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Wer die Geschichte nicht kennt …

Ein ZACKBUM-Leser hat sich die Mühe gemacht, Geschichtsunterricht zu erteilen. Zwecks Erkenntnisgewinn …

Ich denke, wenn man die Gegenwart verstehen will, muss man die Vergangenheit kennen.
Für Israel bedeutet dies Rückblick bis Anfang des 20. Jahrhunderts.
Das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 ist ein Kriegsverbrechen und muss verurteilen werden. Aber so einfach darf man es sich nicht machen.
Michael Lüders schreibt in seinem neuen Buch: Krieg ohne Ende, Folgendes:
Hier einige Auszüge:
Die geostrategische Bedeutung Palästinas führte 1917 zur Erklärung des britischen Aussenministers Lord Arthur Balfour, sein Land werde die Gründung einer jüdischen “Heimstätte“ in Palästina befürworten. Diese Balfour-Erklärung, leitete die Staatsgründung von Israel ein.
Am 2. November 1917 schreibt Balfour seinem adeligen Kollegen, dem britischen Zionisten und Banker Lord Walter Rothschild, die Regierung seiner Majestät betrachte „mit Wohlwollen“ die Errichtung einer „Heimstätte“ für das jüdische Volk in Palästina. Er hob auch hervor: „Dürften die Rechte der einheimischen, nichtjüdischen Gemeinschaft nicht beeinträchtigt werden“.
Obwohl 90% der Bevölkerung Araber waren, wurde das Wort „Araber“ im Brieftext nicht erwähnt. Und die Araber wurden auch nicht gefragt.
Ungeachtet der britischen Besetzung 1914/18 gehörte Palästina formal noch zum Osmanischen Reich. London versprach also Land, das ihm nicht gehörte, einer politischen Bewegung, der zionistischen, die nach damaligen Massstäben keinerlei legale Ansprüche auf die angestrebte „Heimstätte“erheben konnte.
Am 11. August 1919 hielt Balfour in einem Memorandum für die Regierung seiner Majestät fest:“Was Palästina betrifft, so denken wir nicht daran, die Wünsche der gegenwärtigen Bewohner des Landes zu berücksichtigen… Die Vier Grossmächte (Grossbritannien, Frankreich, Italien und die USA) sind dem Zionismus verpflichtet. Und der Zionismus ist – zu Recht oder zu Unrecht, im Guten wie im Schlechten – in jahrhundertealten Traditionen verwurzelt, in gegenwärtigen Notwendigkeiten, in zukünftigen Hoffnungen. All das ist von ungleich grösserer Bedeutung als die Wünsche und Vorurteile von 700’000 Araber, welche jetzt dieses Land bewohnen“.
Im Februar 1939 gab es in London eine Round-Table-Konferenz, an der palästinensische, arabische und zionistische Vertreter teilnahmen. Unter dem Eindruck dieser Konferenz kam im Mai 1939 ein neues Weissbuch (McDonald White Paper) den Araber entgegen, versprach den Palästinensern innerhalb der nächsten zehn Jahre sogar die Unabhängigkeit. Doch die facts on the ground waren längst unumkehrbar, und die Zeit arbeitete für die jüdische Seite, nicht für die palästinensische.
David Ben-Gurion, weitsichtiger Stratege und Realist (und Propagandist), hat die Hintergründe des Aufstands in einer internen Diskussion unter Führungskadern 1938 sehr offen benannt: „Wenn wir im Ausland argumentieren und unseren Standpunkt vermitteln, reden wir den arabischen Widerstand uns gegenüber klein….. Doch in vertrauten Runden sollten wir uns der Wahrheit nicht verschliessen. Die Wahrheit ist, dass wir, politisch gesehen die Aggressoren sind, während sie sich verteidigen…. Es ist ihr Land, weil sie es bewohnen, während wir hierherkommen und uns hier niederlassen...“.
Die Revolte sei ein „ aktiver Widerstand der Palästinenser gegen das, was sie als widerrechtliche Aneignung ihrer Heimat durch die Juden verstehen …. Hinter dem Terrorismus steht eine Bewegung, der es, obgleich primitiv, nicht an Idealismus und Opferbereitschaft fehlt.“
