Schlagwortarchiv für: Friedrich Schiller

Das Versagen an der Welt

Noch nie konnten wir so viel wissen. Noch nie haben wir so wenig verstanden.

Es hiess Samisdat. Es hiess klandestin. Es bedeutete, unter Lebensgefahr Flugblätter oder Broschüren drucken. Sie über Grenzen und an Kontrollposten vorbei schmuggeln. Sie verteilen, immer in der Hoffnung, auf keinen Spitzel oder Denunzianten zu stossen.

Dann bei Kerzenlicht lesen, verstehen, Horizont erweitern. Im Geist ein Licht aufgehen lassen, einen Ausweg aus der Finsternis der Unkenntnis zeigen. Scheinbar Unbezweifelbares in Zweifel ziehen. Die Lüge der gottgewollten Herrschaft entlarven.

Mit einem Wort: Aufklärung. El siglo de la luz heisst das so wunderbar auf Spanisch, das Jahrhundert des Lichts. Oder Enlightment auf Englisch, Erleuchtung. Das führte direkt zur amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und zur Französischen Revolution. Zu den ersten Erklärungen allgemeiner Menschenrechte. Zum Postulat, dass jeder unveräusserliche Rechte besitzt. Nur deswegen, weil er ein Mensch ist. Eine weitere Begründung braucht es nicht dafür.

Sicherlich, gilt das wirklich für alle? Auch für Frauen, Besitzlose, Schwarze? Das war noch ein weiter Weg. Aber es verfestigte sich die Hoffnung: Wissen ist Macht. Bemächtigt den Besitzer. Macht ihm die Welt verständlich. Erleuchtet ihn mit der Erkenntnis, dass das, was ist, nicht unbedingt gut und richtig sein muss. Auch anders und besser sein könnte.

Die Welt kann richtig verändert werden

Im Taumel dieser wunderbaren Erkenntnis entstand die Illusion, dass es nun doch stetig vorangehe. Friedrich Schiller prägte das schöne Bild, dass jede Generation auf den Schultern der vorangehenden stünde. Freude schöner Götterfunken, alle Menschen werden Brüder, die atemberaubende Musik von Beethoven dazu.

Was bruchstückhaft erschien, wuchs zu einer Philosophie und einem Gedankengebäude heran, vorangetrieben von Kant, Hegel, Marx und Engels. Am Schluss dieser Reihe stand die Gewissheit, dass die Welt nicht nur interpretiert und verstanden werden könne, sondern mit wissenschaftlicher Gewissheit in die richtige Richtung vorangetrieben, verändert werden muss. Sozusagen zwangsläufig, das einzelne Subjekt befördert nur den objektiven Gang der Geschichte. Oder behindert ihn, dann muss es weg.

Das war die grosse Illusion. Die im Desaster endete. Die andere grosse Illusion war, dass zumindest in Kerneuropa nun ein Niveau der Zivilisation erreicht ist, das blutige kriegerische Auseinandersetzungen der Vergangenheit angehören lässt. Wie sollten sich die deutschen Dichter und Denker nochmals mit den französischen Aufklärern Kämpfe auf Leben und Tod liefern. Undenkbar; wenn schon Streit, dann auf dem Weg zu technischem Fortschritt, zu kultureller Weiterentwicklung.

Diese Illusion zerbrach dann in den Blutmühlen des Ersten Weltkriegs, in dem mit vorher ungekannter (und technologisch noch nicht möglicher) Grausamkeit gekämpft, geschlachtet, gewütet wurde.

Endgültig das Ende der angeblichen zivilisatorischen Weiterentwicklung war dann der Zweite Weltkrieg. Die Dichter und Denker wurden zu Richtern und Henkern, das Jahrhundertverbrechen des Holocaust, das Jahrhundertverbrechen des Überfalls auf die Sowjetunion.

Eine Illusion wird durch die nächste ersetzt

Aber der Mensch lebt von Illusionen. Die nächste heisst Internet. Demokratischer, unbeschränkter Zugang zu allen Informationen der Welt. Vorausgesetzt, sie sind digitalisiert. Drahtlos, selbst in Elendslöchern in Afrika boomt seither die Telekommunikationsindustrie. Nicht nur Wissensvermittlung, auch finanzielle Transaktionen können so billig, schnell und effizient abgewickelt werden.

Der Bauer kann sich über die Entwicklung des Wetters informieren, oder darüber, was sein Produkt in der nächsten Marktstadt kostet und wie viel ihm der Zwischenhändler abknöpft. Selbst Analphabten können Wissen absaugen, vorausgesetzt, die Verbindung lässt das Abhören von Podcasts zu.

Alles Wissen der Welt nur ein Fingertippen entfernt, wunderbar. Der Ukrainekrieg, worum geht es, wer kämpft gegen wen, wer ist im Recht, wer im Unrecht, was genau spielt sich ab? Könnte doch jeder für sich herausfinden.

Nur machen das die Wenigsten. Denn alles Wissen der Welt, das ist ein Meer. Unendlich gross, tief, amorph. Wie kategorisieren, orientieren, strukturieren? Wie sagte Bert Brecht mal so schön:

«Haltet Euch an Balzac, das ist ein Ratschlag wie: haltet Euch ans Meer

Was er damit meinte: wie soll man sich an einen Giganten halten, der eine ganze Kleinstadt mit erfundenen Menschen bevölkerte, ein eigenes Universum von Schicksalen schuf.

