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Deutliche Fallhöhe

Auch der NZZ-Chefredaktor greift zum Griffel. Da wird’s peinlich.

Aber nicht für Eric Gujer. Während sich seine Kollegin Raphaela Birrer quengelig und widersprüchlich in Kleinklein verliert, zeichnet God Almighty der NZZ mal wieder die ganz grossen Bögen.

Schon die Illustration, eine animierte Erdkugel mit Bildstörung, ist nicht schlecht. Denn Gujer versucht mit seinem »anderen Blick», den ganz grossen Überblick im Durcheinandertal zu behalten, wie das Dürrenmatt nannte:

«Die grosse Weltunordnung: Kriege und Chaos sind die neue Normalität. Worauf müssen wir uns noch einstellen?»

Für das Haus der ordnungspolitischen Zwischenrufe ist der Zustand der Welt ein desolater: «Die Welt ist ein Kartenhaus. … Solche Zäsuren sind die Signatur unserer Epoche: der überstürzte Abzug der Amerikaner aus Kabul, der russische Überfall auf die Ukraine, die sadistische Orgie der Hamas. Über Nacht werden neue, meist blutige Fakten geschaffen.»

Da gab es die Nachkriegszeit von 1945 bis 2022. Kalter Krieg, Zusammenbruch des sozialistischen Lagers, Pax Americana. Vorbei: «Wer bereit ist, maximale Gewalt anzuwenden, wer bereit ist, dafür notfalls auch einen hohen Preis zu zahlen, der kann viel Macht an sich reissen.»

Knallhart analysiert Gujer Russlands Stärke, vielmehr Schwäche: «Sie ist gross genug, um ein wehrloses Nachbarland zu überfallen. Aber sie genügt nicht für einen überlegenen Gegner oder einen weiter entfernten Schauplatz. So erscheinen die Warnungen, Putin werde sich nach der Ukraine dem Baltikum zuwenden, als masslos übertrieben.»

Noch ein hübscher Satz: «Putin ist ein Meister darin, grösser zu erscheinen, als er ist.» Das ist ziemlich bösartig, denn bekanntlich ist Putin auch körperlich nicht gerade grossgewachsen.

Aber auch die USA wirkten inzwischen häufig hilflos. Sie konnten Israel nicht im Zaum halten, sie wagen es nicht, massiv gegen die Mullahs in Teheran vorzugehen. Schlussfolgerung: es gebe heute «keine globale Ordnung» mehr: «Alle Machtverhältnisse sind flüchtig; es herrscht Weltunordnung.»

Soweit kann man Gujer kritiklos folgen. Dann aber setzt er zu einem Loblied auf Israel an. Seine Verbündeten hätten unablässig vor einer Eskalation gewarnt, aber: «Hätten sie sich durchgesetzt, hätte Israel keines seiner Kriegsziele erreicht. Ohne Risikobereitschaft werden keine Konflikte gewonnen. Die Warnung vor einer Eskalation indes verkommt zur Ausrede für westliche Untätigkeit.»

Die ununterbrochene Reihe von Kriegsverbrechen, die Israel begeht (wie andere Akteure im Nahen Osten auch), dass der sogenannte Wertewesten sich nur dann als moralisch überlegen aufspielen dürfte, wenn er es auch wäre – das verliert Gujer doch recht massiv aus dem Blick.

Stattdessen setzt er zum Lob des skrupellos Handelnden an: «Damit sich die Lage verbessert, muss man aktiv etwas dafür tun und auch bereit sein, Risiken einzugehen. Wer nur abwartet, gewinnt nichts.
Die USA haben im Nahen Osten zu lange zugeschaut. Das genügt nicht. Die Europäer wiederum vertrauen darauf, dass der grosse amerikanische Bruder mit Moskau eine Lösung für die Ukraine aushandelt. Das genügt erst recht nicht. Eine stabile Ordnung stellt sich nicht von alleine ein

Nun traut sich aber Gujer nicht, konkreter zu werden, was denn aktiv getan werden müsse. Militärisches Eingreifen in den Nachbarländern ohne Kriegserklärung? Bombardieren von ausgewählten Zielen in Grossstädten ohne Rücksicht auf Kollateralschäden? Ist das nicht ganz furchtbar, wenn es Russland in der Ukraine tut? Ist es dann vertretbar, wenn es Israel im Libanon und in Syrien tut?

