Die Niveau-Bremse von «20 Minuten»
Claudia Blumer ist beim Gratisblatt angekommen. Ganz schlechte Nachrichten.
Man will ja ein Zeichen setzen, wenn man neu anfängt. Üblich, normal, verständlich. Claudia Blumer, bei Tamedia eher unangenehm aufgefallen, ist seit 1. Juli Ressortleiterin «Politik und Gesellschaft» bei dem Gratis-Blatt «20 Minuten».
Claudia Blumer: ein Foto aus besseren Tagen.
Das reichweitenstärkste Organ für alle, die sich überhaupt noch bei Newsmedien informieren, verzichtet weitgehend auf künstliche Aufreger und vollständig auf Kommentare. Das scheint ein Bestandteil seines Erfolgs zu sein.
Blumer hingegen fiel nicht nur durch ein schlampig recherchiertes, einseitiges, mit Fehlern gespicktes Werk auf, sondern auch mit etwas eigenen Kommentaren:
Und ein Kommentar ist keine Kalbshaxe.
Solches ist bei «20 Minuten» nun nicht mehr möglich, aber man kann doch auch anders eine Duftmarke setzen, muss sich Blumer gesagt haben:
Die klassische, eher abgenudelte Boulevard-Nummer: Man stellt eine steile Frage in den Raum, macht ein schönes Einerseits-Andererseits draus, und schon hat man künstlich ein Thema zur Debatte aufgeblasen, das eigentlich keines ist.
Stichhaltigkeit, Relevanz, Realitätsgehalt: völlig wurst. Denn als Schritt zwei kann man dann von einer «grossen Resonanz» schwärmen:
Nach Belieben lässt sich so eine Schaumschlägerei weiterdrehen. Fachleute meinen, Politiker widersprechen, Experten warnen, Juristen geben zu bedenken, Betroffene heulen wunschgemäss auf.
Eigentlich ist’s ziemlich banal und klar
Dabei führt kein Weg an der banalen Erkenntnis vorbei: Selbstbehalt für Selbstverschulden im Gesundheitswesen? Ist nicht, gibt’s nicht, Krankenversicherung ist keine Autopolice, wo Fahruntüchtigkeit Kostenfolgen hat, wenn’s kracht.
Ganz wichtig ist auch, dass so getan wird, als gäbe es hier eine heisse Debatte mit Mord und Totschlag in Sicht:
«So ein renommierter Infektiologe, der anonym bleiben will. Er sieht das Portemonnaie als das effektivste Mittel, wie er gegenüber «20 Minuten» sagt: «Landen Ungeimpfte wegen Covid im Spital, sollen die Krankenkassen später Regress auf diese Personen nehmen können.» Es gebe keinen Grund dafür, dass Krankenkassen für eine «fahrlässig verbreitete Krankheit» aufkommen müssten. Später zieht er das Zitat zurück – aus Angst vor Morddrohungen.»
Ist aber auch blöd gelaufen; im Blatt mit dem Regenrohr im Titel traut sich gleichzeitig ein «Verhaltensökonom» in Wort und Bild und mit vollem Namen eine ähnliche Forderung aufzustellen. Von Morddrohungen oder Personenschutz ist nichts bekannt.
Aber eigentlich geht’s um nix.
Natürlich ergreifen Politiker gerne die Gelegenheit, sich zitieren zu lassen. Abwägend, dagegen, ein wenig dafür, wichtig ist ja nur, wenn der Name und die Parteizugehörigkeit richtig geschrieben sind.
Nachdem das alles abgespult wurde, braucht es nur noch einen einigermassen versöhnlichen Schluss:
«Jedenfalls: Beim Bund ist man trotz nachlassender Impfnachfrage guten Mutes. Rund 46 Prozent der erwachsenen Personen in der Schweiz hätten mindestens eine Impfdosis erhalten, sagte Virginie Masserey, Leiterin der Sektion Infektionskontrolle beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) an einer Medienkonferenz am Dienstag.»
Dass damit das ganze Geschrei vorher als absurd und überflüssig gekübelt wird, was soll’s. Man kann «wichtiges Thema aufgegriffen», «Debatte ausgelöst», «grosses Echo», «aufgrund des Artikels haben 25 Parlamentarier» und ähnliche Blasen blubbern.
Wieso macht man das heute nicht mehr so gerne?
Nur: Es gibt leider einen Grund, wieso die meisten Boulevardblätter diese Methode der künstlichen Aufschäumung nicht mehr verwenden. Weil sie gemerkt haben, dass sich der Leser davon schlichtweg und zunehmend verarscht fühlt. Und dieses Gefühl trägt nicht wirklich zur Leser-Blattbindung bei.
Um es begreiflich in einem Bild zu sagen: Wenn in einer Pizzeria der Teigfladen zwar als halbmeterhoher Turm serviert wird, beim ersten Anschnitt aber wie ein Soufflee zu einem unansehnlichen Klacks zusammenschrumpft, dann findet das der Besucher auch nicht so toll. Selbst wenn er dafür nichts bezahlen muss. Das sollte dem Chefredaktor von «20 Minuten» doch etwas zu denken geben …