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Neues von der Inquisition

Das Sanctum Oficium der katholischen Kirche ist abgeschafft. Das erledigen heute andere.

Roger Waters (79) ist Mitgründer der Supergroup Pink Floyd. Und ein kantiger Geist, der nicht nur deutliche politische Ansichten hat, sondern die auch äussert. Selbst die NZZ sah sich schon bemüssigt, ihn deswegen anzupinkeln:

«Achtung, Roger Waters ist wieder unterwegs. … breitbeinig und zielbewusst in alle möglichen Fettnäpfe … Plattform für diesen Wüterich … sein aufgeblasener Idealismus und seine Besserwisserei lassen ihn oft als Ritter von hässlicher Gestalt erscheinen.»

Das sieht auch der Münchner Oberbürgermeister (oder der «Stadtpräsident», wenn man dem Tagi glauben will) so. Der möchte nämlich ein Waters-Konzert im Olympiapark absagen. Der Betreiber soll doch bitteschön prüfen, «ob dieses Konzert tatsächlich stattfinden muss».

Kein Konzert muss stattfinden, das ist soweit richtig. Wieso sollte dieses nicht stattfinden? Anscheinend, weil Waters Mitglied bei der Boykott-Bewegung BDS ist. Das steht für «Boycott, Divestment and Sanctions» und ist gegen die israelische Besatzung- und Ausbeutungspolitik gerichtet. Diesem losen Zusammenschluss gehören auch antisemitische Gruppierungen an.

Nun kann man sich seine Gesellschaft nicht immer aussuchen, so ist auch Orbáns Partei im Europaparlament brüderlich in der christlich-sozialen Fraktion aufgehoben, der auch die CDU angehört. Zusammen mit anderen weit, weit rechts stehenden Parteien. Dann soll Waters noch Sätze gesagt haben wie: «Der Zionismus ist ein hässlicher Fleck, der sanft von uns entfernt werden muss.» Wobei immer versucht wird, Kritik am Zionismus, die durchaus berechtigt ist, als Kritik am Judentum oder an Israel zu denunzieren und sie damit als antisemitisch abzuqualifizieren. Wobei Antizionismus und Antisemitismus keinesfalls das Gleiche ist.

Auch zur Ukraine hat Waters seine Ansichten, in einem offenen Brief an die aus der «Vogue» bekannte Gattin des ukrainischen Präsidenten erinnerte er sie daran, dass Selenskij seine Wahlversprechen nicht gehalten habe. Er endete mit dem nachdenklichen Satz:

«Wenn ich falsch liege, helfen Sie mir bitte, zu verstehen, wie

Solche Nachdenklichkeit ist die Sache der modernen Medien nicht. So echot Beat Metzler von Tamedia die Boykottversuche des Münchner «Stadtpräsidenten» und findet natürlich nach kurzer Suche auch Organisationen in der Schweiz, die den Auftritt von Waters im Zürcher Hallenstadion verhindern wollen.

So zitiert er den Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes: «Wenn Roger Waters seine Konzerte für die Verbreitung hetzerischer Botschaften nützt, sind auch die Veranstalter mitverantwortlich.»

Ins gleiche Horn stösst auch «Stephanie Graetz, Geschäftsleiterin der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus». Laut ihr «müsste die Hallenstadion AG Roger Waters eine klare Bedingung stellen: «Ohne Distanzierung von den problematischen Aussagen gibt es keinen Auftritt.» Nun gelte es, das Konzert zu beobachten. Falls sich Waters auf der Bühne rassistisch oder antisemitisch äussert, kündigt Graetz rechtliche Folgen an.»

Im Rahmen der Meinungsfreiheit kann man solche inquisitorischen Ansichten äussern. Nicht erlaubt ist allerdings Unfug wie «ohne Distanzierung kein Auftritt». Wer meint diese Dame, wer sie ist? Die moderne Ausgabe der Inquisition?

Im Rahmen der journalistischen Sorgfaltspflicht und Verantwortung vermisst man allerdings die Einordnung durch Metzler, dass es wohl nicht angehen kann, die Absage von Konzerten zu fordern, weil einem politische Aussagen des Künstlers nicht passen. Man vermisst die Einordnung, dass solche Forderungen bei Auftritten von linken Künstlern niemals erhoben werden, die beispielsweise die Maduro-Diktatur in Venezuela oder das post-castristische Regime auf Kuba unterstützen, die beide zur Verelendung der Bevölkerung geführt haben.

Auch nicht von den Gegnern dieser Regimes. Es ist beelendend, dass diese Form von inquisitorischem Rigorismus unkommentiert publiziert wird. Immerhin bekommt Waters im Artikel das Schlusswort:

«Vor den Konzerten seiner aktuellen Tour lässt er folgende Warnung einblenden: «Wenn du einer dieser ‹Ich mag Pink Floyd, aber ich kann Rogers Politik nicht leiden›-Typen bist, dann könntest du gut daran tun, dich jetzt sofort an die Bar zu verpissen.»»

Was bei all diesen Schreihälsen mit bombenfesten Wissen, was gut ist und was böse, schlichtweg fehlt: die Teilnahme an einem Konzert, bei dem ein Künstler Rastalocken trägt, als Weisser schwarze Musik spielt, mit geballter Faust linke Solidarität einfordert oder sich kritisch gegenüber Israels Besatzungspolitik äussert, ist freiwillig.

Wem das nicht nicht passt, kann sich problemlos zu einem persönlichen Boykott entscheiden. Oder er kann mit einem Protestschild vor dem Eingang aufmarschieren. Aber es allen verbieten wollen? Genau das wollte auch die Inquisition. Bis sie endlich abgeschafft wurde. Nur um in neuer Gestalt als Wiedergänger im aufgeklärten 21. Jahrhundert gespenstisch diesen alten Mief zu verbreiten.

 

Sanktionen! Boykott!

Hinweg mit allem Russischen. Da gilt es noch nachzuarbeiten.

Sportler: sowieso. Ob behindert oder nicht: sie müssen zu Hause bleiben, ganz klar. Selbst wenn sie sich von Präsident Putin distanzieren würden: sie verletzen die Gefühle ukrainischer Athleten.

Wodka Gorbatschow? Weg damit. Wird in Deutschland hergestellt? Macht nix, in den Ausguss. Überhaupt alles Kulinarische. Sorry. Kaviar, Borschtsch, Soljanka, Blinis, Kwas? Gestrichen.

Jetzt tut’s einen Moment weh, aber das muss auch sein: Lada, Niva, die beiden unkaputtbaren Autos für herbere Strassenverhältnisse? Hinweg.

Russische Literatur? Tolstoi und Dostojewskij werden doch überschätzt. Scholochow, der Kommunist, also wirklich. Pasternak? Nein, was sein muss, muss sein, auch gestrichen. Musik: logo, Schwanensee, Tschaikowsky, kann doch keiner mehr hören. Sowjetische Revolutionskunst, Majakowski, Ilja Ehrenburg, Gogol, Gorki – kennen viele nicht, brauchen wir nicht. Eisenstein, Bondartschuk? Wer will denn alte Filme schauen.

Das kyrillische Alphabet ist sowieso ein Unding, weg mit all diesen unverständlichen Beschriftungen. Die russische Geschichte, Iwan der Schreckliche, Katharina die Grosse, Lenin, Stalin, Putin: pfui. Gorbatschow? Nun ja, etwas schmerzlich, aber schliesslich ist der auch Russe, also muss er boykottiert werden.

Hammer und Sichel, die Wintermütze der Roten Armee, Gilbert Bécauds «Nathalie»: wieso läuft das noch auf YouTube?

Der pavlowsche Reflex? Abgeschafft. Also nicht ganz, der darf in einem Zusammenhang funktionieren. Russe, reich? Sofortiger Speichelfluss und die spontane Reaktion: alles wegnehmen.

Taiga, Balaleika, Ivan Rebroff? War zwar Deutscher, hat sich aber als Russe verkleidet. Boykottiert seine Lieder. Überhaupt, all die Iwans, Nathalies, Irinas, aber auch Sergejs und Michails: sofortige Namensänderung. Ist schon schlimm genug, wenn man Adolf heisst, oder.

Apropos, auch die Geschichte muss aufgeräumt werden. Hitler hat die Sowjetunion überfallen? Unsinn, das war ein Präventivschlag, ein Verteidigungskrieg, Notwehr. Deutsche KZ? Nur ein müder Abklatsch russischer Gulags.

Letztlich muss jeder mit sich selber ins Reine kommen: ist irgend etwas Russisches an mir? Habe ich mal Kasatschok getanzt? Sowjetisches Eishockey geliebt? Für Alexander Malzew oder Sergej Makarow geschwärmt? Halte ein, tue Busse, du Sünder, reinige dich, bereue und verkünde Abscheu.

Keiner ist zu klein, ein Zeichen zu setzen. Putin mit Hitlerschnäuzchen versehen. «Stop Putin» auf ein Plakat malen. Russische Geschäfte, Bars, Restaurants boykottieren. Spricht einer mit russischen Akzent, sofort Konversation abbrechen, vor die Füsse spucken und Abscheu zeigen.

Den schmerzlichsten Akt haben wir bis zum Schluss aufgespart. Einen Zobel besitzt ja ein anständiger Mensch schon lange nicht mehr. Aber vielleicht ein Fabergé-Ei? Nun, das tut nur einen Moment weh: auf den Boden legen. Draufhopsen. Wahlweise Hammer nehmen und draufhauen. Muss sein.

Tanken für den Frieden

Steigt der Spritpreis auf 3 Franken, hört der Spass auf.

Sanktionen? Unbedingt. Ausschluss russischer Banken aus internationalen Zahlungssystemen? Sofort. Schliessung der Filialen westlicher Multis in Russland? Genau, Schluss mit Ikea, McDonald’s und Co.

Beschlagnahmung von Jachten, Villen, Bankkonten russischer Oligarchen? Unbedingt. Die sollen wissen, wie wendehalsig wir im Westen sind. Zuerst in London, Genf, Paris, Berlin und auch Zürich mit offenen Armen empfangen. Schweizer Gnome strapazierten ihre Leber und schütteten literweise Wodka in sich rein, um russische UHNWI, also die Reichsten der Reichen, als Kunden an Land zu ziehen.