Gewaltverbrechen, ähnlich demjenigen der Hamas im letzten Oktober, gab es schon früher, z.B. Das Massaker von Deir Yassin einem Vorort Jerusalems am 9. April 1948.
Das kleine Dorf mit seinen 600 Einwohnern wurde von 120 zionistischen Paramilitärs grundlos attackiert. 150 Frauen, Männer und Kinder wurden massakriert, bei einigen Leichen Köpfe oder Gliedmassen abgetrennt. Der Ort wurde geplündert, mehrere Frauen wurden vergewaltigt, einige Überlebende durch die Strassen Westjerusalems getrieben, wo ein jüdischer Mob sie anspuckte, ihnen die Kleider vom Leibe riss, sie mit Steinen bewarf und schliesslich umbrachte.
Das Massaker von Deir Yassin löste eine Massenflucht der Palästinenser aus – was auch beabsichtigt war. Die Verantwortlichen, offenkundig stolz auf ihre Tat, luden alle ausländischen Korrespondenten im Land ein, die geschändeten Leichen und die Zerstörungen im Dorf in Augenschein zu nehmen. Die treibende Kraft dieser Brutalität war die Organisation „ Irgun Zvai Leumi“ (Nationale Militärorganistion) kurz Irgun, eine revisionistische, rechtsradikale Gruppierung unter Führung von Menachem Begin, von 1977 bis 1983 Israels Premierminister.
Begin selbst hat am Massaker nicht teilgenommen, er hielt sich nach zahlreichen Terroranschläge auf die Briten versteckt. Am bekanntesten wurde die von ihm veranlasste Sprengung des King David Hotels in Jerusalem, damals der britische Verwaltungssitz in Palästina, am 22. Juli 1946 mit 91 Toten.
(Jassir Arafat hatte in Menachem Begin einen guten Lehrmeister, der ihm gezeigt, hat was man mit Terror und Bombenanschlägen alles erreichen kann.)
Die Kämpfer der Irgun wurden nach der Staatsgründung Teil der israelischen Armee, ohne jemals juristisch belangt zu werden. Aus dem politischen Flügel ging 1948 die „Cherut“ („Freiheits“-)Partei hervor, deren Logo ein siegreich erhobenes Gewehr über der Landkarte von Israel/Palästina und Jordanien zeigt, versehen mit dem Spruch: „Beide Ufer des Jordan – dieses gehört uns, das andere auch“.
Ein weiteres Massaker fand am 22. Mai 1948 in der Hafenstadt Tantura statt. Ich verzichte auf eine Beschreibung der Taten. Ein Vergleich mit dem Massaker der Hamas am 7.Oktober 2023 ist aber nicht abwegig.
Am 28. Februar 1955 griff eine israelische Kommandoeinheit das ägyptische Militärhauptquartier in Gaza an. Dabei trat ein damals noch unbekannter junger Offizier durch besondere Brutalität hervor: Ariel Scharon, später Ministerpräsident (2001 – 2006) und Ikone der Siedlerbewegung.
Während der Nakba wurden 531 Dörfer dem Erdboden gleich gemacht. Dabei wurden mehr als siebzig Massaker mit über 15’000 Toten an der palästinensischen Bevölkerung verübt.
Man könnte annehmen, dass sich die israelische Führung, die eine Rückkehr der Vertriebenen kategorisch ablehnt, wenigstens bereit erklärt, die Palästinenser für ihren Besitz zu entschädigen, gemäss der zweiten wesentliche Forderung der UN-Resolution 194. Doch weit gefehlt, es geschah genau das Gegenteil.
Alles Geld, das die 1.3 Millionen Araber des Mandatsgebietes Palästina in Banken oder Institutionen angelegt hatten, wurde unmittelbar nach der israelischen Staatsgründung noch im Mai 1948 eingezogen und konfisziert. Auch das Vermögen jener Palästinenser, die nicht vertrieben wurden.