Wissen akkumulieren ist gut. Zugang zu Wissen haben wie noch nie, das ist besser. Die Zensur hat immer schlechtere Karten. Wenn Unrechtsregimes des Zugang zum Internet blockieren, kanalisieren, zensurieren wollen, dann gibt es Umwege, von VPN angefangen, die das ins Leere laufen lassen.

Aber immer mehr wissen, immer einfacheren Zugang zu Wissensmeeren haben, das befördert etwas nur unvollständig, keinesfalls automatisch: von Wissen zu Verstehen zu gelangen.

Wissen heisst noch lange nicht Verstehen

Verstehen setzt individuelle Denkarbeit voraus. Die Fähigkeit, zu strukturieren, katalogisieren, falsifizieren, plausibilisieren. Die Fähigkeit, Fake News, Deep Fakes, Propaganda, jede Form von Beeinflussung zu erkennen. Da wird’s dann dünn. Recht dünn.

Aber gemach, wofür haben wir denn Informationsquellen, die Medien. Zeitungen, Zeitschriften, TV, Radio, private Blogs, auch hier hat das Internet doch demokratisierend gewirkt. Jeder kann mit wenigen Handgriffen für billiges Geld sich zu einer Informationsquelle machen. Nur: niemand hat die Zeit, das alles aufzunehmen. 99 Prozent aller Newsquellen haben nur eine sehr überschaubare, kleine Gemeinde, die sie beschallen.

Und die grossen Medien sind allesamt skelettiert, abgemagert, krankgespart. Schlimmer noch: sie ahmen die unsägliche Hetze nach, die seit dem Ersten Weltkrieg endemisch ist. Schwarzweiss, der Feind ist brutal, böse, verbrecherisch, wahnsinnig, enthemmt, entmenscht. Neben dem Schurken gibt es den Helden, der ist strahlend, gerecht, weise, verübt niemals Verbrechen, kämpft für das Gute.

So muss man leider sagen, dass die nächste Generation keineswegs auf den Schultern der vorangehenden steht. Sondern dass wir immer wieder in die gleichen Verhaltensmuster zurückfallen. Mit oder ohne Zugang zu allem Wissen der Welt. Immer mit der gleichen Unfähigkeit, wirklich verstehen zu können.

 

Wumms: Arthur Rutishauser

Wenn die Trauben zu sauer sind, wird gemotzt.

Friedrich Schiller, Don Carlos, zehnter Aufzug: «Sire, geben Sie Gedankenfreiheit.» Eine Nummer kleiner hat’s Arthur Rutishauser nicht. Zunächst lässt er seine Mitarbeiter jammern: «Seit 2015 droht Journalisten ein Strafverfahren, wenn sie über geleakte Bankdaten schreiben. Tamedia musste auf Recherchen zu den Credit-Suisse-Daten verzichten.»

Das ist nunmal so, dass die Verwendung von Hehlerware strafrechtliche Konsequenzen haben kann. Wieso allerdings Tamedia deswegen auch auf Recherchen verzichten musste, erschliesst sich nicht. Schliesslich hat der Konzern sich ja einige Male an solchen Ausschlachtungen beteiligt.

Dann tritt der Oberchefredaktor persönlich nach. Immerhin räumt er zunächst ein: «Es gibt viele Gründe, seine Bankdaten geheim zu halten.» Es gibt auch viele Gründe, Geschäftsinformationen vertraulich zu halten.

Dann verlangt auch Rutishauser Medienfreiheit:

«Dass heute Bankdaten in ausländischen Medien geleakt werden, während in der Schweiz ein Rechercheverbot herrscht, ist ein Unding, das abgeschafft werden muss.»

Das zeugt von einer gewissen Unsicherheit gegenüber rechtsstaatlichen Prinzipien. Sollten im Ausland ähnliche Gesetze zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen gelten wie in der Schweiz, ist die Publikation solcher gestohlener Daten auch dort strafbar. Die ganzen bisherigen Leaks und Papers konnten nur deswegen ohne strafrechtliche Konsequenzen publiziert werden, weil Panama oder Singapur weit weg sind.

Aber damit ist der Irrflug der Oberchefs noch nicht zu Ende: «Offenbar zählt im Zweifel noch immer das Geschäft, nicht das Gesetz.» Im Gegenteil. Ohne Zweifel herrscht in einem Rechtsstaat das Gesetz. Es abzuschaffen, wie Rutishauser fordert, ist ihm unbenommen.

Schliesslich beschwert sich Rutishauser noch darüber, dass seine Cracks vom «Investigativdesk» mit einem «Rechercheverbot» belegt seien. Man möchte schon gerne wissen, worin das denn bestehen sollte. Es gibt kein Gesetz in der Schweiz, das Recherchen zu jedem beliebigen Thema, abgesehen von vitalen Sicherheitsinteressen des Landes, verbietet. Und das Innenleben der CS gehört sicher nicht dazu.