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Der moralische Kompass

Es gibt keine neue Antworten auf alte Fragen. Dennoch müssen sie immer wieder beantwortet werden.

Seit die Menschheit sich überlegt, was der Unterschied zwischen Gut und Böse ist, gibt es eine teuflisch einfache Frage: Darf das absolut Gute das absolut Böse tun, um das Gute zu befördern und das Böse zu bekämpfen?

Diese Frage wurde schon in unendlich vielen Dilemmata durchgespielt. Darf der Entführer gefoltert werden, damit er das Versteck des Entführten bekannt gibt, der zu ersticken droht? Darf der Terrorist dem Waterboarding ausgesetzt werden, damit er Zeitpunkt und Ziel eines Anschlags verrät? Darf der Geiselnehmer erschossen werden, auch wenn damit das Leben der Geisel gefährdet wird? Darf man lügen, um der Wahrheit willen?

In der Eiseskälte der reinen Vernunft Immanuel Kants gibt es darauf eine klare Antwort: «Es ist also ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Konvenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot; in allen Erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein.»

Eine Lüge beeinträchtige immer den Wert der Wahrhaftigkeit. Da kann es keine Nutzenabwägung geben, laut Kant:

«Die Pflicht zur Wahrhaftigkeit ist eine unbedingte Pflicht, weil das Vertrauen auf Versprechen einer der Grundsätze ist, die die menschliche Gesellschaft zusammenhält.»

Ausgangspunkt für diese Überlegungen war ein Aufsatz von Benjamin Constant, der zu einem gegenteiligen Schluss gekommen war. Sein Gedankenspiel: darf man gegenüber einem Mörder lügen, wenn der fragt, ob sich ein von ihm verfolgter Freund zu uns geflüchtet habe? Natürlich darf man das, sagt Constant, und er begründet es so: «Es ist eine Pflicht, die Wahrheit zu sagen. Der Begriff von Pflicht ist unzertrennbar von dem Begriff des Rechts. Eine Pflicht ist, was bei einem Wesen den Rechten eines anderen entspricht. Da, wo es keine Rechte gibt, gibt es keine Pflichten. Die Wahrheit zu sagen, ist also eine Pflicht; aber nur gegen denjenigen, welcher ein Recht auf die Wahrheit hat. Kein Mensch aber hat Recht auf eine Wahrheit, die anderen schadet.»

Demgegenüber argumentiert Kant: «Denn sie (die Lüge, Red.) schadet jederzeit einem anderen, wenn gleich nicht einem andern Menschen, doch der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht.»

Was hat diese Debatte, die um 1797 geführt wurde, also acht Jahre nach der Französischen Revolution, die in Europa erstmals grundlegende Fragen der Moral und Menschenrechte aufwarf, mit heute zu tun? Staubt es da nicht aus längst vergangener Geschichte, wurde das in der «Dialektik der Aufklärung» nicht längst widerlegt: «Die reine Vernunft wurde zur Unvernunft, zur fehler- und inhaltslosen Verfahrensweise»?

Oder anders gefragt: gibt es übergeordnete Prinzipien, deren Verletzung eine Beschädigung der Grundsätze darstellte, «die die menschliche Gesellschaft zusammenhalten»?

So abstrakt-absurd der Gedanke auf den ersten Blick erscheint, so bedenkenswert wird sein Inhalt, wenn man ihn an aktuellen Konflikten spiegelt. Natürlich ist die Ukraine, ist der Nahe Osten gemeint. Angesichts der russischen Verbrechen und der Verbrechen der Hamas, ist da das Gute nicht berechtigt, auch Böses zu tun?

Muss man da nicht einen Schritt weitergehen und das zutiefst korrupte, autokratische System von Selenskyj, das die Presse so wie Russland zensiert und keinerlei Opposition zulässt, nicht genauso unbedingt verteidigen wie den zutiefst korrupten israelischen Ministerpräsidenten Netanyahu, der mit einer Justizreform versuchte, den Rechtsstaat auszuhebeln, um selbst dem Gefängnis zu entgehen, kaum wäre seine Immunität aufgehoben?

Ist es nicht erbärmlich, wie viele sonst scharfe Denker und Analytiker zu unreflektierten Kriegsgurgeln und verbalen Blutsäufern werden, die mit der Beschreibung schrecklicher Verbrechen einer Kriegspartei die Kriegsverbrechen der anderen zu rechtfertigen versuchen?

Wenn es stimmt, dass die israelische Armee die Bewohner des Gazastreifens aufgefordert hat, den nördlichen Teil zu verlassen und in den vermeintlich sicheren Süden zu flüchten, um den dann zu bombardieren, gibt es da eine Relativierung zu den Massakern, die die Hamas verübte? Kann man sich da mit dem Gemeinen gemein machen, das Böse relativieren oder akzeptieren, dass es vom Guten verübt wird?

