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Wir sind so neutral

Lernt jeder in der Schule: die Schweiz ist neutral. Oder so.

Die Schweiz erwartet gespannt die Veröffentlichung des «Neutralitätsberichts» durch das EDA. Darin soll geklärt werden: «Der Bericht wird neben der Aufarbeitung der letzten 30 Jahre auch die aktuelle Krise in der Ukraine beleuchten sowie einen Ausblick auf eine mögliche Weiterentwicklung des Neutralitätsverständnisses geben

Unheil schwant, wenn man die Liste der Mitglieder der «externen Expertengruppe Neutralität 22» anschaut:

  • Yves Daccord (ehemaliger Direktor des IKRK),
  • Martin Dumermuth (ehemaliger Direktor des Bundesamts für Justiz)
  • Renata Jungo-Brüngger (Vorstandsmitglied Mercedes-Benz-Gruppe)
  • Dominik Knill (Präsident Schweizerische Offiziersgesellschaft
  • Christoph Mäder (Präsident economiesuisse)
  • Anna-Lina Müller (Co-Geschäftsführerin Think Tank Foraus)
  • Philippe Rebord (ehemaliger Chef der Armee)
  • René Rhinow (alt Ständerat, Professor Emeritus für öffentliches Recht an der Universität Basel)
  • Sacha Zala (Professor für Schweizer und Neueste allgemeine Geschichte, Direktor der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente)

So hat sich Rhinow bereits mehr als abfällig über die bisherige Anwendung des Neutralitätsprinzips geäussert: «Dass die Schweiz immerwährend neutral sein soll, ist verjährt.»

Was in einer solchen Arbeitsgruppe ein VR von Mercedes-Benz zu suchen hat, ein ehemaliger IKRK-Direktor oder gar ein Vorstandsmitglied der Europa-Turbos «Foraus»?

Dabei wäre es doch tatsächlich sinnvoll, den offensichtlich nicht ganz durchdachten Begriff der bewaffneten Neutralität staatsrechtlich zumindest zu definieren. Dafür verfügt die Schweiz doch über genügend Professorenstellen, deren Amtsinhaber sich eigentlich auf Kosten des Steuerzahlers den lieben langen Tag mit nichts anderem als solchen Fragen beschäftigen sollten.

Daher war es dann sicherlich kein Problem, hier wenigstens eine wissenschaftlich fundierte Definition zu bekommen, auf die dann die Debatte aufbauen könnte. Nur: wenn uns nicht Wesentliches entgangen ist, gibt es die nicht.

Unser Aussenminister zog plötzlich den Begriff «kooperative Neutralität» aus dem Hut, andere erklären die Neutralität für überflüssig, sie sollte eigentlich längst abgeschafft werden.

Wieder andere sagen, dass diese Neutralität doch noch nie richtig existiert habe, spätestens seit Ende des Zweiten Weltkriegs sei die Schweiz alles andere als neutral gewesen, sondern hätte sich unter den militärischen Schutzschirm der NATO begeben, mit allen daraus folgenden Abhängigkeiten.

An diesem besinnlichen Sonntag vor dem 1. August soll keineswegs rechthaberisch die einzig richtige Definition der Schweizer Neutralität dem staunenden Publikum präsentiert werden.

Aber schon mit leichter Verzweiflung soll nochmal gefordert werden: ist es denn nicht mehr möglich, selbst über solche fundamentalen Begriffe, über diesen Pfeiler des Schweizer Selbstbewusstseins, der Definition der Schweiz, eine zivilisierte, auf Erkenntnisgewinn ausgerichtete Debatte zu führen?

Statt mit heruntergelassenem Visier im Schützengraben der verfestigten Meinung zu sitzen und rechthaberisch auf alles zu ballern, was der nicht entspricht?

Klar, ein illusorischer, fast kindischer Wunsch zum 1. August. Aber probieren kann man ja.

 

 

 

Wofür schreiben wir?

Die Welt spricht nicht zu uns. Wir brauchen Vermittler dafür.

Die Nachricht ist eine der ältesten Kommunikationsformen der Menschheit. Der Späher, der ein Mammut entdeckt hat und das seinen Höhlenwohnern mitteilt, damit die Fleischvorräte aufgestockt werden können.

Das Narrativ, mit welchen Methoden man erfolgreich ein Mammut jagen und erlegen kann. Das Heldenlied, das nachahmenswerte, edle, gute Verhaltensweisen besingt. Aber auch die Lüge, die Propaganda, die Instrumentalisierung der Kommunikation für Manipulation, Beeinflussung, Lenkung.

Die Welt spricht nicht zu uns, aber indem wir über die Welt sprechen, wollen wir sie verstehen. Verstehen hilft ungemein. Vor allem, wenn es Glauben ersetzt. Wer glaubt, die Welt sei eine Scheibe, an deren Rand man ins Ungewisse hinabstürzt, hätte niemals die Welt erkundet. Wer glaubt, ein Blitz sei ein Zeichen eines zürnenden Gottes, hätte sich niemals die Elektrizität zu eigen gemacht.

Kommunikation sollte auch dazu dienen, Nachrichten aus uns unbekannten oder unzugänglichen Gegenden der Welt zu bekommen. Sie sollte uns instand setzen, uns ein Weltbild zu machen.

