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Was ist Qualitätsjournalismus?

Auch in ZACKBUM steckt ein Lehrer.

Dürfen wir darauf hinweisen, dass Redaktor René Zeyer das Diplom für das Höhere Lehramt hat und – im Gegensatz zu Chefredaktorinnen – auch schon an Gymnasien unterrichtete.

So viel Selbstbespieglung muss sein, denn wir wollen heute auch mal oberlehrerhaft dozieren. Also, liebe Schüler, Handys weggelegt und aufgepasst.

Eigentlich sind seine Voraussetzungen banal. Qualitätsjournalismus beinhaltet, dass der Leser (oder Hörer oder Zuschauer) darauf vertrauen kann, dass das ihm Dargebotene ein möglichst korrektes Abbild eines Wirklichkeitsausschnitts ist. Oder einfach ausgedrückt: das Gegenteil von dem, was Claas Relotius oder Tom Kummer betreiben.

Wenn die beschriebene Wand grau ist und bröckelt, wenn das Gegenüber einen Satz gesagt hat, dann muss der Empfänger der Nachricht darauf vertrauen können, dass es so ist. Denn er war ja nicht dabei. Kann er das nicht, ist’s Fiktion, aber das ist eine ganz andere Baustelle.

Die im Ernstfall überprüfbare Faktizität ist das Fundament von Qualitätsjournalismus. Nun besteht die Wirklichkeit nicht nur aus einer Wand und einem Satz. Also ist die Auswahl und die Gewichtung des Beschriebenen der nächste Eckstein des Gebäudes. Man kann jede Situation, jedes Gespräch, jede Wirklichkeit so zurechtschnitzen, dass sie dem Vorurteil des Beschreibers entspricht. Damit bestätigt er zwar seine eigene (und auch die seiner Empfänger) Weltsicht, zur Erklärung oder zum Verständnis der Welt hat er damit aber nicht wirklich beigetragen.

Der dritte Eckstein ist der intellektuell anspruchsvollste. Hier geht es um die Analyse, um die Verarbeitung der Wirklichkeit. Dazu gibt es ein grossartiges Gedicht von Bertolt (der mit t, liebe Tamedia-Kulturredaktion) Brecht, «Der Zweifler»:

Immer wenn uns
Die Antwort auf eine Frage gefunden schien
Löste einer von uns an der Wand die Schnur der alten
Aufgerollten chinesischen Leinwand, so daß sie herabfiele und
Sichtbar wurde der Mann auf der Bank, der
So sehr zweifelte.

Ich, sagte er uns
Bin der Zweifler, ich zweifle, ob
Die Arbeit gelungen ist, die eure Tage verschlungen hat.
Ob, was ihr gesagt, auch schlechter gesagt, noch für einige Wert hätte.
Ob ihr es aber gut gesagt und euch nicht etwa
Auf die Wahrheit verlassen habt dessen, was ihr gesagt habt.
Ob es nicht vieldeutig ist, für jeden möglichen Irrtum
Tragt ihr die Schuld. Es kann auch eindeutig sein
Und den Widerspruch aus den Dingen entfernen; ist es zu eindeutig?
Dann ist es unbrauchbar, was ihr sagt. Euer Ding ist dann leblos.
Seid ihr wirklich im Fluß des Geschehens? Einverstanden mit
Allem, was wird? Werdet ihr noch? Wer seid ihr? Zu wem
Sprecht ihr? Wem nützt es, was ihr da sagt? Und nebenbei:
Läßt es auch nüchtern? Ist es am Morgen zu lesen?
Ist es auch angeknüpft an vorhandenes? Sind die Sätze, die
Vor euch gesagt sind, benutzt, wenigstens widerlegt? Ist alles belegbar?
Durch Erfahrung? Durch welche? Aber vor allem
Immer wieder vor allem anderen: Wie handelt man
Wenn man euch glaubt, was ihr sagt? Vor allem: Wie handelt man?

Nachdenklich betrachteten wir mit Neugier den zweifelnden
Blauen Mann auf der Leinwand, sahen uns an und
Begannen von vorne.

Schliesslich, damit wären die Eckpunkte aufgezählt, gehört zum Qualitätsjournalismus auch obligatorisch «et audiatur et altera pars». Oder für die Nichtlateiner unter den Kindersoldaten des Journalismus: man höre auch die andere Seite. Feste und vermeintlich richtige Positionen müssen es aushalten, dass ihnen kräftig widersprochen wird.

Ein kräftiges Trump-Bashing macht im Qualitätsjournalismus nur Sinn, wenn es durch eine Würdigung konterkariert wird. Die Beschreibung von Putin als unverstandenen, friedfertigen Staatsmann ist nur dann vollständig, wenn es durch die Aufzählung seiner kapitalen Fehleinschätzungen und verbrecherischen Handlungen ergänzt wird.