Oder könnte man sich nicht darauf einigen, dass reine Machtpolitik immer amoralisch ist, schmutzig und skrupellos? So wie sie der Nobelpreisträger und Kriegsverbrecher Henry Kissinger mit offenem Zynismus betrieb. Das wäre dann den «anderen Blick» zu Ende gedacht. Was Dürrenmatt konnte, wovor Gujer zurückschreckt.

So ein Frechdachs

Eric Gujer schreibt das Unaussprechliche.

Der NZZ-Chefredaktor hat Mut. Andere reden von Brandmauern, ein CH-Media-Korrespondent erklärt sich umständlich, wieso er die AfD als «rechtsradikal» bezeichne, auch wenn das seinen Lesern nicht passt.

Da man Björn Höcke laut Gerichtsurteil als Faschisten beschimpfen darf, «plagt die Deutschen wieder ein Albtraum: Der Faschismus steht vor der Tür. In Thüringen liegt Björn Höcke fast zehn Prozentpunkte vor der zweitplatzierten CDU».

Der öffentlich-rechtliche Staatsfunk in der BRD kriegt sich fast nicht mehr ein: «Die ZDF-Chefredaktorin Bettina Schausten verglich den Wahlsieg Höckes mit Hitlers Überfall auf Polen.» Auf diesen groben Klotz setzt Gujer einen groben Keil: «Der mit einer Zwangsabgabe finanzierte und daher zur Ausgewogenheit verpflichtete Sender begibt sich auf das Niveau von Fake News und Geschichtsfälschung

Dann lässt er etwas Geschichtskenntnisse über den Leser regnen, wieso Vergleiche mit der Weimarer Republik so abseitig sind wie Versuche, aus Höcke einen Wiedergänger Hitlers zu machen. Der Mann ist ein Brandstifter und zeuselt gerne mit angebräunten Begrifflichkeiten, aber ein Faschist im Sinne Hitlers ist er sicher nicht.

Daher konstatiert Gujer kühl: «Ministerpräsident Höcke, na und? Eine Demokratie, die es nicht aushält, wenn auch einmal zweifelhafte Gesellen die Regierung bilden, ist keine.»

Dann analysiert Gujer mit echtem Weitblick weiter, wo andere in Gewäffel und Warnrufen verharren. Denn das Problem in Deutschland wie in den USA ist: wenn mehr als 30 Prozent – oder wie in den USA fast 50 Prozent – den «falschen» Kandidaten wählen, wie wird der Mainstream-Journalismus damit fertig? Er knödelt einige Sätze über das Recht auf freie Wahl, um dann aber mehr oder minder gewunden durchblicken zu lassen, dass Staatsbürger, die Höcke oder Trump wählen, damit eigentlich ihr Wahlrecht verwirkt haben. Zu blöd, zu einfältig, falsch gewählt, rauswinken, wegstellen, im Staatskundeunterricht nachsitzen.

«Die Vorstellung, ein Höcke könne wie Hitler die Republik zu Fall bringen, ist so absurd, dass man an der Zurechnungsfähigkeit der kommentierenden Klasse zweifelt. Wenn die kollektive Hysterie wütet, muss man sich verweigern. Auch das ist Zivilcourage. Nichts wäre entlarvender als eine von Sahra Wagenknecht geduldete Minderheitsregierung der AfD in Thüringen. Den Phrasen würde die Luft herausgelassen. Schnell erwiese sich Höckes Widerstandsgestus als Popanz. Oder fürchtet man, dass er ganz passabel und vor allem: populär regieren könnte? Dann wäre nicht der Populist das Problem, sondern die etablierten Parteien und ihre Unfähigkeit, den Zeitgeist in attraktive Politik zu verwandeln.»

Geradezu putzig wird es, wenn Gujer dem marxistischen Historiker Eric Hobsbawm die Referenz erweist, der bekanntlich das 20. Jahrhundert das «Zeitalter der Extreme» nannte. Um Hobsbawm gleich anschliessend indirekt eine überzubraten, indem Gujer sich einen Ausrutscher leistet: «Lenin wie Hitler gelang ihre Revolution nicht nur wegen ihrer Ruchlosigkeit, sondern auch weil ihre Botschaften die Massen überzeugten.»

