Ich, ich, ich
«Ich empfinde das so.» Der unheilvollste Satz der Gegenwart.
Geschlechtszugehörigkeit, verbale Übergriffigkeit, Mobbing, Diskriminierung. In den guten alten Zeiten mussten solche Fragen oder Behauptungen belegt, begründet werden.
Unwohlsein, Verletzung, Vernachlässigung, Ausgrenzung, fremde Dominanz, meist männlich, unbedingte Rücksichtnahme, Passeintrag. In den guten alten Zeiten mussten solche Behauptungen oder Forderungen belegt, begründet werden.
Gendergerechte, inklusive, geschlechtsneutrale, männliche Artikel vermeidende, mit Sternchen und Binnen-I bestückte Sprache. In den guten alten Zeiten mussten solche Forderungen begründet werden – worauf sie als Sprachvergewaltigung zurückgewiesen wurden.
Imperiale Schuld, Schuld an Sklaverei, Schuld am Elend der Dritten Welt, Schuld an Unterdrückung, Schuld an Ausbeutung, Schuld an Kinderarbeit, Schuld an Umweltzerstörung, Schuld am Klimawandel. In den guten alten Zeiten mussten solche Schuldzuweisungen begründet werden. Heutzutage reicht die Zugehörigkeit zur Klasse der Cis-Männer.
In den guten alten Zeiten wurde die Geschlechtszugehörigkeit, weiblich oder männlich, anhand klarer, naturwissenschaftlicher Kriterien festgelegt – und akzeptiert. Seit das infrage gestellt wird, spricht man von einer Geschlechtsidentität, die keinesfalls dem biologischen Geschlecht entsprechen müsse.
In den Zeiten der Hochromantik war es üblich, dass nicht nur Weiblein, sondern auch Männlein gerne und spontan in Tränen ausbrachen, wenn sie sich durch ein harsches oder auch nur unziemliches oder unsensibles Wort verletzt fühlten. Innerlichkeit, Introspektion, Selbsterfahrung, der Sieg des Subjektiven über die Wirklichkeit.
Die Verhältnisse, die Zustände, die Realität, die Interaktion, das alles gehorcht nicht mehr objektivierbaren, wissenschaftlich beschreibbaren Kriterien. Entscheidend ist nicht mehr, dass ein Stein nach unten fällt, wenn man ihn loslässt, weil es eine Gravitationskraft gibt. Entscheidend ist, wie das vom Subjekt empfunden wird.
Früher musste jemand, der eine Behauptung aufstellte, beispielsweise über die Erfahrung einer Diskriminierung, diese Behauptung begründen – und allenfalls damit leben, dass sie zurückgewiesen wurde.
Heute kann ein sich selbst als Betroffener Outende auf jegliche Argumente verzichten und sagen: Ich empfinde das so. Jemand wird am Arbeitsplatz wegen einer Fehlleistung zurechtgewiesen. Heute kann er (oder noch besser sie) Diskriminierung, verletzende Herabwürdigung krähen. Um Begründung gebeten, reicht der Satz «Ich empfinde das so».
Damit entzieht sich das Empfinden jeglicher Kontrolle, jeglicher Objektivierung, jeglichem Zwang, argumentativ und nachvollziehbar begründet zu werden. Wer könnte schon wagen, einer subjektiven Empfindung zu widersprechen? Welch arroganter Übergriff; wer kann denn behaupten, er wisse, wie es in einem anderen aussieht?
Im Ich bin ich mein eigener Herr, lebe ich in einer uneinnehmbaren Festung der Ichbezogenheit, kann mir keiner reinreden.
Gesteigert wird diese Neuauflage des uralten Subjektivismus noch durch einen zweiten fatalen Satz: Ich fühle mich dabei unwohl. Wenn ein Mohrenkopf seit Jahrhunderten an einer Hausfassade prangt. Wenn ein weisser Musiker Rasta trägt. Wenn der Sinn des Gendersterns bezweifelt wird. Anwendbar auf schlichtweg alles.
Auch hier gilt: wer kann schon einem anderen dessen Unwohlsein bestreiten? So rum ist eigentlich nichts erlaubt. Aber der Sich-unwohl-Fühlende hat seinerseits das Recht, für die Beseitigung seines Unwohlseins Opfer und Nachgiebigkeit von anderen zu fordern. Der Mohrenkopf muss weg, zummindest abgedeckt werden, zuallermindest «kontextualisiert». Die Rastalocke muss ihr Konzert abbrechen oder wird erst gar nicht dazu eingeladen.
Wo völliger Subjektivismus Einzug hält, verlieren sich alle rationalen Kriterien zur Beurteilung der Wirklichkeit. Sie werden durch reine Willkür ersetzt, durch einen Terror der vermeintlich Tugendhaften, die jegliche Kritik an ihren Empfindungen als unverschämten Übergriff (der sie sich extrem unwohl fühlen lässt) zurückweisen.
Schneeflocken, Mimosen, Menschen, die ein Windhauch verletzen kann, die bei ihrer Innerlichkeit unglaublich sensibel bis in die Haarspitzen sind. Aber im Angriff gegen alle Unsensiblen, die sie solchen schlechten Empfindungen schuldhaft aussetzen, kennen diese Empfindungsfanatiker nichts. Da wird geholzt und gekräht und gelitten und gefordert.
Bis eine schwachsinnige Stelle beschliesst, genderneutrale WCs einzuführen, die Abgabe von Gratis-Tampons dem Steuerzahler ungefragt aufs Auge zu drücken, die neu erfundene Fakultät Genderstudien mit wohlbezahlten Professoren zu versehen, die nichts Besseres zu tun haben, als mit orwellschem Eifer Newspeak durchsetzen zu wollen.
Da nur grenzenlose Subjektivität anerkannt wird, sind ihre Urteile, ihre Verurteilungen harsch, unwiderruflich und durch nichts anderes begründet als «ich empfinde das so». Denn es gibt – zu ihrem Leidwesen – keine rationaler Logik gehorchende Argumente oder Begründungen für diesen Schwachsinn.
Unglaublich. Europa, die USA, vielleicht noch Japan, Australien und ein paar weitere englische Ex-Kolonien, stellen die kleinen Inseln der rationalen Vernunft in einem Meer von fundamentalistisch-religiösem Wahnsinn dar. Privilegiert, wer auf ihnen leben darf. Aber auch hier herrscht die Gefahr, dass andersgeartete fundamentalistische Wahnsinnige zuerst den öffentlichen Diskurs, dann das erlaubte Denken bestimmen wollen.
Es regt sich Gegenwehr, aber sie ist immer noch viel zu zaghaft. Wer’s nicht glaubt, führe sich nur am konkreten Beispiel Tamedia vor Augen, wie weit es diese «ich empfinde es aber so»-Fraktion schon gebracht hat.
Es geht übrigens, Perversion der Perversion, auch nicht unbedingt um das eigene Empfinden. Mangels eigenem Leiden ist die Übernahme von fremdem hochwillkommen. Also kleben sich Klimakleber auf Startbahnen, wenn sie nicht gerade selbst ein Flugzeug zu fernen Zielen besteigen. Also knien verwöhnte weisse Kids auch in der Schweiz mit gramgebeugtem Rücken nieder und schnaufen leidvoll «Black Lives matter».
Es ist höchste Zeit, solchen Unfug in die Schranken zu weisen. Und das ist keine Empfindung.