Der Gesamtbetrag belief sich auf 100 Millionen britische Pfund, entsprechend etwa 4 Milliarden Euro. Gleichzeitig gingen alle Immobilien sowie der Grund und Boden der Vertriebenen in den Besitz des jüdischen Nationalfonds über, insgesamt 3.5 Millionen Dunam (ein Dunam entspricht 1000 Quadratmeter). Alles entschädigungslos enteignet, was mit Rechtsstaatlichkeit wenig, mit Landraub und Diebstahl dagegen sehr viel zu tun hat.
Hier ist darauf hinzuweisen, dass Israel keine Verfassung hat und somit über keine klaren Landesgrenzen verfügt.
Die israelisch – palästinensische NGO Adalah führt, Stand 2017, mehr als 65 israelische Gesetze an, die unmittelbar oder indirekt palästinensische Bürger Israels und/oder jene der besetzten Gebiete allein deswegen diskriminieren, weil sie keine Juden sind.
Im Juli 2018 verabschiedete das israelische Parlament das „Nationalitätengesetz“ ein jahrelanges Herzensanliegen der Ultrarechten. Es definiert Israel ausdrücklich als jüdischen Nationalstaat. Was zunächst als weisser Schimmel anmutet, bedeutet konkret, dass ausschliesslich die jüdischen Bürger Israels das Recht auf Selbstbestimmung haben, einschliesslich des ungehinderten Erwerbs von Grund und Boden, nicht aber die palästinischen – von der Bevölkerung in den besetzten Gebieten ganz zu schweigen. Damit ist der weiteren Entrechtung von Palästinensern mit israelischem Pass, die ein Fünftel der Staatsbürger stellen, Tür und Tor geöffnet.
Darüber hinaus erklärt das „Nationalitätengesetz“ Gesamtjerusalem unwiderruflich zur Hauptstadt Israels, schafft die Arabische Sprache als zweite Landessprache ab, bekennt sich zum verstärkten Siedlungsbau und dessen zusätzlichen Finanzierung. Mit dem Ziel, das Westjordanland grossflächig zu annektieren und der Gesetzgebung Israels zu unterwerfen, ohne jedoch den Palästinensern Wahlrecht oder die Staatsbürgerschaft zu gewähren.
Seit den 1990er Jahren sind israelische Regierungen damit befasst, Dokumente aus Staatsarchiven als geheim einzustufen, sie zu zensieren und folglich der Öffentlichkeit, namentlich kritischen Historikern, zu entziehen. So unterzeichnete Premier Netanjahu am 21. Januar 2019 eine Ergänzung zum „Archiv-Gesetz“, wodurch historisch relevante Quellen für weitere siebzig bis neunzig Jahre unter Verschluss gehalten werden. Das betrifft die Archive der Armee, des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, des Auslandsgeheimdienstes Mossad, der Kommission für Atomenergie, des Instituts für biologische Forschung und eine Vielzahl militärischer Einrichtungen. Dort geht es insbesondere um „Rohmaterial von geheimdienstlicher Bedeutung“.
Ein führender Spitzenbeamter des Verteidigungsministeriums bekannte freimütig, es gehe bei diesen Massnahmen darum, Historiker zu diskreditieren. Denn der Staat erhalte dadurch die Möglichkeit, bei umstrittenen Themen zu behaupten, der Historiker hätte Dokumente gefälscht.“
Nicht ohne Grund untersteht das israelische Nationalarchiv dem Büro des Ministerpräsidenten. Dessen Chefarchivar Yaacov Lozowick erklärte im Januar 2018, dass die Frage, welche Dokumente zur Einsicht freigegeben werden, auch eine politische sei.
Es gehe darum,“Teile der historischen Wahrheit zu verbergen, um eine gefälligeres Narrativ zu erhalten“. Vor allem dann, wenn die entsprechenden „Materialien… als israelische Kriegsverbrechen gedeutet werden können“.
Aus demselben Literaturhinweis durch Deepl übersetzt (HS):