Der ewig untaugliche Vergleich, der durch seine Wiederholung weder besser, noch richtiger wird.

Aber dann wird es wieder glasklar bei Gujer: «Die Populisten von heute wollen die herrschende Ordnung nicht stürzen, weil sie diese brauchen. Nur so können sie gegen das «System» und die «Systemparteien» polemisieren. Viktor Orbans Protest geht gerade so weit, dass er Brüssel zwar ärgert, aber die ungarischen Pfründen nicht gefährdet. Dem Gulasch-Illiberalismus fehlt die kriminelle Energie, die es für eine Revolution braucht. Er hat ein parasitäres Verhältnis zur EU, kein revolutionäres

Schlussfolgerung: Das 21. Jahrhundert beherbergt (noch) keine Extreme, sondern: «Heute dominiert rationaler Opportunismus, wie ihn Giorgia Meloni und Marine Le Pen vertreten.»

Gujer empfiehlt, dass die AfD mit dem BSW eine Koalition bilden sollte, in der sich beide entzaubern könnten. Aber dafür sei Sahra Wagenknecht halt zu schlau, diagnostiziert er.

Dann fällt er mit voller Wucht über die CDU her: «Stattdessen führt man in Thüringen ein erbärmliches Schauspiel auf. Die CDU ist so versessen auf die Macht, dass sie alles zusammenkratzen wird, um eine Regierung zu bilden. Zwar haben sich die Christlichdemokraten geschworen, nie mit den Erben der kommunistischen Diktatur gemeinsame Sache zu machen. Doch ist das einerlei, seit der Parteichef Friedrich Merz Wagenknecht zur möglichen Koalitionspartnerin in den Ländern geadelt hat. Ausgerechnet Wagenknecht.»

Der Todesstoss, elegant gesetzt: «Ein Unvereinbarkeitsbeschluss in Bezug auf die Linkspartei, aber ein Bündnisangebot an das BSW: Die CDU verläuft sich im Unterholz der ostdeutschen Politik. … Warum die CDU mit der Altstalinistin Wagenknecht zusammengehen kann, aber gegenüber der AfD eine Brandmauer errichtet, ist schwer verständlich.»

Man kann nun politisch nicht das Heu auf der gleichen Bühne wie Gujer haben. Aber es ist unbestreitbar, dass gegenüber seinen Kommentaren und anderen Blicken die Kommentare und Analysen der übrigen Journaille in der Schweiz verzwergen, peinlich provinziell, intellektuell mit kleinem Besteck angerichtet wirken. Von sprachlicher Brillanz ganz zu schweigen. Von der Spitze von Tamedia abwärts und aufwärts wirkt deren Geholper so, wie schon Franz Kafka den Schweizer Dialekt nannte: ein mit Blei ausgegossenes Deutsch.

 

Kriegsgeschrei aus der NZZ

Ein weiterer Sandkastengeneral sändelet und zündelt.

Normalerweise beherrscht Eric Gujer den «anderen Blick» der NZZ, mit dem sie sich an ihre reichsdeutschen Leser wendet. Nicht zuletzt damit hat sich das Blatt von der Falkenstrasse in Zürich in Deutschland einen Namen gemacht. Denn Gujers Blick ist meist gnadenlos, er führt eine scharfe Klinge und kann – für einen Schweizer – elegant formulieren.

Aber auch God Almighty muss mal ruhen, dann dürfen andere ran. Da fängt dann der «andere Blick» schwer an zu schielen. Daran schuld ist Marco Seliger. Der deutsche Journalist arbeitet für die deutsche Redaktion der NZZ. Zuvor war er Chefredaktor von «Loyal», der Zeitschrift des deutschen Reservistenverbands, 2020 wurde er Leiter Kommunikation und Pressesprecher der deutschen Waffenschmiede Heckler & Koch. Man kann ihn vielleicht als nicht ganz unbelastet bezeichnen.

In diesem Sinn legt er gleich offensiv los: «Die Ukraine braucht dringend weit reichende Präzisionswaffen», weiss Seliger. Da trifft es sich gut, dass «in der deutschen Armee nicht alles schlecht» sei. Zum Beispiel der «hochmoderne Marschflugkörper Taurus», der gehöre «zu den besten Lenkflugkörpern der Welt». Wunderbar, wenn den Hitlers Armee schon gehabt hätte, wäre die Panzerschlacht bei Kursk vielleicht anders ausgegangen.

Aber es gibt natürlich auch heute Wehrkraftzersetzer und Defätisten, die Seliger scharf zurechtweisen muss: «Mitunter mutet die deutsche Verteidigungspolitik grotesk an.» Kein Wehrwille mehr, keine Angriffslust, nix «Germans to the front», keine Rede von «Marschflugkörper müssen fliegen bis zum Sieg». Stattdessen «gerierten sich ganze Kohorten von Politikern und Wissenschaftlern als Panzerexperten» und diskutierten Für und Wider einer Lieferung von Leopard 2. Kein Wunder: «Russlands Präsident Putin dürfte sich damals schlapp gelacht haben

Das mag stimmen, dass Putin darüber lacht, dass in Deutschland doch noch so etwas wie ein Rechtsstaat mit restriktiven Waffenausfuhrgesetzen existiert. Über die sich eine Kriegsgurgel wie der Reserveoffizier Seliger natürlich kaltlächelnd hinwegsetzen würde. Aber während sich Merkel immerhin sichtbar wegguckte, sei Bundeskanzler Scholz «in der Taurus-Frage schlicht nicht präsent». Typisch, haben Sie überhaupt gedient? Antwort: nein, Scholz hat verweigert und Zivildienst geleistet. Aha, Drückeberger.

Es gebe Bedenken, dass die Ukraine solche Distanzwaffen auch auf russischem Gebiet einsetzen könnte? Papperlapapp: «Das Argument, westliche Marschflugkörper würden den Krieg eskalieren, zieht daher nicht. Sie befinden sich bereits im Einsatz.» Aber die sind natürlich nicht so gut wie echte deutsche Wertarbeit: «Der britische Storm Shadow und der französische Scalp sind nur bedingt geeignet, einen Brückenpfeiler zum Einbrechen zu bringen. Taurus aber, so heisst es unter deutschen Militärfachleuten, kann das.» Oder: «wir schaffen das», wie Merkel gesagt hätte.

Also her damit, keine Weichheiten, was muss, das muss: «Eine deutsche Politik, die Sinn für das Wesentliche hat, würde den Taurus deshalb jetzt freigeben.» Aber leider, leider ist es mal wieder so: die deutsche Politik interessiert es einen feuchten Kehricht, was Seliger für den Sinn fürs Wesentliche hält. Glücklicherweise, denn das ist Unsinn. Während es sich beim Taurus offenbar um eine deutsche Präzisionswaffe handelt, ist Seliger ein Unguided Missile.

 

Wumms: Eric Gujer

Gelobt sei der schneidende Ton des NZZ-Chefs.

ZACKBUM mag mit seiner Feriengestaltung nicht ganz einverstanden sein, aber seine wöchentliche Arbeit mit dem Schneidbrenner, genannt «Der andere Blick», ist herausragend.

Im allgemeinen Niedergang der Schreibkräfte und Schreibfähigkeiten ragt Eric Gujer wie ein Leuchtturm heraus, wenn er seine verbalen Blitze schleudert. Besonders schnell auf Betriebstemperatur kommt er, wenn es um die Grünen geht. Natürlich hat er recht, einen opportunistischeren und übleren Haufen in der Politik gibt es weder in Deutschland noch in der Schweiz.

Zunächst säbelt Gujer die Kritiker an der Vetternwirtschaft im Hause Habeck nieder: «Die Empörung über den grünen Klüngel im Wirtschaftsministerium ist im höchsten Mass lächerlich. Nepotismus und Ämterpatronage gehören zur Politik. Seit je werden Günstlinge und Parteigänger in einflussreiche Positionen befördert. Trauzeugen bekleiden auch in anderen Ministerien in Berlin wichtige Posten

Darauf türmt er ein verbales Massaker an den Grünen-Bewunderern: «Sie sehen in ihnen die Garanten eines besseren Deutschland: einsame Kämpfer gegen den Klimawandel, sensibel, gendergerecht und divers, Retter der Flüchtlinge, geleitet von Werten statt von schnöden Interessen.»

Dann zeigt er einen kurzen Moment der Schwäche: «Jetzt müssen die Medien feststellen, dass die Grünen eine ganz normale Partei sind. … Sogar die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» raunt von einer «Entzauberung», als hätten die Grünen jemals einen Zauber besessen.» Nein, die Grünen sind keine ganz normale Partei. Während sich dort die Wändehälse maximal um 180 Grad drehen können, ist das hier – um die grüne Aussenministerin Baerbock zu paraphrasieren, um mindestens 360 Grad möglich.

Aber schnell erreicht Gujer wieder seine normale Flughöhe: «Wer glaubt, dass Parteien ein Zauber innewohnt, sollte zum Arzt gehen.» Welch feine Anspielung auf den Elder Statesman Helmut Schmidt, der alle zum Arzt schicken wollte, die Visionen haben.

Nun legt Gujer das Florett zur Seite und greift zum Zweihänder: «Die Grünen waren noch nie besonders moralisch.» Das könne man den Grünen aber auch nicht unbedingt vorwerfen, denn welche Partei sei das schon. Aber, beim Streit um das verbieten fossiler Heizungen haben die Grünen schlimmer versagt: «Allerdings wäre es die Aufgabe des Ministeriums gewesen, den Widerstand vorherzusehen und Mehrheiten zu suchen – auch um den Preis einer weniger ambitionierten Vorlage. Tragfähige Lösungen zu erarbeiten, um die Welt ein kleines Stückchen besser zu machen, das ist in der Politik Moral.»

Dann geht Gujer zum peinlichen Thema «Atomkraft, nein danke» über: «Ohne den sehr deutschen Spleen des Atomausstiegs würde Deutschland heute deutlich weniger CO2 produzieren. Indem die Grünen den Atomausstieg (unter Mithilfe der Merkel-CDU) unbeirrt durchgesetzt haben, gewichteten sie das Ideal höher als das praktische Ergebnis. Genau das ist in der Politik amoralisch

Das gilt natürlich auch für die Frau mit der schwer erträglichen Stimme: «Ähnlich verhält sich Aussenministerin Baerbock, wenn sie sich als die heilige Annalena von Xinjiang inszeniert. Indem sie die chinesischen Kommunisten möglichst oft und öffentlich über Menschenrechte belehrt, verbessert sie die Lage der Uiguren kein Jota

Nun erlaubt sich Gujer keinen Durchhänger mehr und packt die Todeskralle aus: «Die grüne Vorhut degradiert die Ehe zur «Verantwortungsgemeinschaft», nennt Deutsche «Kartoffeln» und Mütter «gebärende Personen». Das neue Ideal ist der nichtbinäre Mann mit Migrationshintergrund. Massstab der Politik ist nicht das grösste Glück der grössten Zahl, sondern die Befindlichkeit von sich immer weiter ausdifferenzierenden Minderheiten.»

So werden die Grünen «nie Kanzlerpartei», denn stärkste politisch Kraft werde man nicht, «wenn man die Mehrheit der Gesellschaft offen oder auch nur insgeheim verachtet». Volltreffer. «Den Grünen bleibt dann nur die Rolle des ewigen Steigbügelhalters für die SPD oder die Union, da können Baerbock und Habeck noch so lange strampeln

Auch wenn die NZZ bei Fragen der Neutralität oder bezüglich Waffenlieferungen im Ukrainekrieg manchmal schwächest (aber was soll sie machen, ihre ideologische Heimat FDP ist da ganz schwach auf der Brust): Gujer sorgt doch immer wieder für Lesespass.

Und so ganz spontan: welcher andere Journalist der Mainstreammedien, welcher andere Chefredaktor (generisches Maskulin, Frau Birrer, Sie bleiben schon sichtbar) fällt einem da ein?

 

Messerscharfer Blick

Eric Gujer schneidet sich eine Scheibe Deutschland ab.

Der vorletzte CEO der NZZ scheiterte in Österreich. Die Verabschiedung von Veit Dengler war entsprechend kühl: «Verwaltungsrat und CEO der NZZ-Mediengruppe sind zum Schluss gelangt, die Führung des Unternehmens in neue Hände zu legen.»

NZZ.at war ein schmerzhafter Flop, denn die NZZ ist dafür bekannt, selbst in höchster Not ein einmal gestartetes Projekt nicht einfach aufzugeben. Der Österreicher Dengler meinte, nicht nur der von ihm mitbegründeten Partei Neos Schub zu geben, sondern auch eine erfolgreiche Expansion der NZZ lancieren zu können.

Nach seinem Abgang im Jahre 2017 wurde Dengler COO der Bauer Media Group. Abgang dort 2021.

Inzwischen ist der CEO der NZZ wieder der Mann im Hintergrund, und wie zu Zeiten, als es diesen Posten noch gar nicht gab, dominiert der Chefredaktor. Auch der Vorgänger von Eric Gujer agierte nicht gerade erfolgreich. Markus Spillmann war der erste Chefredaktor des Blatts, der seinen Posten nicht freiwillig aufgab.

Seit 2015 sitzt nun Gujer fest im Sattel, als Chef und als Geschäftsführer. Er hat sich die unnahbare Autorität zurückerobert, die noch Hugo Bütler in seinen 21 Jahren auf der Kommandobrücke ausstrahlte. Bütler, über dessen Kürzel bü. sich Niklaus Meienberg selig lustig machte, dass das nicht für Büttel, sondern für Bürgertum stehe, war tatsächlich das Sprachrohr des Bürgertums, für ihn zweifelsfrei in der FDP verortet.

Die Zeiten sind komplizierter geworden, aber da steht Gujer drüber. Er ist so allmächtig, dass selbst die Tätigkeit seiner Frau als NZZ-Redaktorin kein sichtbares Naserümpfen auslöst. Schliesslich schreibt sie als Claudia Schwartz, und natürlich werden ihre Beiträge nicht anders als alle anderen behandelt.

Allerdings kann es dann schon vorkommen, dass einen widerborstigen Mitarbeiter ein strafender Blitz von God Almighty trifft.

Aber neben solchen kleinen menschlichen Schwächen betreibt Gujer eine erfolgreiche Expansion nach Deutschland. Was ja auch logisch ist, 80 Millionen Einwohner statt 8 wie in Österreich. Zudem schwächelt dort das Sprachrohr des Bürgertums FAZ; der deutsche «Tages-Anzeiger» namens «Süddeutsche Zeitung» trieft vor Gesinnungsjournalismus, und die «Welt» konnte sich nie als richtiges Sprachrohr des Bürgertums etablieren. Dann gibt es noch «Die Zeit», aber die schwebt weitgehend über den Dingen.

Gujer erfreut nun regelmässig Deutschland mit seiner Kolumne «Der andere Blick». Sozusagen das Wort zum Wochenende, das früher auf der Front der Samstags-Ausgabe der NZZ stattfand.

Hier ist’s nach Deutschland gerichtet, elegant und schneidend geschrieben. Aktuell gerade:

«Deutschland, Messerland: Wieder müssen Unschuldige wegen einer verantwortungslosen Migrationspolitik sterben».

Das traut sich eigentlich sonst niemand in Deutschland ausserhalb der AfD. Wenn schon, denn schon, sagt sich Gujer und haut weiter drauf: «Schweigen und Ratlosigkeit sind die Antwort der Bundesregierung auf die Verbrechen

Dann zeigt Gujer, was man mit messerscharfer Logik (okay, damit ist der Kalauer erschöpft) argumentativ herausholen kann, in aller Schönheit:

«So weist die «Süddeutsche Zeitung» darauf hin, dass auch Deutsche andere Menschen erstechen. Und sie hält fest: «Das öffentliche Interesse ist bei Straftaten von Geflüchteten oft ungleich grösser als bei Delikten von Deutschen.» Nur die Taten der Ausländer würden in Talkshows erörtert.
Das aber deutet nicht auf Fremdenfeindlichkeit hin, sondern ist völlig natürlich. Messergewalt von Deutschen lässt sich nicht abwenden; Deutsche können nicht aus Deutschland ausgesperrt werden. Tödliche Attacken von Flüchtlingen sind jedoch kein Schicksal. Sie sind die Nebenfolge einer willentlichen Politik. Mit dem Schicksal kann man nicht streiten. Politik hingegen kann man diskutieren und verändern

Natürlich hat Gujer sowohl konkrete wie abstrakte Ratschläge zur Hand: «Hinschauen und Verantwortung übernehmen statt ignorieren und beschönigen. Das wäre ein guter Vorsatz für eine bessere Flüchtlingspolitik

Damit – und mit einer stetig ausgebauten Deutschland-Redaktion in Berlin – setzt Gujer das Alleinstellungsmerkmal der NZZ um. Sie setzt nicht auf Verkaufsplattformen wie das Haus Tamedia, nicht auf Digitalisierung und Wertschöpfungsketten wie Ringier, nicht auf Multichannel wie CH Media, sondern auf Content.

Natürlich wird Gujer deswegen von der Konkurrenz in der Schweiz immer wieder angerempelt. Tamedia, WoZ und «Republik» überbieten sich darin, der NZZ im Allgemeinen und Gujer im Speziellen vorzuwerfen, die wilderten im rechtskonservativen Lager und hätten keine Angst vor mangelnder Abgrenzung von der AfD.

Das lässt Gujer aber zu Recht kalt, weil die NZZ – im Gegensatz zu Tamedia – beispielsweise in der Frage der Waffenlieferung an die Ukraine ein strammer Verteidiger der Rechtsstaatlichkeit ist. Zudem merkte Gujer mal maliziös an, bezüglich journalistische Qualität sei es doch so, dass der Tagi immer mehr Content von der Süddeutschen aus Deutschland übernehme und seinen Schweizer Lesern serviere, dabei das eigene Korrespondentennetz zerreisse. Während die NZZ ihre Mannschaft in Deutschland stetig verstärkt.

Gujer ist gut vernetzt und hat einen gewissen Hang, sich nachrichtendienstliche Erkenntnisse zu eigen zu machen. Als Auslandkorrespondent unter anderem in der DDR, in Russland und in Israel gewann er deutliche rechtskonservative Erkenntnisse.

Sein grosser Vorteil ist aber zweifellos, dass die NZZ immer mehr ein Leuchtturm wird, weil die Konkurrenz ihr Heil im Skelettieren und Zu-Tode-Sparen der Redaktionen sieht. Auch wenn die NZZ ihr Korrespondentennetz lockerer geknüpft hat als auch schon, enthält meistens jede Tagesausgabe mehr Denkstoff als eine Wochenladung der Konkurrenz, wo dünn analysierte News und geistig bescheidene Meinungen immer mehr um sich greifen.

Natürlich kann und muss man auch die NZZ kritisieren. Aber mit Vorsicht, denn wenn auch dieses Blatt noch flach wird, dann wird es langsam echt schwierig, sich im deutschen Sprachraum qualitativ hochstehend zu informieren.

Packungsbeilage: Autor René Zeyer war einige Jahre Auslandkorrespondent der NZZ und publizierte früher regelmässig dort, als es noch eine Medienseite gab.

Lob, wem Lob gebührt

Wenn Eric Gujer zum «anderen Blick» ansetzt, entsteht grosses Kino.

«Hilfe, die Welt geht unter!» So betitelt Eric Gujer seinen Tour d’horizont, den er pünktlich jeden Freitag abläuft. In erster Linie ans deutsche Publikum der NZZ gerichtet, aber stilbildend auch in der Schweiz.

Untadeliger Aufbau, gescheiter Inhalt, elegant formuliert. Trotz fast 10’000 A in der gekürzten Version: das ist ein Leitartikel, der Nostalgie auslöst. Es geht nicht um die Bewertung der Position, um die Frage richtig oder falsch.

Es geht darum, dass sich an diesem Leitartikel die Fallhöhe abmessen lässt, die inzwischen unter der NZZ klafft. Viele versuchen sich in der Schweiz an staatstragenden Tönen, möchten so souverän und als Elder Statesmen wie weiland Helmut Schmidt formulieren. Verwenden Fundstücke vom NZZ-Jargon der abgedämpften und vornehmen Zurückhaltung.

Aber können’s halt nicht. Gujer kann’s.

«Die nunmehr seit zwei Jahren andauernde Selbstermächtigung der Bürokratie wird begleitet von Panikmache in Politik und Medien.»

«Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder orakelt düster, Corona sei die «grösste Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg». Wo sich Politiker im totalen Krieg wähnen, handeln sie entsprechend.»

«In diesem Kreislauf von Reiz und Reaktion fällt die Politik Entscheidungen, die nicht zwangsläufig besser sind als Bodenmarkierungen im Supermarkt.»

«Zu gutem Krisenmanagement gehört, sich auf alle Wechselfälle einzurichten. Aber Eventualitäten sind noch keine Tatsachen. Diese Erkenntnis scheint während der Seuche verloren gegangen zu sein.»

«Der Krankheitserreger zeigt sich erfinderischer als der Mensch. Für den Homo sapiens ist das eine existenzielle Demütigung.»

«Nirgends wird das utopische Element der Pandemiepolitik deutlicher als in den Extremformen des Diskurses, bei radikalen Massnahmen-Befürwortern und Corona-Leugnern.»

«Die Hohepriester der Hysterie machen sich das Verlangen nach Kontrolle zunutze, indem sie noch mehr Anstrengung, noch mehr Restriktionen fordern.»

«Vor der Aufklärung fühlte sich der Mensch selbstverständlich in Gottes Hand. Im säkularen 21. Jahrhundert ist diese Geborgenheit dahin. Es wäre nicht falsch, wenn wir wenigstens eine Schwundform des alten Gottvertrauens behielten: Demut und Bescheidenheit in dem Wissen, dass der Mensch eben doch nicht der Meister des Universums ist; und Skepsis gegenüber einem Machbarkeitswahn, der für alle Übel eine schnelle Lösung verspricht.»

Das zu lesen bedeutet, in elegant formulierter Vernunft baden. Bevor wir wieder versuchen, im ansteigenden Meer der Dummheit den Mund über Wasser zu halten.

Wo einer recht hat, hat er Recht

Selten, aber möglich: Der Chefredaktor der NZZ spricht wahre Worte.

Es gibt noch verschiedene Strategien im Medienzirkus. Während Tamedia von Deutschland das Korrespondentennetz für die Auslandberichterstattung übernimmt, expandiert die NZZ nach Deutschland.

In Österreich zog die alte Tante zwar einen Stiefel voll raus, trennte sich dann immerhin von ihrem österreichischen CEO, der das Schlamassel mit nzz.at angerichtet hatte. Deutschland ist nun Chefsache von Eric Gujer.

Der scheint mit seiner Strategie Erfolg zu haben; die NZZ wird in Deutschland als valable Alternative zur FAZ wahrgenommen, man schätzt auch den weniger kreischigen, schweizerisch zurückhaltenden Ton.

Zudem beschallt Gujer einmal in der Woche vornehmlich sein deutsches Publikum mit dem «anderen Blick». Am liebsten vergleicht er die Schweiz und Deutschland – natürlich eindeutig mit Vorteil Schweiz.

Locker im Gelenk formuliert Gujer:

«Auch in der akuten Infektionswelle findet daher wieder ein grosser Feldversuch statt, wer besser abschneidet: das Team Etatismus oder das Team Liberalismus.»

Angetreten seien die beiden Mannschaften im Kampf um die Impfpflicht. Gleich die rote Karte kassiert Bayerns Ministerpräsident: «Dass jemand seine Rolle als gestrenger Pandemie-Vogt so lustvoll zelebriert wie der bayrische Chefpopulist Markus Söder, wäre unter Eidgenossen undenkbar. Die einen lieben eben ihre Obrigkeit, die anderen nicht

Dann wird Gujer kurz grundsätzlich: «Wenn die Parteien in Berlin jetzt über weitere Restriktionen bis hin zur Impfpflicht diskutieren, sollten sie ausnahmsweise die Kosten-Nutzen-Relation bedenken. Zu oft ist der Staat der Versuchung erlegen, mit Freiheitsbeschränkungen Handlungsfähigkeit zu suggerieren, obwohl die Wirkung überschaubar blieb.»

Dann ruht Gujers Blick wohlwollend auf seiner Heimat, der er aber gleichwohl einen väterlichen Ratschlag auf den Weg gibt: «Aus Schweizer Perspektive gilt, dass auch in der gegenwärtigen Welle der deutsche Weg kein Vorbild sein kann. Panikmache und Hysterie sind das falsche Rezept.»

Man muss zugeben: einen so staatstragenden Ton kriegt seit Helmut Schmidt selig keiner mehr hin.