Der Tod jedes Qualitätsjournalismus ist aber die Färbung. Die Einfärbung. Das Framing. Die Reduktion der Wirklichkeit auf immer wiederholte Schlagwörter. Der Ersatz der Komplexität und Widersprüchlichkeit der Realität durch binäre Systeme. Ja, nein, gut, böse, schlecht, richtig, falsch. Eigentlich sollten die Journalisten es besser wissen. Ein Mensch ist nicht nur schlecht und böse. Auch nicht gut und weise. Er handelt nicht nur und ausschliesslich aus niederen oder edlen Motiven.

Eigentlich, liebe Schüler – alle noch da und wach – ist das doch gar nicht so schwierig.

So, und als Hausaufgabe bekommt ihr die einfache Frage mit auf den Weg: welche Medienorgane erfüllen diese Kriterien? Bitte eine Liste, und es wird dann abgefragt.

Bibbern mit Biden

Früher gab es Journalismus über den Tag hinaus.

Heutzutage bringt jeder neue Tag eine neue Meinung der Journaille. Brutal exekutiert sie das auf zwei aktuellen Themengebieten.

Das eine ist der Ukrainekrieg. Gurgeln wie der unsägliche Georg Häsler. Der rasselt mit einem völlig veralteten Begriff von Kriegsführung durch die Spalten der NZZ. Beschimpft das Festhalten an der Neutralität und glasklaren Rüstungsexportgesetzen als Ausdruck davon, ein «unzuverlässiger Partner» zu sein, gibt widersinnige militärische Ratschläge und hofft und prognostiziert ständig die Niederlage Russlands.

Wie andere Kriegskreischen auch. Ein mit Steuergeldern finanzierter ETH-Militärschwätzer prognostizierte schon den Zeitpunkt der russischen Niederlage. Im November. Allerdings 2022.

Dass man mit einer Prognose mal danebenliegen kann, das ist okay. Wenn man aber ständig ins Gebüsch fährt, dann wieder auftaucht, das Gegenteil verzapft und so tut, als ginge einen das dumme eigene Geschwätz von gestern nichts an – das ist nicht vertrauensbildend beim Publikum.

Das hat zwar ein Kurzzeitgedächtnis, aber für blöd verkaufen lässt es sich dann doch nicht. Obwohl es das vielleicht nicht punktgenau festmachen kann, fällt dem Medienkonsumenten doch auf, dass die Prognose- und Analysefähigkeit der grossartigen Korrespondenten und Koryphäen in den Massenmedien sehr überschaubar geworden ist. Wie es gerade wieder bei der Berichtserstattung über die französischen Wahlen offenkundig wurde.

Aber noch frappanter ist dieses haltlose Benehmen bei den US-Präsidentschaftswahlen. Der Grundkonsens ist auch hier völlig klar: Himmelswillen, Donald Trump darf auf keinen Fall nochmals Präsident werden. Dass rund die Hälfte der US-Stimmbürger anderer Ansicht zu sein scheint, das ist unfassbar für diese Journaille. Nach wie vor konzentriert sie sich auf die Ansichten von Eierköpfen von New York bis Boston, mit gelegentlichen Abstechern nach San Francisco und Los Angeles. Dass der entscheidende Teil der USA dazwischen liegt, das sind halt die Fly-over-Bundesstaaten, bewohnt von hinterwäldlerischen Waffen- und Religionsfanatikern, die doch schon Claas Relotius so punktgenau beschrieb.

Aber wie auch immer, damit Trump nicht gewinnt, muss ja sein Gegenkandidat gewinnen. Und da hat die Journaille nun ein grobes Problem. Denn der Amokgreis bringt immerhin seine One-Liner und Lügen stammelfrei über die Lippen, wirkt unter seiner lachhaften Frisur und seiner orangen Schminke entschieden vitaler als sein Gegenpart, der senile Greis Joe Biden.

Der ist noch knapp in der Lage, eine Rede ohne zu stolpern vom Teleprompter abzulesen, wie aufatmend und lobend erwähnt wird. Aber wenn seine Performance beim TV-Duell seiner normalen geistigen Aufnahmefähigkeit entspricht, ist er dann geeignet, das wichtigste und mächtigste Amt der Welt auszuüben? Noch weitere vier Jahre?

Da bricht nun Heulen und Zähneklappern aus. Am lautesten heult und klappert mal wieder Christof Münger von Tamedia. Der Auslandchef ohne Ausland und ohne Verstand, lobhudelte noch vor Kurzem Biden als einzige und notwenige Lichtgestalt in den Himmel, die eine Wahl Trumps verhindern könne, und legte dessen Wahl dem US-Stimmbürger dringlich ans Herz. Ob der das vernommen hat, ist allerdings zweifelhaft.

Aber inzwischen fordert Münger bereits ultimativ den Ersatz von Biden, der Mann muss weg, damit ein frischer Kandidat das Schlimmste, also Trump, verhindern kann. Damit ist Münger natürlich nicht alleine. In den Tagen nach dem desaströsen TV-Duell nahm die Journaille seismographisch jedes Zittern innerhalb der demokratischen Partei wahr und auf. Mögliche Ersatzkandidaten wurden genannt und abgeklopft auf ihre Tauglichkeit. Von einzelnen Forderungen nach Rücktritt Bidens schwollen laut ihnen die Stimmen der «Biden muss weg»-Politiker zum Chor an.

Aber nun das. Kaum hat der senile Greis eine Rede ohne Katastrophe zu Ende gebracht, machen sie nochmals auf dem Absatz kehrt. Lobhudeln einen «kämpferischen Biden», Tamedia findet unterhalb von Taylor Swift und Fussball-EM sogar noch Platz für ein «Biden hält kämpferische Rede». Nur der «Blick» hat das (noch) nicht mitbekommen und stellt lieber die Frage: «Wie heiss wäschst du deine Wäsche?» Hat der Journalist zu heiss gebadet, fragt man sich.

Bibbern mit Biden. Der Mann muss weg. Der Mann muss bleiben. Russland muss verlieren. Trump auch. Die Rechten sowieso. Entwicklungshilfe ist gut, die SVP (meistens) schlecht. Der Klimawandel schlägt fürchterlich zu, alternative Energien sind die Lösung. Es wird auch und gerade in der Schweiz diskriminiert, ausgegrenzt, wenn es vielleicht keine Rape Culture gibt, dann aber sexualisierte Gewalt aller Orten.

Nur wer sprachsensibel alle Vergewaltigungen und Verhunzungen der deutschen Sprache mitmacht, ist ein guter Mensch.

So etwa lautet das Weltbild, das Selbstverständnis und der missionarische Auftrag einer überwältigenden Mehrheit von Gutjournlisten, die der Welt mit ihrem leuchtenden Beispiel ein Zeichen setzen wollen. Ach, auch gegen unnötige Flugreisen, wohlgemerkt. Ausser, es geht um die eigenen Ferien auf den Malediven.

Ein solch verpeiltes, verlogenes Pack schreibt seinen eigenen Untergang herbei und gibt allen und allem die Schuld daran. Nur nicht sich selbst. Nicht zu fassen, aber wahr.

 

Unter einem schlechten Stern

Eine unfassbare Preisverleihung.

Es fängt mit der verqueren Namensgebung an. Früher hiess er Henri-Nannen-Preis. Denn diesem Journalisten und Berserker ist es zu verdanken, dass es den «Stern» überhaupt gibt und er – früher mal – erfolgreich war, auf Augenhöhe mit dem «Spiegel». Das ist das Wochenmagazin vielleicht heute noch, aber nur, weil beide Blätter auf dem Weg nach unten sind.

Seit ein paar Jahren heisst das «Stern-Preis», weil es dunkle, braune Flecken in der Vergangenheit von Henri Nannen zu entdecken gab. Was an seiner Lebensleistung «Stern» nicht das Geringste ändert. Aber item.

«Eine der bedeutendsten Auszeichnungen für deutschsprachigen Journalismus» wurde wieder einmal vergeben. In verschiedenen Kategorien, die Krönung ist jeweils «die Geschichte des Jahres».

Worum geht es da? Die Ansprüche steigen in die Stratosphäre:

«Diese Kategorie kürt die journalistische Glanztat der vergangenen zwölf Monate. Eine Geschichte, der es mit großer Eindringlichkeit oder Unmittelbarkeit gelungen ist, das Publikum über alle Grenzen von Alter und Weltanschauung hinweg in ihren Bann zu ziehen. Die nachhaltige Resonanz erzeugt hat. Die Maßstäbe setzt für die ungebrochene Kraft von großem Journalismus.»

And the winner is – Claas Relotius. Nein, kleiner Scherz, dieses Mal nicht. Aber was hier preisgekrönt wurde, ist fast genauso schlimm. Nämlich eine Story der «Süddeutschen Zeitung», die Hubert Aiwanger, dem stellvertretenden bayerischen Ministerpräsidenten, unterstellte, er habe mit 17 Jahren eine Hetzschrift über das «Vergnügungsviertel Auschwitz» geschrieben.

Schon alleine dieser Vorwurf weit in die Vergangenheit hat ein Geschmäckle. Es gab aber eine Unzahl gravierender Probleme mit dem Pamphlet. Es erschien in eindeutiger Absicht kurz vor den Landtagswahlen, um Aiwanger und seine «freien Wähler» zu diskreditieren. Was im Übrigen nicht gelang, sie fuhren einen triumphalen Wahlsieg ein.

Nachdem der Fälscher und Erfinder Relotius nicht weniger als 19 deutsche Journalistenpreise eingeheimst hatte, schlug sogar der damalige «Stern»-Chefredaktor ein Moratorium vor, also eine Pause in der Preisverleihung. Aber doch nicht in der selbstverliebten Medienbranche.

Nun also dieser Preis für ein Machwerk, das alles Abschreckende beinhaltet, was den modernen Journalismus schwer erträglich macht. Er wurde moralinsauer mit vorgefasster Meinung und unverhohlener Absicht der Denunziation zwecks Demontage geschrieben. Er stützte sich ausschliesslich auf anonyme Quellen. Er enthielt keinen einzigen stichhaltigen Beleg für diese Behauptung. Dass sich Aiwangers Bruder als Autor des damaligen widerlichen Flugblatts zu erkennen gab, interessierte die SZ nicht.

Wenn man den Preis nach Demagogie-Gehalt verleihen würde, machte der erste Platz Sinn. Der wegzuschreibende Politiker wird so dargestellt: «Hubert Aiwanger reißt das Mikro aus der Halterung, wie ein Rockstar. Er krempelt die Ärmel hoch, wie ein Metzger, der gleich die Sau zerlegt. Er wird schwitzen, eine Stunde lang, wie ein Heizungsbauer, der natürlich keine Wärmepumpe installiert, sondern den neuen Ölkessel.»

Die Recherche: «Es gibt aber nicht wenige, die reden. Man kann das nicht alles wiedergeben, nicht alles überprüfen, jeder hat seine eigenen Erinnerungen. Und aus all den Erinnerungen ergibt sich ein Bild, das Hubert Aiwanger als einen jungen Mann zeigt, der mindestens eine Faszination haben soll für Hitler, für das „Dritte Reich“.»

Die Absicht: «Aber jetzt, kann Söder einfach so weitermachen? Mit einem Vize, den frühere Schüler und Lehrer als Nazi-Bewunderer beschreiben».

Der Konjunktiv-Journalismus: «Diese Zeilen in dem Flugblatt, zynisch, menschenverachtend, man hat so was noch nicht gelesen von einem Regierungsmitglied in Bayern, in der Bundesrepublik. Es wäre ungeheuerlich

Knapp 21’000 Anschläge üble Laune, Hetze, Hass und böse Absicht. Das soll preiswürdig sein?

Die SZ räumte zwar im Nachhinein ein paar kleine Fehler und einen falschen Zeitpunkt der Veröffentlichung ein. Aber der SZ-Chefredaktor entblödete sich nicht, folgenden tödlichen Satz zu äussern: «Auf die Urheberschaft kommt es nicht mehr an, der Rest ist schon schrecklich genug.» Mit anderen Worten: unsere Verleumdung hat doch recht getan, selbst wenn sie falsch ist. Das ist das Ende von seriösem Journalismus.

Dazu passt die Plagiatsaffäre im eigenen Haus, inklusive mehr als peinlicher Spionage der Chefredaktion der SZ gegen die eigenen Mitarbeiter. Dennoch jubiliert der «Stern» über seine Glanztat in seinen eigenen Spalten. Beim – natürlich rein vegetarischen – Festessen («welch ein Abend!») lässt sich der «Stern»-Chefredaktor gleich dreimal fotografisch verewigen. Da hatte es dann für Fotos der Preisträger in dieser Bildstrecke keinen Platz mehr.

Der deutsche Blogger Stefan NiggemeierÜbermedien») fragte beim «Stern» nach, welche Begründung es denn seitens der Jury für diese Preisverleihung gebe. Antwort: keine Antwort.

Aber etwas Gutes hat diese peinliche Affäre. In ihr ist wirklich alles drin, was die Konsumenten moderner Medien scharenweise in die Flucht treibt. Eine unreflektierte, beratungs- und lernresistente Journaille feiert trotzig sich selbst und ihren Gesinnungsjournalismus. Wenn der in einem Paralleluniversum stattfindet, belegfrei denunziert und nur unter Zwang kleine Fehler einräumt, dann ist das für diese Verblendeten Ausdruck edler Beharrlichkeit.

Damit bedient man vielleicht die eigene Blase. Da die aber immer kleiner wird – trotz ständigen Anstrengungen –, geht die Auflage in den Keller, mitsamt der Bedeutung. Eigentlich ist es gut, dass der Preis nicht mehr den Namen Henri Nannens trägt. Denn das hätte der Mann wirklich nicht verdient.

Relotius Reloaded

Beim Fall Fabian Wolff führten die gleichen Mechanismen zum Desaster.

Die Geschichte in Kurz: Der Feuilletonist und gern gesehene Gast bei «Zeit», «Süddeutsche», «Tagesspiegel» oder «Spiegel» Fabian Wolff ist nicht der, für den er sich ausgab. Nämlich als Jude.