Die Ermordung von Bin Laden hat bei jedem vernünftigen Menschen Befriedigung ausgelöst, dennoch war sie völkerrechtlich eine illegale Handlung. Wurde damit das Gute befördert oder beschädigt? Erreicht Israel wirklich sein Ziel der vollständigen Liquidierung der Hamas – oder schafft es durch die Tausenden von Toten als Kollateralschäden nicht neue Heerscharen von todeswilligen, fundamentalistischen Wahnsinnigen? Ist es auch der Fluch der vermeintlich guten Tat, dass sie fortzeugend Böses gebiert?

Natürlich haben wir im Lehnstuhl in der wohlbeheizten Stube sitzend gut reden und schreiben. Umso lächerlicher wirken zunächst alle bis an die Zähne bewaffneten Kampfschreiber, deren Helm bis über die Augen heruntergezogen ist und sie blind für jede Reflexion macht. Sie wollen mit schrecklichen Verbrechen schreckliche Verbrechen legitimieren. Sie denunzieren jeden Aufruf zu Waffenstillstand als Unterstützung des Bösen, als Rechtfertigung böser Taten. Sie turnen mit Absolutismen durch Relatives und rechtfertigen, was nicht zu rechtfertigen ist, unter keiner Flagge.

Wie schnell geht hier mal wieder der moralische Kompass verloren. Der muss nicht so eiskalt-abstrakt funktionieren wie bei Kant. Aber etwas Reflexion sollte ausreichen, um zur ewig wiederkehrenden Antwort auf die ewige Frage zu gelangen: Nein, das Gute kann nicht grenzenlos böse werden, um das Gute zu bewahren. Es gibt eine feine rote Linie, deren Überschreiten dazu führt, dass es keinen Unterschied mehr zwischen dem Guten und dem Bösen gibt. Sondern nur noch eine Frage des Blickwinkels.

Da es (ausser für Gläubige) keine Letztbegründungen gibt, darf es auch keine unendlichen Relativierungen des Absoluten geben. Es gibt kein Gutes, das gut bleibt und nicht beschädigt werden kann durch böse Taten. Es muss immer ein Abwägen geben. Aber das ist unendlich schwierig; dummes Gepolter ist unendlich einfach.

Nicht nur, dass sich noch zur Reflexion fähige Menschen weder mit der Sache der Palästinenser noch derjenigen Israels gemein machen können. Von der Teilnahme an Demonstrationen ganz zu schweigen; da gerät man allzu schnell in schlechte Gesellschaft. Schlimmer noch: im wilden Hantieren mit Begrifflichkeiten wie Recht auf Selbstverteidigung, unschöne, aber nötige Begleiterscheinungen eines berechtigten Vernichtungskriegs, Kampf um, Sieg über, keine Verhandlungen, bis zuerst, Erpressung durch Geiseln, Inkaufnehmen von, mit all diesen Gedankentrümmerstücken verwirrter Geister, in all dem auch hier herrschenden Blasendenken, Echokammern, fanatischen Rechthabereien geht das Wichtigste verloren, gerät zumindest ausser Sicht.

Denn die Fragen, ob man um eines höheren Zwecks willen lügen darf, wann es übergesetzlichen Notstand gibt, was das Gute tun darf, um den Sieg des Bösen zu verhindern, ohne selber böse zu werden, diese Fragen sind zwar uralt, müssen aber immer wieder neu beantwortet werden. Das setzt aber voraus, dass man sich nicht im Nebel des Krieges verliert, den klaren Blick bewahrt und zunächst einmal zugibt: keiner, nicht einmal Kant, hat den Anspruch auf die einzig richtigen Antworten. Selbst der Papst hat den Anspruch auf Unfehlbarkeit aufgegeben. Im Gegensatz zu ach so vielen Kommentatoren.

Diese Erkenntnis, deren die meisten in der Hysterie des Gekreisches nicht mehr mächtig sind, wäre der einzig wahrhaft richtige Ausgangspunkt für eine sinnvolle Debatte. Bis wir den erreichen, was fraglich ist, gilt nur mal wieder Shakespeare:

And all our yesterdays have lighted fools
The way to dusty death. Out, out, brief candle.
Life’s but a walking shadow, a poor player
That struts and frets his hour upon the stage,
And then is heard no more. It is a tale
Told by an idiot, full of sound and fury,
Signifying nothing.

Hort von Freiheit und Demokratie

Seit der Ukraine scharen sich die Medien wieder hinter den USA.

Der Endkampf zwischen Gut und Böse ist mal wieder ausgerufen. Zum mittelalterlichen Vergleich fehlt nur noch die Endzeit und das drohende Jüngste Gericht.

Das Böse ist klar definiert: Russland. Da braucht es das Gute, so oberhalb der Ukraine. Das können dann nur die USA sein, logo.

Seit dem Zweiten Weltkrieg sind die USA unermüdlich daran, Frieden, Freiheit und Demokratie in die Welt zu bringen. Wenn nötig, allerdings auch mit Gewalt: