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Wo bleibt das Positive?

Immer nur meckern und kritisieren. Nein, ZACBUM spendet auch Lob.

Allerdings müssen wir uns dafür wiederholen und auf das einzige Blatt in Reichweite rekurrieren, das Lob verdient. In der Schweiz hat man ja nur noch im Tageszeitungsmarkt eine kleine Qual der Wahl, mehr Qual als Wahl. Tamedia, CH Media und tschüss. Dann noch Blöd-«Blick», Randgruppenorgane in der Südostschweiz, wenige Einzelkämpfer wie in Schaffhausen.

Aber es gibt glücklicherweise immer noch die «Neue Zürcher Zeitung». Jawoll, ZACKBUM-Redaktor René Zeyer hat mal ein paar Jahre als Auslandredaktor für die NZZ gearbeitet. Das ist aber verjährt und verklärt den Blick keinesfalls.

Also blättern wir als Kontrastprogramm durch die Mittwoch-Ausgabe der NZZ im Print. Mit mageren 32 Seiten und einem Kaufpreis von stolzen 5.10 sollte sie dann schon etwas bieten.

Die Front kann man als, nun ja, konservativ bezeichnen:

Ein ausdrucksschwaches Foto, zwei breit abgenudelte Themen. Aber immerhin von eigenen Mitarbeitern bespielt, und erst noch solchen, die sich nicht das erste Mal mit Taiwan oder Afghanistan und Al-Kaida befassen. Aber schon auf Seite 2 vermag die alte Tante zu überraschen:

Das setzt sich auf Seite 4 fort; ein Bericht, der nicht im Mainstream der ewigen Wiederholungen schwimmt:

Zudem noch für NZZ-Verhältnisse üppig bebildert und auf zwei Seiten ausgerollt. Zudem das Werk eines hoffnungsfrohen Nachwuchsjournalisten.

Im Schweiz-Teil gibt es einigen Food for Thought, Denknahrung. Über das verdichtete Bauen, über die komplizierte Suche nach einem Neuen Kampfjet, ebenfalls ohne Rücksicht auf die Wisch-und-weg-Lesegewohnheiten auf zwei Seiten mit vielen Buchstaben angerichtet.

Im Zürich-Teilchen wird, das sei im Sommerloch verziehen, grossen Wert auf Nutzwert gelegt: «Die Badi-Kioske mit dem stimmungsvollsten Ambiente und dem besten kulinarischen Angebot in der Region Zürich».  Unter «Meinung und Debatte» macht dann Lorenz Honegger dem Häuslebesitzer Angst:

Hier könnte man höchstens meckern, dass Titel, die «das Ende naht» verwenden, eigentlich auf die No-Go-Liste gehören.

Dass sich die Wirtschaft um die Ernäherungssicherheit Afrikas kümmert, ehrt sie, setzt sich aber dem Vorwurf einer gewissen Beliebigkeit aus. Aber mit diesem Bericht erobert sich die NZZ wieder ihr Alleinstellungsmerkmal zurück:

Das Feuilleton befasst sich mit einer Künstlerin, die für den NZZ-Redaktor nun eindeutig der modernen Jugendkultur zuzurechnen ist. Illustriert wird der Artikel über Beyoncé zudem mit dem Foto der halbnackten Sängerin auf einem durchsichtigen Pferd. Zudem ist der Text eine geradezu schwärmerische Lobesarie über die «womöglich zu Recht als grösster lebender Popstar bezeichnete Sängerin». Ein wenig vorsichtige Distanz muss schon sein im Hause NZZ.

Das richtige Hammerstück fehlt dieser Ausgabe des Feuilletons, auch wenn sich Felix E. Müller um die Antwort auf die Frage verdient macht, wieso die Evangelikalen seit 50 Jahren ziemlich aktiv in der Politik mitmischen. Da hatte die Ausgabe vom Dienstag schon ein anderes Kaliber auf der letzten Seite der Ausgabe und damit des Feuilletons:

Aber immerhin: eine einzige Ausgabe der NZZ bietet mehr Eigenleistung und Anregung als eine ganze Wochenration der übrigen Tagespresse in der Schweiz.

 

 

Ex-Press XXX

Blasen aus dem Mediensumpf.

Für die Jubiläumsausgabe werden wir uns ausschliesslich auf höchstem Niveau bewegen. Wo die Luft so dünn ist, dass niemals ein TV-Fuzzi so hoch fliegen kann. Ausser, er gibt Guzzi.

Scharfer Blick auf die NZZaS

Alle reden über die NZZaS, hier wird sie gelesen und auf den Prüfstand gelegt. Denn, kaum zu glauben, mindestens so wichtig wie ein neuer Chefredaktor und die Umstände der Absetzung des alten – ist der Inhalt.

Für selbstverliebte Journalisten schwer zu akzeptieren, aber ohne genügend Leser könnten sie sich endlich einen richtigen Beruf suchen.

Seite eins; seit dem letzten Redesign erkennbar an dem sinnlosen Loch oben rechts, kommt gewohnt getragen-seriös daher.

Schmetterlinge, jüdischer Schriftsteller über was wohl, Suche nach den Gründen für den Erfolg der Schweizer Skifahrer. Weil sie schneller als die Konkurrenz fahren? Ich meine ja nur.