Das ist in Deutschland bis heute ein ganz heikles Gebiet. Vor allem, da Wolff sich unter Berufung auf sein Judentum als israelkritischer («Apartheitsystem») und den Aktivitäten der antiisraelischen BDS-Kampagne sympathisierend gegenüberstehender Jude ausgab. Wer ihn dafür kritisierte, war natürlich «rassistisch» oder «rechts».

Er selbst als Jude könne dagegen per Definition kein Antisemit sein. So seine Erzählung. Bis er selbst einräumte, dass er kein Jude sei; eine beiläufige Bemerkung seiner Mutter habe ihn mit 18 annehmen lassen, einer jüdischen Familie zu entstammen.

Nun wird’s nochmal sehr deutsch: dieses Eingeständnis darf er in einem 70’000 Anschläge langen Text in der «Zeit» machen. Wobei Eingeständnis fast übertrieben ist, es ist ein sich windendes Geschwurbel.

Daraufhin wird’s richtig deutsch. Alle Redaktionen, die auf seine Verkleidung als Kostüm-Jude reingefallen sind, winden sich nun auch. Wie mit seinen in den letzten zehn Jahren veröffentlichten Texten umgehen? Wie mit Wolff umgehen? Ist da zuhanden der Leserschaft eine Entschuldigung fällig? Wenn schon nicht vom Hochstapler selbst, dann von den Redaktionen, die es mal wieder an Hintergrund- und Faktencheck missen liessen?

Oder ist das ein unfairer Vorwurf? Nein, denn eine ehemalige Lebensgefährtin von Wolff war schon vor Jahren auf Ungereimtheiten und Widersprüche in seinen biographischen Angaben gestossen. Nach dem Ende der Beziehung wandte sie sich an diverse Journalisten und Redaktionen. Ohne Reaktion.

Nun tun natürlich alle Verantwortlichen in den Medienhäusern so, als hätten sie nichts davon gewusst, als seien sie wenn schon selbst Opfer, keinesfalls verantwortlich für diesen neuerlichen Skandal. Aber die NZZ schreibt dagegen ganz richtig: «Die Medien wurden nicht getäuscht, sondern haben sich täuschen lassen.» Nur ein in dieser Beziehung unbelastetes Schweizer Organ kann dann den Finger auf die Wunde legen:

«Das grosse Vertrauen und die Nibelungentreue deutscher Medien zum Autor Wolff erklärt sich auch dadurch, dass er mit seinen Gedanken und Texten letztlich antijüdische Ressentiments bedient hat, die in Teilen des deutschen Bürgertums weit verbreitet sind

Womit wir bei der Parallele zum Fall Relotius angelangt wären. Auch dieser Schwindler und Fälscher bediente mit seinen erfundenen Reportagen Klischees und Vorurteile der «Spiegel»-Verantwortlichen. Die hatten sich zum Beispiel ernsthaft vorgenommen, den damaligen US-Präsidenten Trump «wegzuschreiben». Sie sahen in seiner Wahl das «Ende der Welt», zumindest, «wie wir sie kennen». Sie waren fassungslos, dass all ihre angeblichen Kenner und Könner den Wahlsieg Trumps nicht vorhergesagt hatten.

Daher glaubten sie Relotius unbesehen jedes Wort, wenn der sich in die US-Pampa aufmachte, um dort die dumpfen Amis aufzuspüren, die diesen Idioten zum Präsidenten gemacht hatten. Wirklich erholt hat sich der «Spiegel» von diesem Skandal bis heute nicht. Seine kreischige #metoo-Berichterstattung, in der er einer Journalistin die Plattform für einen Rachefeldzug bietet, Prominente reihenweise in die Pfanne haut, trägt auch nicht dazu bei, sein Renommee zu retten.

Nun sind aber auch die ehrwürdige «Zeit» (die sich im Schweizer Split allerdings auch im Roshani-Skandal instrumentalisieren liess), die SZ, der «Tagesspiegel» beteiligt an diesem neuerlichen Skandal.

Relotius hat nicht seine eigene Identität erfunden, sondern einfach Quellen und Zitate und Begebenheiten. Das hat Wolff nicht getan, dafür streifte er sich eine Identität über, die erlogen ist. Beide haben aber Ressentiments der sie betreuenden Redaktionen (und deren Leserschaft) bedient. Ob man es in Deutschland wirklich liebe, «Israel zu hassen», das ist vielleicht eine zu dramatische Schlussfolgerung der NZZ.

Dass es ein deutsches Problem sei, das trifft solange nicht zu, als ein Tom Kummer in der Schweiz weiterhin sein Unwesen treiben darf. Hier handelt es sich um die Marotte eines Chefredaktors, in Deutschland geht das Problem tatsächlich tiefer.

