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Stimme der Vernunft

Die NZZ läuft zu alten Formen auf.

Wenn man den Artikel von Benedict Neff liest, der wohlgemerkt unter der Rubrik «Meinung & Debatte» erscheint, nimmt man beruhigt zur Kenntnis, dass noch nicht alle Journalisten den Verstand verloren haben.

Das Urteil muss so harsch ausfallen, weil sich die meisten Medien einer Aufgabe versagen, die eigentlich die Grundlage ihrer Existenzberechtigung ist. Nämlich die möglichst realitätsnahe Beschreibung von Ereignissen. Was dazu dienen sollte, dass sich der Konsument eine eigene Meinung bilden kann.

Natürlich gibt es dabei nicht die einzig korrekte, gar objektive Darstellung. Organe wie die «Pravda» waren und sind eine Karikatur der Behauptung, die «Wahrheit» zu verbreiten und nichts als die Wahrheit. Stattdessen wird gefiltert, gelogen, eingefärbt, ausgelassen, umgebogen, zurechtgeschrieben. Keinesfalls, damit sich der Leser eine eigene Meinung bilden kann. Sondern damit er die vorgegebene Meinung annimmt, übernimmt, nachplappert.

Nun haben all diese Versuche einen Haken: früher oder später siegt das Faktische über die Fiktion. Wer behauptete, der Sozialismus eile auf allen Gebieten von Sieg zu Sieg, musste konsterniert zur Kenntnis nehmen, dass er gerade zusammengebrochen war und als Wirtschaftsmodell nie taugte.

Wer behauptet, die ukrainische Armee eile von Sieg zu Sieg, die russische hingegen sei am Rande der Niederlage, zeichnet ebenfalls ein Zerrbild der Realität.

«Irgendwann wurden Satellitenbilder eines 64 Kilometer langen russischen Militärkonvois vor Kiew verbreitet. Das Unheil schien im Anzug. Die Kolonne kam in der ukrainischen Hauptstadt aber nie an. Stattdessen waren die Zeitungen bald voll mit Bildern von russischem Militärschrott. Panzern, zusammengeschossen, ausgebrannt oder einfach stehengelassen auf ukrainischen Strassen.»

Es verfestigte sich das Zerrbild einer möglichen militärischen Blamage Russlands, konstatiert Neff. Dagegen traten zwei renommierte Experten an:

«Ende Mai meldeten sich die zwei führenden Kriegserklärer der deutschen Medien zu Wort: Herfried Münkler und Carlo Masala. «Die Ukraine steht im Begriff, den Krieg zu verlieren», sagte Münkler in der «Welt». «Es läuft für Putin. Von daher gibt es keinen Anreiz, sich in Verhandlungen hineinzubegeben», so meldete Masala fast zeitgleich. Die beiden Voten schienen wie aus dem Nichts zu kommen. Eben noch, mussten sich manche Medienkonsumenten gedacht haben, lief der Krieg doch für die Ukrainer. Die Amerikaner verkündeten, die Ukraine könne den Krieg gewinnen. Ebenso äusserte sich der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.»

Nun könnte man meinen, dass das doch Ausdruck der Überlegenheit einer freien Presse sei, Beweis für die Meinungspluralität. Dagegen hält Neff:

«Wer nüchtern auf die Kriegslage zu blicken versucht, macht sich unter Umständen schon verdächtig. Als würde er damit die westlichen Werte oder den ukrainischen Abwehrwillen verraten.»

Abweichende Meinungen zu unterdrücken, das war und ist das Prinzip autoritär geführter Staaten wie Russland. Abweichende Meinungen zu tolerieren, ihnen aber keine Beachtung zu schenken, das ist das überlegene Prinzip westlicher Medien.

In die gleiche Liga fallen die repetitiven Berichte über den Gesundheitszustand des Kreml-Herrschers. Putin ist krank. Krebs, multiple Sklerose, Schilddrüse, Verlust des Augenlichts. Beweise, Belege? Experten für Körpersprache, verborgene Quellen aus dem Innern des Machtzirkels, Aussagen von angeblich Putin behandelnden Ärzten, die aber natürlich anonym bleiben müssen.

Und die Kriegsziele? Kann die Ukraine siegen? Wird Russland verlieren? Sind die ukrainischen Forderungen nach einem vollständigen Rückzug als Vorbedingung für Verhandlungen realistisch? «Dass dieser Krieg ohne Gebietsabtretung an Russland enden könnte, ist schwer vorstellbar. So wenig man sich dieses Szenario wünscht», bilanziert Neff nüchtern.

Das ist seine Meinung, und die kann so falsch sein wie das Geraune der Kriegsgurgeln und Ukraine-Versteher. Dass auch Neff eine einsame Position vertritt, dass die NZZ das einzige gewichtige Organ  in der deutschsprachigen Medienlandschaft ist, das solch differenzierte Meinungen zulässt, das auch die angeblich freiheitliche und westliche Demokratie in der Ukraine in Frage stellt, auf Zensur, Korruption, autokratische Tendenzen hinweist, gereicht ihr zur Ehre.

Macht die Schande der anderen Publikationsorgane deutlich.