Klar ist jedoch, dass diese Historiker offizielle Dokumente ausgegraben haben, die die israelische Schuld an der Vertreibung der Palästinenser, der Blockade der Rückkehr der Geflüchteten und der Begehung einer Reihe von Kriegsverbrechen bestätigen. In einem bahnbrechenden Dokument vom Juni 1948 – das von Benny Morris ausfindig gemacht und danach aus der Öffentlichkeit entfernt wurde – listete ein Geheimdienstoffizier viele der entvölkerten palästinensischen Dörfer aus der ersten Phase des Krieges von 1948 auf und erklärte für jedes Dorf praktisch, mit welchen Mitteln es entwurzelt wurde. Zu den Faktoren, die für den palästinensischen Exodus genannt wurden, gehörten «direkte feindliche jüdische Operationen», «jüdische Flüsteroperationen» (d.h. psychologische Kriegsführung), «ultimative Vertreibungsbefehle», «Angst vor jüdischer [Vergeltungs-] Reaktion» und andere. Obwohl palästinensische und arabische Gelehrte jahrzehntelang so argumentiert hatten (meist auf mündliche Überlieferungen), waren ihre Behauptungen in der westlichen Forschung oft an den Rand gedrängt worden. Diese Leugnung war nach der Veröffentlichung der Arbeit der Neuen Historiker nicht mehr möglich.
Man könnte nun weiterhin gegenseitig durchgeführte Massaker aufzählen, was wie ich finde keine Lösung des Problems ist, zeigt aber das der Terror ebenso von israelischer Seite ausgeht (vielleicht sogar begann?), sowohl physisch wie auch psychisch.
Die weit höheren Opferzahlen der palästinensischen Bevölkerung sprechen eine Sprache für sich.
Über den Libanon berichtet Karin Leukefeld aus den Nachdenkseiten wie folgt:
Seit dem 7. Oktober 2023 wird entlang der „Blauen Linie“ geschossen. Die libanesische Hisbollah bombardiert militärische Ziele und Überwachungsanlagen der israelischen Streitkräfte (IDF), die mit Drohnen, Kampfjets, Artillerie bis weit in den Libanon hinein bombardieren. Der Krieg begann mit dem Krieg gegen Gaza. Nach Angaben der Hisbollah werden die Angriffe gestoppt, sobald es in Gaza einen Waffenstillstand gibt.
In der Zeit vom 7. Oktober 2023 bis 21. Juni 2024 haben sich entlang der „Blauen Linie“ mindestens 7.400 Angriffe ereignet. Das ergibt eine Dokumentation des Armed Conflict Location and Event Data Project (ACLED), das entsprechendes Kartenmaterial veröffentlichte. 83 Prozent dieser Angriffe wurden demnach von Israel verübt, insgesamt 6.142. Dabei wurden mindestens 543 Personen im Libanon getötet. Hisbollah und andere bewaffnete Gruppen seien demnach für 1.258 Angriffe verantwortlich, heißt es in dem Bericht. Dabei seien mindestens 21 Israelis getötet worden.
Nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) wurden auf libanesischer Seite mindestens 340.000 Tiere getötet, 47.000 Olivenbäume und 790 Hektar Agrarland zerstört, und zwar „während der Erntezeit“. Die Folge sei, dass die libanesischen Bauern mehr als 70 Prozent ihrer Ernte (2023/24) verloren und das Angebot von Nahrungsmitteln für die Bevölkerung sich verringert habe, heißt es in dem FAO-Bericht. In großem Umfang feuern die israelischen Streitkräfte weißen Phosphor auf libanesische Wälder und Agrarland. Ernten, Boden und Grundwasser werden verseucht, das Gift bedroht Menschen und Vieh gleichermaßen. Israel zerstöre absichtlich die Lebensgrundlagen der Bevölkerung, sind Gesprächspartner im Libanon sich sicher. Niemand soll jemals wieder in das fruchtbare, wasserreiche Gebiet zurückkehren, das Israel seit seiner Gründung 1948 besitzen will. Tausende Familien haben ihre Lebensgrundlagen verloren.
Wenn man verstehen will, was irgendwo auf der Welt geschieht, muss man wissen, was in der Vergangenheit geschehen ist, daraus könnte oder noch besser sollte man etwas lernen.
Vermutlich hat António Guterres an diese geschichtsträchtigen Vorkommnisse gedacht, als er darauf hinwies: das Massaker kam nicht aus dem Nichts (oder so ähnlich).

Michael Lüders; Krieg ohne Ende, warum wir für Frieden im Nahen Osten unsere Haltung zu Israel ändern müssen.
Goldmann Verlag ISBN 978-3-442-31776-9

Revolution, leicht verständlich

Bildungsauftrag: ZACKBUMs Buchtipps für den Sommer.

Eigentlich hat das Buch einige Eigenschaften, die abschrecken könnten. Es ist ein Wälzer mit 668 Seiten. Es ist von einem Bestsellerautor geschrieben, der Schinken am Laufmeter abliefert. Über Stalingrad, den Spanischen Bürgerkrieg oder die Ardennen-Offensive.

Jetzt hat sich Sir Antony Beever Russland vorgenommen: «Revolution und Bürgerkrieg 1917 bis 1921». Nun gibt es zu Stalingrad bereits das gewaltige Werk «Leben und Schicksal» von Wassili Grossmann. Die moderne Version von «Krieg und Frieden» ist nur etwas für Leser mit starken Nerven.

Und über die Oktoberrevolution und die nachfolgenden Wirren des Bürgerkriegs gibt es schon ein Meer von Büchern, angefangen bei Leo Trotzkis «Geschichte der Russischen Revolution», geschrieben im Exil, und eine Bibliothek von Werken auf der Parteilinie der KPdSU, darunter so Gewaltswerke wie John Reeds «10 Tage, die die Welt erschütterten». Kongenial verfilmt von und mit Warren Beatty in «Reds»

Es gibt bewundernde, kritische, parteiliche, abschätzige, ideologische und einäugige Bücher über die Russische Revolution. Und es gibt George Orwells «Farm der Tiere», die wohl bitterste Abrechnung damit.

Daher zeugt es von Mut, ein weiteres Buch über Revolution und Bürgerkrieg vorzulegen. Aber es ist unbedingt empfehlenswert. Es braucht wohl den kühlen englischen Blick auf die Geschichte, um den Leser an der Hand zu nehmen und durch eine unendliche Anzahl von handelnden Personen, Einzelereignissen, durch all die Zufälligkeiten zu führen, die die Oktoberrevolution und die Machtergreifung der Bolschewiken unter Lenin möglich machten.

Beever gelingt dabei gleich ein doppeltes Kunststück. Trotz der Materialfülle und dem Detailreichtum fühlt sich der Leser nie verloren oder überfordert. Aber noch wichtiger: man hat den Eindruck, dass es wohl genau so gewesen sein könnte.

Denn Geschichte ist bekanntlich nicht die möglichst objektive Beschreibung von vergangenen Ereignissen. Geschichte ist immer ein Steinbruch, aus dem Historiker die passenden Geröllbrocken heraussuchen und nach ihrem Gusto behauen. Ehrlichere geben wenigstens ihren ideologischen Standpunkt bekannt, unehrliche behaupten, dass es so gewesen sei, wie sie es darstellen.

Man möchte nicht wissen, was der «Russland-Experte» und ehemalige NZZ-Journalist Ulrich Schmid zur Russischen Revolution heute sagen würde, nachdem er sich mit einem untauglichen Vergleich zwischen Afghanistan und der Ukraine unglaubwürdig gemacht und disqualifiziert hat.

Denn natürlich ist die Oktoberrevolution für die siegreichen Ideologen des Westens eine historische Katastrophe, ein schreckliches Ereignis, das nahtlos in die Schrecken des Stalinismus überging, viele Millionen Tote forderte und viel zu spät 1990 sein Ende fand.

Für andere ist es der erste hoffnungsvolle Versuch, die Theorien von Marx und Engels in die Praxis umzusetzen, der nur teilweise an den eigenen Widersprüchen, vor allem aber durch den Versuch der imperialistischen Staaten scheiterte, die Ausbreitung der Revolution zu verhindern und die erste proletarische Revolution in ihrem eigenen Blut zu ersticken.

Sie erinnern daran, dass die Sowjetunion mit Abstand den höchsten Blutzoll im Zweiten Weltkrieg entrichtete, Opfer eines Vernichtungsfeldzugs wurde, in dem die deutschen Horden unvorstellbare Gräueltaten in den eroberten Gebieten begingen. In den Plänen für Grossgermanien war für die bolschewistisch-slavischen Untermenschen kein Platz mehr, sie sollten noch als Zwangsarbeiter nützlich eingesetzt und dann ausgelöscht werden.

Das alles nahm in den Monaten zwischen Februar und Oktober (nach dem russischen Kalender) 1917 seinen Anfang. Unvorstellbar, wie ein kleines Grüppchen von Berufsrevolutionären, das knapp einen Zug füllte, der sie vom Schweizer Exil durch Deutschland hindurch nach Russland brachte, als Sieger aus den Wirren des Ersten Weltkriegs hervorging.

Genauso unvorstellbar, dass sich die Rote Armee gegen die Weissen, gegen alle Interventionsheere der westlichen imperialistischen Staaten am Schluss durchsetzte. In einem Bürgerkrieg, der von beiden Seiten mit unvorstellbarer Brutalität geführt wurde und in dem keine Gefangene gemacht wurden.

Adlige und Offiziere wurden auf Bajonette aufgespiesst, um Munition zu sparen, Rotgardisten wie auch Kadetten wurde nach einer Kapitulation freier Abzug versprochen – um sie dann zu massakrieren.

Präsident Putin beruft sich in seinen Reden immer wieder auf die Tradition der Oktoberrevolution und sieht im Zusammenbruch der UdSSR die grösste Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Man muss diese Ansicht nicht teilen. Aber wer die Vergangenheit nicht kennt, versteht die Gegenwart nicht. Wer beispielsweise den Zarismus verklärt, wie das der grosse Gulag-Kritiker Alexander Solschenizyn tat, übersieht dessen Unfähigkeit in Kriegen und dessen völlige Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der russischen Bauern, die mittelalterlich in unvorstellbarer Armut vor sich hin vegetierten.

Wer Hungersnöte und die stalinistischen Säuberungen als singuläre Verbrechen verurteilt, kennt die russische Vorgeschichte nicht. Wer bedingungslos die Ukraine unterstützt, kennt deren Geschichte vor und während der Sowjetunion nicht, kennt deren braun-befleckte Geschichte im Zweiten Weltkrieg nicht.

Aber ganz am Anfang der Ereignisse steht die leninsche Revolution, steht dieser Ausnahmekönner der Macht, der noch im Februar, ja noch im August 1917 schallend ausgelacht wurde, als er ankündigte, dass seine Bolschewiken bereit und in der Lage seien, die Macht in Russland zu übernehmen.

Die spätere Sowjetunion, das grösste Land der Erde, umfasste in den bittersten Zeiten nicht viel mehr als rund 200 Quadratkilometer um Moskau herum. Es brauchte den Machtwillen Lenins und das militärische Genie Trotzkis, um wenige Jahre später überall die rote Fahne flattern zu lassen, bis nach Wladiwostok und Anadir.

Wie war es wohl, wie kam es dazu? Beever lesen, und man meint, eine Ahnung zu haben. Die nötige Zeit dafür kann man leicht freimachen, indem man darauf verzichtet, die gesammelte Kriegsberichterstattung der Medien zu konsumieren.

Alleine, was hier beim 17-stündigen militärischen Furz eines an die Wand gedrängten Söldnerführers für Unsinn geschrieben wurde, disqualifiziert diese Berichterstattung restlos. Und wäre das nicht genug: die völlige Unfähigkeit, wenigstens das krachende Versagen einzuräumen («Militärputsch, Putin wankt, fällt Moskau, ist Putin bereits geflohen»), disqualifiziert all diese Kreml-Astrologen nochmals.

Also Beever lesen, um die Geschichte zu verstehen. Wer statt Dummschwätzerei einen satirisch-überhöhten, aber genauen Blick auf die Aktualität in Russland lesen möchte: Dmitry Glukhovsky: «Geschichten aus der Heimat». Nur jemand, der seine Heimat liebt, kann so gnadenlos die Realität ins Fantastische abdrehen, um sie genau einzufangen.

Antony Beevor: «Russland. Revolution und Bürgerkrieg 1917 – 1921». C. Bertelsmann Verlag, 2023.
Dmitry Glukhovsky: «Geschichten aus der Heimat». Heyne Verlag, 2022
Wassili Grossmann: «Leben und Schicksal». Ullstein Verlag, Neuauflage 2020

Osterweiterung der NATO

Ein militärischer Konflikt um die Ukraine ist denkbar. Wer kennt die Hintergründe?

Wir sind bis ins letzte Detail über die Spesenabrechnungen von Pierin Vincenz informiert. Wir sind einigermassen über die Schwierigkeiten der Credit Suisse informiert.

Die Debatte um die Aufhebung der Corona-Massnahmen; wann, welche, zu früh, zu spät, falsch, richtig, hängt uns allen zum Hals raus.

In 24 Stunden könnte man mit dem Auto die Strecke Bern – Kiew zurücklegen (2221 km). Die Ukraine ist flächenmässig der grösste Staat Europas. Auch nachdem das Territorium de facto um rund 27’000 km² abgenommen hat, seit sich Russland wieder die Krim einverleibte. Die 1954 von der Russischen Sowjetrepublik an den Bruderstaat übergeben worden war, die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik.