Weltbilder können Verständnis befördern

Durch ein Weltbild entsteht zumindest Teilhabe. Entsteht die Möglichkeit, auch grosse und von uns nicht beeinflussbare Ereignisse an unseren Massstäben zu messen. Den Versuch zu unternehmen, zwischen falsch und richtig zu unterscheiden. Zwischen unterstützenswert und verabscheuungswürdig.

Das bestimmt dann unser Handeln. Sei es die Teilnahme an einer Demonstration, Spendenbereitschaft oder gar der persönliche Einsatz, wie ihn auch erstaunlich viele Schweizer leisten.

Natürlich, die abstrakte Rede ist von den konkreten Ereignissen in der Ukraine. Die Rede ist davon, dass die deutschsprachigen Massenmedien weitgehend nicht ihre Aufgabe erfüllen. Denn es sollte gravierende Unterschiede zwischen der staatlich kontrollierten Presse in Russland und der sogenannten freien Presse im Westen geben.

In Russland werden kritische Stimmen zum Verstummen gebracht, sogar absurde Sprachregelungen erlassen wie die, dass nicht von einer Invasion oder einem Krieg in der Ukraine berichtet werden darf. Das ist ein indirekter Beweis, wie wichtig Kommunikation ist, wenn ein Regime meint, durch die Unterdrückung von Worten eine missliebige Sicht auf Ereignisse unterdrücken zu können.

Diese Methode der Schönfärberei begleitet seit Urzeiten alle autoritären Systeme. In der Mediengeschichte gibt es wohl kaum ein zweites Organ wie die «Prawda». Ihr Name lautet «Wahrheit», dabei wurde kaum wo dermassen umfangreich gelogen wie in der 110-jährigen Geschichte dieser Zeitung.

Eine verzerrte Darstellung der Wirklichkeit hat meistens nur eine überschaubare Wirkung. Auch wenn niemand behaupten kann, die einzig richtige und objektive Darstellung der Realität liefern zu können: zu grosse Abweichungen brechen irgendwann zusammen. Der Propaganda-Apparat der Nazis war beeindruckend; aber statt Endsieg und totalem Krieg gab es die totale Niederlage.

Auch die sowjetische Propaganda war nicht schlecht unterwegs. Trotz ständigen Planübererfüllungen und neuen Triumphen des Sozialismus brach die UdSSR zusammen.

Dass Russland in dieser Tradition versucht, die Nachrichten aus der Ukraine zu manipulieren, erstaunt nicht. Dass die deutschsprachigen Mainstream-Medien weitgehend dabei versagen, ihren Konsumenten Entscheidungsvorlagen zur Beurteilung der Ereiginisse zu liefern, Hintergründe, Zusammenhänge, verblüfft auch nicht wirklich.

Medien als Erkenntnisverhinderter

Bereits während der Pandemie verabschiedeten sich viele Medien von ihrer Aufgabe als Kontrollinstanz, als kritische Begleiter staatlichen Handelns. Nicht umsonst gibt es unter Journalisten das Bonmot, dass Ausland sowieso gegendarstellungsfreier Raum sei. Was in Schweizer Gazetten über die Ukraine oder Russland berichtet wird, interessiert in diesen Ländern eigentlich nicht.

In der Schweiz sollte es hingegen den mündigen Staatsbürger interessieren, wie er denn die Ereignisse in Europa einordnen kann. Trifft es die Wirklichkeit, dass Putin der Beelzebub und Selenskyj der strahlende Held ist? Wäre Verständnis herstellen nicht sinnvoller als verurteilen?

Bei jedem Verbrechen werden die Motive des Täters untersucht. Gibt es mildernde Umstände oder handelte er besonders heimtückisch? Ist es eine Tat im Affekt oder sorgfältig geplant? Liegt eine psychische Störung vor? Zudem sollte, zumindest im aufgeklärten Westen, die Strafe nicht der Rache, sondern der Resozialisierung dienen.

Statt Verständnis Sippenhaft

Das würde hier bedeuten, Präsident Putin wieder in die Völkergemeinschaft aufzunehmen, wenn er überhaupt resozialisierbar ist. Aber all das findet im veröffentlichten Weltbild nicht statt.

Es wird sogar nicht nur gegen die Verursacher und Schuldigen gekeilt. Sportler, Künstler, eigentlich jeder Russe, dem man habhaft werden kann, wird in Sippenhaft genommen. Beziehungsweise es wird ihm abverlangt, sich entweder deutlich von den Taten seines Präsidenten zu distanzieren – oder er wird stigmatisiert, diskriminiert, ausgegrenzt, ausgeladen, entlassen.

Viele dieser so Angerempelten haben Rücksichten zu nehmen. Befinden sich in direkten oder indirekten Abhängigkeitsverhältnissen, müssten Repressionen wenn nicht gegen sich selbst, dann gegen Verwandte und Nahestehende befürchten.

Das alles ist aber Medienschaffenden egal, die zwar wissen, dass die Erde keine Scheibe ist, sie aber gerne so flach, eindimensional, leicht zu kartographieren darstellen wollen. Diese Art von Weltsicht hat noch nie Erkenntnisgewinn gebracht. Und das sollte ja eigentlich der tiefere Sinn jedes kommunikativen Handelns sein.