Mehrfachverwertung
Herfried Münkler geistreichelt auf allen NZZ-Kanälen.
Man kann es Multitasking nennen. Oder Multichannel. Oder auch eine Überdosis. Der emeritierte Professor Münkler ist ein produktiver Mann. Sein historisches Werk «Der grosse Krieg» über den Ersten Weltkrieg, sein Buch über den Dreissigjährigen Krieg, über die Zukunft der Demokratie oder neuestens über «Die Welt in Aufruhr» sind intelligente, feuilletonistisch lesbar geschriebene Abhandlungen, die man gelesen haben sollte. Auch wenn ihm Christopher Clark mit «Die Schlafwandler» bezüglich Erster Weltkrieg etwas in der Sonne steht.
Aber gut, jetzt erschallt Münklers Stimme bei der NZZ auf allen Kanälen. Chefredaktor Eric Gujer hat ihn zum gepflegten Dialog in seine «Standpunkte» eingeladen, gleichzeitig ist ein grosses Essay von Münkler im Print erschienen: «Kann man von einem Menschen heute noch verlangen, dass er für sein Heimatland in den Krieg zieht?» Eine ganze Seite Feuilleton zur These, dass «die Opferbereitschaft» entscheide, «wer am Schluss die Oberhand» habe im Ukrainekrieg.
Da greift der Historiker zuerst in die Historie zurück: «Es gab Zeiten, da zogen die jungen Männer fraglos in den Krieg.» So fraglos war das dann allerdings auch nicht, in den Blut- und Knochenmühlen des Ersten Weltkriegs. Auch die «Levée en masse» während der Französischen Revolution war mehr eine revolutionäre Tat, das gesamte Volk zum Widerstand gegen die Reaktionäre aufzurufen, die die erste grosse Revolution des Bürgertums gegen den Adel niedermachen wollten – als Ausdruck allgemeiner Opferbereitschaft.
In der Ukraine stelle sich nun die Frage «nach Opferbereitschaft und Heroisierungspotenzialen beider Seiten». Das sei entscheidend, behauptet Münkler. «Material und Durchhaltewillen», das seien die beiden entscheidenden Faktoren, die den Ausgang des Kriegs, bzw. die Flexibilität bei den unvermeidlichen Friedensverhandlungen, bestimmen würden. «Durchhaltewillen, Mobilisierung junger Männer für den Einsatz an der Front», klirrt Münkler recht martialisch vor sich hin. Das erkläre «die überzogenen Erfolgsaussichten der ukrainischen Führung hinsichtlich des Verlaufs der Offensive im Sommer und Herbst 2023». Hier wird der Historiker etwas dunkel in seiner Deutung.
Wohl deshalb dann der Aufschwung in den theoretischen Überbau, wo sich vieles sehr beeindruckend anhört: «Dass postheroische Gesellschaften sich wieder heroisieren können, zeigt das Beispiel der Ukraine im Verlauf der letzten zwei Jahre.» Postheroische Gesellschaften, wow. Darüber hat Münkler schon 2007 im «Merkur» sinniert, es geht nichts über ein gut aufgeräumtes Archiv zwecks Recycling. Das mit dem Heroismus ist so eine Sache, die der Dialektiker Bertolt Brecht wohl am besten im Galilei auf den Punkt gebracht hat:
«Unglücklich das Land, das keine Helden hat … Nein.
Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.»
Schliesslich widmet sich Münkler noch dem Schicksal der «Trittbrettfahrer», also all der Ukrainer, die es vorgezogen haben, den Ausgang des Krieges aus sicherer Entfernung abzuwarten, statt sich heroisch in den Kampf zu werfen.
Aufgewärmte Begrifflichkeit, neu gemixt. Dann am Schluss noch schnell auf die grosse Quirltaste drücken:
«Damit ist die Verbindung von Freiheit und Vaterland, die in der Levée en masse zentral war, aufgelöst und mit der liberalen Demokratie vereinbar. Es geht wesentlich um die Freiheit. Es ist, wenn man so will, eine «Wette mit der Geschichte», die seitens der liberalen Demokratie eingegangen wird: dass die ihr eigenen Freiheitsversprechen attraktiver sind als die bedingungslose Risikovermeidung in Konstellationen einer existenziellen Bedrohung.»
Das versteht man auch im dritten Anlauf nicht? Genau das soll es auch bewirken: ein ehrfürchtiges Staunen mit heruntergeklapptem Unterkiefer. Allerdings nur für Leser, die auch an des Kaisers neue Kleider geglaubt hätten. Denn eigentlich ist das nichts anderes als gelenkiges Herumturnen in nicht genauer definierten Begrifflichkeiten. Freiheit, Vaterland, liberale Demokratie, Risikovermeidung, Bedrohung. Einmal gut mixen, und heraus kommt eine «Wette mit der Geschichte». Nur: die Geschichte wettet nicht. Es wettet auch niemand mit der Geschichte. Hört sich irgendwie gut an, ist aber reines Gedöns vom Professor.