1991 erklärte sich die Ukraine während des Zerfalls der UdSSR für unabhängig. Erst 1996 wurde die Ukraine nach verschiedenen Sicherheitsabkommen atomwaffenfrei. Historisch Bewanderte erinnern sich noch an Orange Revolution, an Juschtschenko, Janukowytsch und Tymoschenko. Helden und Schurken, alle verglüht.

Seit einigen Wochen scheint Russland grössere Truppenverbände an der ukrainischen Grenze zu stationieren. Das wird von der Ukraine selbst, der NATO, den USA und diversen europäischen Staaten als bedrohlich empfunden. Die Ukraine ist aufgrund ihrer Grösse und Lage seit dem Zerfall der UdSSR ein Zankapfel zwischen der Russischen Föderation und dem Westen.

In welche Richtung sich orientieren, nach der Auflösung des Warschauer Pakts: Beitritt zur NATO oder nicht? In den turbulenten Zeiten der deutschen Wiedervereinigung, gefolgt vom Zusammenbruch der Sowjetunion, gab es lebhafte Diskussionen, ob eine Osterweiterung der NATO russische Sicherheitsinteressen tangieren könnte.

Gab es Zusicherungen gegen eine Osterweiterung der NATO?

Wurde damals dem sowjetischen Präsidenten Gorbatschow zugesichert, dass es keine Osterweiterung über das wiedervereinigte Deutschland hinaus geben würde? Oder bezogen sich solche Aussagen nur auf das Territorium der DDR, während der Warschauer Pakt noch existierte (er löste sich 1991 auf)?

Das westliche Militärbündnis NATO umfasst aktuell 30 Staaten. 1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn bei. 2004 folgten Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien, 2009 Albanien und Kroatien. Schliesslich kamen noch Montenegro und Nordmazedonien dazu.

Ausser den Staaten von Ex-Jugoslawien alles früher Mitglieder des östlichen Verteidigungspakts. Nun ist es nicht wirklich so, dass Russland oder die UdSSR einige Male Europa überfallen hätte. Umgekehrt war das schon so, herausragend Napoleon und Hitler.

Der russische Präsident spricht nun von einer Bedrohungslage und will westliche Zusicherungen, dass die Ukraine nicht in die NATO eintritt. Das ist eine Einmischung in innere Angelegenheiten des Staates, aber Grossmächte machen solche Sachen. Angesichts der Geschichte der letzten 200 Jahren ist sein Sicherheitsbedürfnis nicht ganz unverständlich.

Das ein kurzer historischer Abriss. Nun ist ZACKBUM kein Kompetenzzentrum für das Thema Ukraine. Aber: die uns zugänglichen Medien in der Schweiz, Deutschland und Österreich sind nicht in der Lage, die Komplexität dieses Konflikts den Lesern verständlich darzulegen.

Lieber Klischees als Analyse

Es wird lieber mit den üblichen Klischees des bösartigen, machtgierigen Diktators Putin gespielt. Er ist sicherlich kein lupenreiner Demokrat, wie ihn der deutsche Ex-Bundeskanzler Schröder mal bezeichnete. Aber es wäre doch die Aufgabe der ach so wichtigen Vierten Gewalt, hier Erklärung, Analyse, Einordnung zu liefern. Eine Auslegeordnung, aufgrund derer sich der Leser eine eigene Meinung bilden kann.

Sich zum Beispiel die Frage stellen dürfte, wieso es okay ist, wenn der US-Präsident Biden die Entsendung weiterer Truppen nach Polen und anderswo ankündigt. Russland aber aufgefordert wird, Truppen innerhalb des eigenen Territoriums zu verschieben. Der Leser könnte sich auch die Frage stellen, ob die harsche Kritik an der deutschen Weigerung berechtigt ist, der Ukraine Waffen zu liefern.

Holzschnittartige Schablonen haben den Vorteil, vermeintlich einfache Orientierungshilfe, Welterklärungsmodelle zu liefern. Nur haben die den kleinen Nachteil, eher wenig mit der realen Welt zu tun zu haben.

Zu erklären, dass Donald Trump ein gefährlicher Irrer als Präsident war, das war entschieden einfacher als zu erklären, wieso er denn dann gewählt wurde. Zu erklären, dass Putin ein gefährlicher Irrer ist, das ist entschieden einfacher als zu erklären, was denn seine Motive sind.

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