Denn dass eine Redaktion keinen in die Intimsphäre eingreifenden Faktencheck über die jüdische Herkunft eines Autors macht, ist noch verständlich, obwohl Wolff nicht der erste Fall eines solchen Betrugs in Deutschland ist. Dass aber deutliche Indizien, ein ganzes Dossier der ehemaligen Lebensgefährtin keine Beachtung fand, sondern wohl als Rache einer verschmähten Geliebten abgetan wurde, das ist bedenklich.

Einerseits veröffentlicht der «Spiegel» Behauptungen einer rachsüchtigen, gefeuerten Schweizer Redaktorin, die sich bei genauerer Betrachtung fast vollständig als nicht haltbar herausstellen. Andererseits ignorieren diverse Redaktionen in Deutschland ein ihnen vorliegendes Dossier mit belegten Anschuldigungen. Was ist der Unterschied? Das eine entspricht dem Narrativ von #metoo, das andere widerspricht diesem Framing. Obwohl in beiden Fällen eine Frau einen Mann anschuldigt.

Ungeprüft oder nicht überprüft, zweifaches Versagen.

 

Die Plattmacherin

Alles nur geträumt? Eine Archäologie am Berg.

Sibylle Berg hat ein bedeutendes Oeuvre geschaffen. Immer getragen von finsterer Weltsicht und artistisch dekorierter Depression.

Ob sie ihre eigene Biographie aufgehübscht, fiktionalisiert oder schlichtweg erfunden hat, ist eine lässliche Sünde. Wenn Journalisten ihr das alles abgenommen haben, ohne auf Widersprüchlichkeiten oder mangelnde Belege aufmerksam zu werden, wohlan. Lucien Scherrer von der NZZ hat die verdienstvolle Knochenarbeit geleistet, nachzugrübeln – um zum Ergebnis zu kommen, dass für vieles, für allzu vieles jeglicher Beleg fehlt; vom schweren Unfall über den Selbstmord der Mutter bis zur Dissidenz in der DDR.

Selbst über Geburtsdatum oder den Ort, wo Berg aufgewachsen sein will, gibt es verschiedene Angaben – von ihr selbst. Daher ist es absurd, sie damit verteidigen zu wollen, dass ihre Biographie privat sei und niemanden etwas angehe. Dahinter versteckt sie sich selbst, lässt das ihren Anwalt sagen – und nur rudimentär gebildete Journalistinnen wie Alexandra Kedves versuchen, das mit untauglichen Beispielen zu verteidigen: «Bezüglich ihres Privatlebens darf sie sich bedeckt halten, so wie das eine Menge Autorinnen und Autoren vor ihr taten.»

Kedves sollte es bei backfischartigen Schwärmereien «Kehle-Zuschnür-Momente, die hier für diese so gespaltene, so wunde Nation geschaffen wurden» in wackligem Deutsch bewenden lassen und nicht Grössen wie Thomas Pynchon für untaugliche Vergleiche missbrauchen.

Nun ist es unbezweifelbar so: in ihrem literarischen Werk, selbst in ihrer Biographie darf Berg Dichtung und Wahrheit vermischen, wie es ihr drum ist. Schreibt sie als Journalistin, sieht das ganz anders aus. Da gibt es nur die Wahrhaftigkeit – oder den Missbrauch des Vertrauens des Lesers, der ja dem Autor glauben muss, dass der gesehen, erlebt und recherchiert hat, was er schreibt.

Schauen wir uns die drei von Scherrer erwähnten Artikel von Berg einmal genauer an. Da wäre zum ersten «Der Totmacher», im November 1996 in ehemaligen Nachrichtenmagazin «Facts» erschienen. Copyright beim «Zeit Magazin», wir kommen darauf zurück. Fast 15’000 Anschläge über den polnischen Massenmörder Leszek Pekalski, der 57 Menschen umgebracht haben soll.

Berg verwendet einleitend diesen pseudo-literarischen Sound der Verdichtung, der guten «New Journalism» ausmacht, aber sehr schal wird, wenn er nicht gekonnt ist:

«Der Ort liegt da wie besoffen, wie im Koma liegt er da, in der Mittagshitze. Ein Nest in Polen. Eine staubige Strasse und Regen drauf, ganz offen, das Dorf zu säubern von versautem Leben. Eine ausgehöhlte Fabrik. Bekloppte Hunde kläffen, als gäbs da was zu bewachen. Links und rechts als Häuser getarnte Ruinen, als Menschen verkleidete Säufer. Wanken am Strassenrand, zum Kiosk, zum Saufen, die Beine nur von Gummistiefeln am Boden gehalten.»

Man weiss es ja, die Polen sind Säufer, die Lage ist hoffnungslos. So beginnt auch angeblich das Leben des Mörders: «Hier wird 1966 Leszek Pekalski geboren. Sein Vater ein debiler Traktorist, seine Mutter eine Magd, die Zeugungsnacht eine Vergewaltigung. Dreck, vom ersten Tag an.»

