum Aufruhr, in einer volksgerechten Sprache und mit einer geradezu biblischen Wucht. Verdienstvoll von Hans Magnus Enzensberger 1974 um Texte, Briefe, Prozessakten und einen klugen Kommentar erweitert, nochmals herausgegeben.

So gäbe es so vieles über die riesigen Grundsteine einer unvollendeten Kathedrale zu sagen, bei denen jeder einzelne Text das meiste, wenn nicht alles verzwergen lässt, was heutzutage als angebliche Literatur daherkommen will. Eigentlich müsste man Literatendarstellern wie Bärfuss oder Kim raten, mal einen Blick in das schmale Werk von Büchner zu werfen – um dann endlich zu verstummen.

Das möchte man auch Barneys anraten, der auch den emblematischen Kampfruf zitiert, um dann schlapp fortzufahren: «Dann ziehen die Autoren wortreich über die deutsche Aristokratie her.» Das ist dem Pamphlet etwa so angemessen, wie wenn einer in der Hölle sagen würde: etwas warm hier.

Statt zu versuchen, diese Berge wenigstens von unten ehrfürchtig zu bestaunen, verliert sich Bernays in Nebensächlichkeiten: «Der Rebell ist unterdessen zum skeptischen Realisten gereift. Die Angst vor Verfolgung hat seine Lust auf politische Agitation gedämpft.» Kein Wunder, wenn ein Mitbeteiligter am «Hessischen Landboten» in den Kerker geworfen wird, dort jahrelang gequält, um schliesslich unter ungeklärten Umständen zu sterben.

Lange Absätze verschwendet Bernays auch auf Loblieder auf das damals in Zürich regierende liberale Bürgertum, in dessen Tradition sich die NZZ selbstverständlich sieht. Es ist leider nicht überliefert, was die NZZ damals zu Büchner und seinem Landboten gesagt hätte; das erste Mal findet er 1875 Erwähnung, als die alte Tante berichtet, dass deutsche Studenten Georg Büchner «unter der deutschen Linde auf dem Zürichberg einen Denkstein zu errichten» beabsichtigen.

Aber immerhin, viel, viel später würdigt die NZZ den «Hessischen Landboten», so schreibt sie im Oktober 1913: «Trotzdem liess sich Büchner durch gewisse Tendenzen fesseln und in das Treiben mit einer Leidenschaft hineinziehen, die ihm nach Eduard Engels Prophezeiung bei längerem Leben die Rolle eines Vollführers von 1848 und damit das Ende eines Robert Blum, vor den Gewehrläufen der Soldaten eines Kriegsgerichtes, hätte eintragen müssen.»

Immerhin. Dagegen ist die gesamte «Würdigung» durch Bernays ein Schluck Wasser, rund 110 Jahre später. Aber vielleicht verhält es sich bei Büchners Kampfschriften wie mit Eugène Delacroix Monumentalgemälde «Die Freiheit führt das Volk an» von 1830. Bevor es zum kitschigen Zitat verkam, wurde es über 30 Jahre lang im Depot verstaut, so sehr fürchtete man seine revolutionäre Sprengkraft.

Und auch heute noch, richtig inszeniert oder gelesen, atmen Büchners Werke den revolutionären Geist des Aufruhrs und des Umsturzes, denunzieren sie die herrschenden Verhältnisse und die an ihnen schuldigen Herrschenden, rufen zu Unrast, Aufruhr und Umsturz auf.

Ausser, sie werden von einem Schmock wie Bernays nochmals zu Grabe getragen.