Welche Lehren zog der «Spiegel» aus Relotius?
Mal genau genommen: Wie akkurat sind heute Faktenangaben?
Der «Spiegel» und die USA, das ist ein schwieriges Thema. Das Blatt hatte bei seiner Geburt 1947 amerikanische Zeitschriften als Vorbild. Wie er ist, und wie er schreibt, lässt sich nur verstehen, wenn man auch die US-Pendants liest.
Und dann kam Relotius. Der «Spiegel» versuchte gar nicht, den Fälscher-Skandal zu verniedlichen. Eine unglaubliche Kette an missbrauchtem Vertrauen, schludriger Kontrolle und überheblicher Arroganz haben zum Entstehen von Relotius geführt, diesem angeblich so bezirzend schreibendem Reporter.
Auch Guido Mingels ist ein hervorragender Schreiber – aus dem luzernischen Dagmersellen. Nicht im entferntesten soll eine Analogie zwischen Relotius und Mingels geschaffen werden. Nur die Unvereinbarkeit zwischen Pointe und Fakten soll aufgezeigt werden.
Und zwar geht es um Mingels Text «Wenn die Ölmänner gehen». Im Zentrum steht das Städtchen Carlsbad in New Mexiko. Die Einwohner, so Mingels, leiden unter dem niedrigen Ölpreis. Firmen gehen Pleite, weil sich die Fracking-Methode unter einem gewissen Ölpreis nicht mehr lohnt. Es ist eine alte Geschichte. Amerikas Ölindustrie erlebt das immer wieder. Steigt der Preis wieder, gehen die Firmen wieder an den Start.
Kurzer Abschnitt mit Fragezeichen
In schöner Spiegeltradition wird die Geschichte an einem Individuum aufgezogen. Und zwar um Freeman. Ein wirklich kurzer Abschnitt soll nun zeigen, dass der «Spiegel» nicht die entscheidende Lehre aus dem Relotius-Skandal gezogen hat. Dass es nicht nur um die Person geht, sondern um einen Schreibstil, der nicht mehr zeitgemäss ist.
Hier ist unser Abschnitt:
«Nichts ist los hier», sagt Freeman, der nie in die Innenstadt geht. Bars gibt es wenige, dafür 58 Kirchen für die verbleibenden 30 000 Bewohner. Offenbar braucht man viel Beistand von oben, um es in dem Ort auszuhalten.
58 Kirchen. So viele soll es in Carlsbad geben. Die Information stammt vermutlich von der Website churchfinder.com, die 58 Kirchen auflistet. Seit heute sind es 59 (siehe Screenshot). Wir haben nämlich die Kirche Zackbum eingetragen. Bei unserer Methodisten-Kirche handelt es sich um ein geistliches Abklingbecken für Abtrünnige. Dass es wahrscheinlich noch andere Jux- oder nicht existierende Kirchen innerhalb der 58 Gotteshäusern Carlsbads gibt, ist nicht auszuschliessen. Wir hoffen, dass Mingels entweder alle 58 Kirchen akribisch abklapperte oder diese Mühe dem vielbeschworenen Doku-Team überreichte.
Die andere Frage ist drängender. Mingels schreibt, dass es in Carlsbad «wenige Bars» gäbe. Mit dem bösen Nebensatz: «Dafür 58 Kirchen …» wird dem Leser das Bild vermittelt, dass es mehr Kirchen als Bars in Carlsbad gäbe. Nur, stimmt das? Gibt es tatsächlich «wenige» Bars dort? Tripadvisor weist aktuell 70 Bars, Restaurants und Schnellimbissen in Carlsbad auf.
Und wenn man streng nach Anzahl Bars geht: In Dagmersellen gibt es drei Kirchen – und nur zwei Bars (die Härzbluet Bar und das Appaloosa Pub). Zum Glück gilt auch in Dagmersellen: Das Dorf befindet sich im Aufwärtstrend, trotz Kirchenübermacht und Bar-Misere.
Und wenn Mingels schreibt: «für die verbleibenden rund 30‘000 Bewohner» vermittelt er dem Leser das Bild eines trostlosen Städtchens, dass von den Einwohnern verlassen wird. Gemäss United States Census Bureau lebten in der Stadt allerdings seit der Zählung noch nie so viele Einwohner wie 2019 , nämlich exakt 29810.
Und wie sehr trifft die Zusage wohl zu: «sagt Freeman, der nie in die Innenstadt geht»? Wirklich, «nie»? Oder, vielleicht doch «selten», «fast nie», «manchmal»?
Diese Anhäufung von Unstimmigkeiten, aber auch Fehlern, vermiesen mir immer mehr die Lektüre meines Lieblingsmagazins, des «Spiegels». Die Pointe stimmt im Leben nur in Ausnahmefällen; deswegen sollte sie seltener gezogen werden.
Mingels nahm zu den Vorwürfen keine Stellung.