Dann kriecht sie in das Leben von Pekalski, als sei sie dabei gewesen: «Sitzt er in diesem Zimmer, auf dem Bett, und weiss die Feinde draussen, die Leere draussen. Und drinnen. Und wartet, dass die Zeit vergeht. Vergeht nicht, die Scheisszeit. So gern hätte er etwas für sich, das die Langeweile wegmachen würde. Fasst er sich an und weiss auf einmal, was ihm helfen würde.»

Aber Polen ist halt trostlos: «Kommt die Nacht, ist Polen verlassen. Alle sitzen in ihren Häusern, trinken.» Vielleicht ist Polen nicht verloren, aber verlassen und versoffen.

Dann überfällt Pekalski im Wald eine Frau, auch hier ist Berg dabei, sozusagen in ihm: «Endlich hat Leszek etwas, was ihm gehört. Er zieht sie aus, er untersucht die Frau. Sie wehrt sich nicht. Fein. Eine warme, weiche Frau. Das tut gut. Das riecht gut. Frauenhaar, Frauenkörper. Auf ihr liegen. Neben ihr. Bewegt sich nicht, kann er alles in sie stecken, kann er stark sein, Mann sein

Wenn es widerlich wird, ist Berg in ihrem Element, die Beschreibung der Vergewaltigung einer 13-Jährigen: «Sie lebt noch, als Leszek sie vergewaltigt. Sie lebt, trotz des Blutes, das aus ihrem Kopf kommt, trotz der Knochen, die im Hirn stecken. In ihrem Schmerz, ihrer Angst bis zum Wahnsinn, zerbeisst das Mädchen sich die Finger, bis das Weisse rausschaut.»

Dann fabuliert Berg ihre eigene Begegnung mit dem Mörder im Gefängnis: «Journalisten empfängt er nur, wenn sie ihm seine Wünsche erfüllen. Tüten voll Pornohefte, Schokolade, Kekse. Journalisten kommen viele, weil jeder gerne Mörder guckt. Ist ein gutes Grauen, dem Leszek gegenüberzusitzen, auf Armlänge, die Bewacher im Nebenraum.»

Auch sie habe seine Wünsche erfüllt: «Da schaut er lieber in die Tüte, wo die Schokolade drin ist und die Pornohefte.»

Nun gibt es hier ein paar Probleme. Berg will zum Beispiel auch wissen, wie es im Haus des Onkels des Mörders roch und aussah, als Pekalski dort einzog: «In einem heruntergekommenen Haus steht er, der Leszek, der versagt hat, in einem dunklen Flur, der stinkt, nach Moder, nach verfaulten Abfällen. In der guten Stube werden die Wände zusammengehalten von Heiligenbildern und Kruzifixen, und zu reden gibt es nichts. Der Onkel zeigt ihm ein Zimmer. Eine Stiege hoch, in den ersten Stock. Zwölf Quadratmeter gross. Tapete wellt von den Wänden. Pappe im Fenster, statt Scheiben. Ein Bett.»

Frage: Woher weiss Berg das? Ist sie dort gewesen? Hat’s Jahre später immer noch gestunken? Der Prozess war nur in kleinen Teilen öffentlich. Und da gibt es den Autor Jaques Buval, der aufgrund von Interviews mit Pekalski im Gefängnis (zu denen er ihm Schokolade und Pornohefte mitbrachte) später ein Buch über den Fall schrieb.

Diese mit Video aufgezeichneten Interviews spielten eine bedeutende Rolle im Prozess. Nun hat schon Truman Capote in seinem (im Übrigen furchtbar mäandernden) Werk «Kaltblütig» mit äusserster Genauigkeit die Morde (und die Mörder) einer vierköpfigen Farmerfamilie beschrieben. Allerdings als Rekonstruktion aufgrund von Akten, Zeugenaussagen und Gesprächen mit den Mördern.

Er erweckte dabei niemals den Eindruck, er sei selbst dabei gewesen; sozusagen als unsichtbarer Zuschauer oder versteckt im Hirn der Täter. Das ist in einer Reportage auf jeden Fall unstatthaft.

Die Beschreibung der Polen und Polens als hemmungslose Säufer in einem trostlosen Land ist an Rassismus und Diskriminierung schwer zu überbieten. In einer literarischen Verdichtung einer Reportage muss der Leser immer wissen, was faktisch unterlegt und was Ausdruck der literarischen Fantasie des Autors ist. Wer mit schalen und wohlfeilen Metaphern arbeitet, erweckt Misstrauen:

«Polen ist überall, der Sozialismus ist überall, und Stumpfheit liegt auf dem Land wie grauer Schmier

Diese Grenzen überschreitet Berg in ihrer «Reportage» mehrfach. Der Sound ihres Artikels ähnelt fatal den Werken von Tom Kummer oder von Claas Relotius. Diese zwei Serientäter haben mit ihren erfundenen oder fabulierten Geschichten dem Ansehen des Journalismus im Allgemeinen und des «Zeit Magazin» sowie des «Spiegel» im Speziellen schweren Schaden zugefügt. In beiden Fällen hatte die Aufdeckung ihrer Lügenstorys personelle Konsequenzen.