Kein Bückling zu tief, kein Weg zu weit, immer mindestens eine Dose Beluga-Kaviar, und dazu vielleicht einen «Legend of Kremlin Premium Wodka» im neckischen Buchversteck zum Verschenken im Kühlschrank. Plus natürlich mindestens zwei Flaschen «Beluga Gold Line» für schlappe 430 Franken. Dafür gibt’s aber 1,5 Liter und ein Extrahämmerchen zum Entfernen des Siegels.

Alles vorbei, auch die russische Zobelmütze wird verschämt im Keller eingemottet. Ganz dreckig geht es bereits den grossen Rohstoffhändlern in der Schweiz. Die neuen Masters of the Universe, unkaputtbar, mit dem einfachen Prinzip »verkaufe teurer, als du einkaufst» zu Multimillardären geworden – nun dank senkrecht fallenden Kursen am Verlumpen.

Die Volksseele applaudiert und kocht

Das alles findet unter grossem Beifall der Bevölkerung statt. Gelegentlich rastet auch der Volkszorn etwas aus und beschädigt Ladenfronten von russischen Geschäften und Lokalen, als seien die Besitzer persönlich für die Politik Putins verantwortlich. Russische Künstler, Sportler, Schauspieler, überhaupt alles, was blondgefärbt dieses unannachahmliche «äh» wie in «russischä Sääle» ausspricht, muss mit Repressionen rechnen.

Das nannte man früher Sippenhaft, das nennt man heute Zeichen setzen.

Aber es gibt ein Thema, da wird’s etwas schwierig mit den Zeichen gegen und dem Kampf für und «stoppt Putin». Bei allem, was mit Energie zu tun hat. Deshalb haben bislang erst die USA angekündigt, auf den Import von russischem Erdöl und -gas zu verzichten. Deshalb tänzeln alle europäische Staaten um dieses Thema herum.

Denn fast die Hälfte aller russischen Exporte bestehen aus diesen beiden Produkten, rund ein Drittel des BIP wird damit erwirtschaftet. Ein Boykott würde Russland massiv, schnell und viel schmerzlicher treffen als alle bisherigen Sanktionen.

Wollen wir boykottieren, wo’s weh tut?

Auf der anderen Seite stammt rund die Hälfte des in die Schweiz importierten Erdgases – aus Russland. Beim Erdöl ist’s nicht so dramatisch, aber der russische Anteil ist auch bedeutend. Natürlich wäre es möglich, russische Produkte durch andere Quellen zu ersetzen. Gas kann in flüssiger Form importiert werden, neben Russland gibt es die arabische Welt, die USA und sogar Venezuela als mögliche Exporteure.

Nur: das kostet. Schon jetzt steigt der Benzinpreis und steigt und steigt. Gelenkig hat er die Schwelle von 2 Franken überschritten, bewegt sich auf 2.25 zu, auf 2.50, auch 3 Franken liegt durchaus drin. Das trifft den Schweizer, auch den friedensbewegten, falls sich der nicht prinzipiell mit Velo und ÖV fortbewegt, ins Mark.

Wenn das Befüllen einen 70-Liter-Tanks mal 200 Franken kostet, sieht das mit «Zeichen der Solidarität setzen, Boykott russischer Produkte» schon etwas anders aus. Da wird’s dann ganz schräg. Da könnte sich der Volkszorn plötzlich nicht länger gegen Russland, sondern gegen die eigene Regierung richten.

Denn, was schamvoll im Kleingedruckten erwähnt wird, rund die Hälfte des Spritpreises landet in Form von Steuern und Abgaben nicht etwa in Russland, sondern beim jeweiligen Staat.  Das regelt in der Schweiz das «Mineralölsteuergesetz», abgekürzt MinöStG. Für Motorenbenzin und Diesel ist zusätzlich ein Mineralölsteuerzuschlag fällig.

Das bedeutet, wenn die Eidgenossenschaft auf knapp 5 Milliarden Steuereinnahmen verzichten würde, käme der Spritpreis auf idyllische 1.20 oder so runter. Dann würde friedlich Tanken für den Frieden in der Ukraine und der ganzen Welt wieder richtig Spass machen.

Wer übrigens meint, die steil nach oben schiessenden Spritpreise hätten wir dem Unmenschen Putin zu verdanken: stimmt auch nur teilweise. Denn richtig absahnen tun, wie immer in solchen Krisen, die Raffinerien. Denn die Preiserhöhungen beim Endprodukt stehen mal wieder in keinem Verhältnis zu den Preiserhöhungen pro Barrel Rohöl …

Oder aber, ZACKBUM mit hohem Nutzwert, wie wär’s, dieses Angebot auszunutzen? Gut, ist nicht gerade zentral gelegen, aber diese Preise sind unschlagbar …

Diesel Fr. 1.61 (wenn man in Euro zahlt), Bleifrei 1.624. Das sind Zahlen aus dem Automobilistenhimmel …