Wie heisst es doch heutzutage immer so schön: Im Fall von Sibylle Berg gilt die Unschuldsvermutung … Sie wird Gelegenheit bekommen, zu den hier aufgeworfenen Fragen (und zu einigen weiteren zu weiteren Artikeln) Stellung zu nehmen.

Weiss Berg, was in diesem Kopf vorgeht?

 

 

 

Preisträger erfinden Zitate

Hört das denn nie auf? Diesmal haben Christof Gertsch und Mikael Krogerius knackige Dialoge erfunden – und damit einen Preis geholt.

Die gute Nachricht: Christof Gertsch und Mikael Krogerius haben beim Deutschen Reporterpreis Rang 1 geholt in der Kategorie «Sport». Das den Preis vergebende Reporterforum beschreibt ihren Entscheid so: «In ihrer Geschichte Der Boxer, der keiner sein wollte, erschienen im Magazin des «Tagesanzeiger», zeichnen sie nach, wie sich ein junger Mann Anfang der 90er Jahre an die Weltspitze boxt – und sich letztlich selbst besiegt. Sie brechen mit dem Klischee vom bitterarmen Straßenschläger, der über Leichen geht, sondern zeigen einen sensiblen Mann, der in dieser rauen Männerwelt eigentlich nichts verloren hat, der sich sehnt nach Anerkennung, Glück und der Liebe seines Vaters. Ein Stück, das berührt, das ausgeht vom Boxen, vom Sport, und am Ende bei den ganz großen Fragen landet.»

Die schlechte Nachricht:
Der Dialog am Anfang der Reportage ist erfunden. Die Gespräche in direkter Rede zwischen Mutter und Vater von Boxer Buster Douglas und von Mutter und Sohn Douglas haben vielleicht sinngemäss so stattgefunden. Aber sicher nicht in so geschliffener, klarer Sprache.

«Stimmt es,was man über den Gegner unseres Sohnes sagt?», fragt die Mutter. «Stimmt es, dass er ein Tier ist?»
«Ja», sagt der Vater.
«Ist er …. so wie du?»
«Ja», antwortet der Vater, früher selbst ein gefürchteter Boxer. «Ja, er ist wie ich. Er ist ein Killer.»

Und so weiter und so fort. Stattgefunden habe der Dialog am Neujahrstag 1990. Also vor 30 Jahren. Damals war Gertsch 8 Jahre alt, Krogerius immerhin schon 14.

Gertsch und Krogerius versuchen sich in der Reportage herauszureden: «Die Szenen klingen zwar wie ausgedacht, aber genau so schildern sie sowohl Buster wie auch sein jüngerer Bruder Billy.»

Seite 1 der Reportage mit dem knackigen Dialog.

Doch das geht gar nicht. Direkte Rede bringen Journalisten nur, wenn sie das Gespräch aufgenommen oder mitgeschrieben haben.
Bezeichnend ist, dass der Deutsche Reporterpreis bis 2018 viermal an Claas Relotius ging. Nachträglich versuchte sich das Reporterforum in ellenlangen Erklärungen zu rechtfertigen.
Cigdem Akyol, freie Journalistin, Zürich, schrieb 2019 zum Beispiel entschuldigend: «Es gibt durchaus Geschichten aus dem Ausland, die mich stutzigmachen: Manche Szenen und Dialoge passen einfach zu gut in dieDramaturgie, es wirkt perfekt.»

Umso fragwürdiger ist also der Einstieg in die Reportage.

Da kommt einem die legendäre Reportage von René Pfister in den Sinn. Unter dem Titel «Am Stellpult» hatte er die private Seite des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer als Modelleisenbahner dargestellt. Das durchaus originelle Bild: René Pfister  verglich die Herrschaft über Seehofers Miniaturwelt mit jener über den Freistaat in Beziehung. Später gab der Autor allerdings zu, dass er die Modellbahn im Keller von Seehofers Ferienhaus nie selbst gesehen hatte. Er musste den  Henri-Nannen-Preis in der Kategorie «Reportage» wieder zurück geben.

Was beim Reporterpreis 2020 und den erfundenen Dialogen in der Kategorie «Sport» passiert, ist noch offen. Es ist «eine der ganz grossen Fragen», wie es im Jurybericht unfreiwillig zweideutig heisst.