Nach den Anrissen die Headlines. Wegen einer hohen Zahl von «Impfskeptikern» drohten «Spitälern wieder Engpässe». Ja wieso denn das? Weil das BAG im Chor mit den üblichen Verdächtigen behauptet, dass nach einer Lockerung der Massnahmen dank vieler Ungeimpfter eine dritte oder vierte Welle drohe.

20 Prozent der Schweizer wollen sich nicht pieksen lassen, 28 seien unschlüssig, habe eine Umfrage ergeben. Ob das was damit zu tun haben könnte, dass die ewige Kakophonie von divergierenden Ankündigungen und Meinungen damit etwas zu tun haben könnte? Aber so viel Vertiefung liegt der NZZaS nicht.

Als Keyvisual wie das der Medienspezialist nennt, eine nachkolorierte Fotografie des berühmten Charlie-Chaplin-Films «Modern Times». Sie verspricht ein «Sonderheft» des Magazins. Ja nicht glauben, wir kommen darauf zurück.

Weht der Mantel der Geschichte oder ein Lüftchen Zeitgeist?

Dann weht der Mantel der Geschichte, nein, des Zeitgeists durch die NZZaS. Auf Seite 3 ein voluminös bebildeter Artikel über die Ermordung einer 33-Jährigen auf dem Heimweg in Londons Stadtteil Clapham. Der mutmassliche Täter ist bereits gefasst: peinlicherweise ein Polizist.

Das ist singuläres Pech, denn welche Frau würde nicht einem britischen Bobby vertrauen? Aber heutzutage ist das natürlich Gelegenheit, darauf aufmerksam zu machen, dass «die Briten die täglichen Missetaten an Frauen nicht mehr akzeptieren», wie die Autorin im Lead schreibt. Frauen klagen an, Männer bekennen, Täter zu sein, der «Fall Sahra» sei vielleicht ein Wendepunkt, meint «Studentin Louise». Bis er schnell wieder vergessen wird.

International hat die NZZaS mehr zu bieten; den Bericht über eine mögliche Zeitwende in Frankreich, wo die Skandale der Eliten nicht länger hingenommen werden und straffrei bleiben. Die Verurteilung des Ex-Präsidenten Sarkosy sei da nur die Spitze einer stärker werdenden Bewegung. Wer bei den deutschen Grünen Kanzlerkandidat werden könnte und die überraschende Schlussfolgerung, dass die harten Töne des US-Präsidenten Biden Russland und China einander näherbringen könnten; als zwei Meldungen wäre denen nichts Wesentliches abhanden gekommen. Ein fast doppelseitiges Interview mit dem glücklosen Ausenminister Ignazio Cassis riecht schwer nach: kann man machen, muss man sicher nicht machen.

Endlich im Hintergrund Highlights

Der «Hintergrund» enthält zwei Stücke, die das einsame Niveau der NZZaS dann doch illustrieren. Ein respektvoll-kritisches Porträt von Markus Somm. Das drängt sich auf, nachdem am Donnerstag sein Online-Nebelspalter gestartet ist und er immerhin mal Chefredaktor der NZZ hätte werden sollen. Michael Furger gelingt wirklich ein Porträt. Keine Schwarweissmalerei, noch viel weniger Schwarzmalerei, man wird nostalgisch und erinnert sich daran, was ein Porträt früher mal war.

Als Misston schleicht sich – aber nur kurz – die Kolumne von Nicole Althaus ein. Eigentlich will sie sagen: Männer sind oft triebgesteuerte Schweine. So kann man (und auch nicht frau) das in der NZZaS nicht formulieren, also schwurbelt sie sich in Reflexionshöhen, die weit über ihrer Gehaltsklasse liegen. Alle Mädchen würden «auf ihrem Weg zur Frau lernen, dass sie in einem Körper leben, der ein Areal der Sexualisierung und Beschämung ist.» – «Die Welt der Buben» weite «sich während der Pubertät aus, während jene der Mädchen» schrumpfe. «Da ist die Scham, weil im Turnen das T-Shirt hochrutscht und ein Stück BH entblösst.»

Was würde Althaus wohl zu diesen Modevorschlägen aus dem «Magazin» sagen?

Wäre ich hier der Entscheidungsträger, ob dieses Geblubber veröffentlicht werden soll oder nicht, käme es wohl unvermeidlich zum Showdown: du Mann, ich Frau. Aber das Interview mit einer Pfarrerin über Bestattungen in Zeiten von Covid und ein liebevoller Nachruf auf Albert Kreis, ein Arzt der besonderen und aussterbenden Art, versöhnen wieder.

Wirtschaft: Nur eine überzeugt

In der Wirtschaft hat die unermüdliche Zoé Baches einen Fall ausgegraben, der nochmals ein Schlaglicht auf den Steuerstreit mit den USA wirft, als es den Führungsetagen der Banken schlichtweg darum ging, den eigenen Kopf zu retten, sie deshalb bereit waren, sowohl Kunden wie Mitarbeiter zu verraten und Milliardenbussen zu zahlen. Statt Verantwortung zu übernehmen und den Auftritt vor US-Gerichten zu wagen.

Emanuel Agustoni war ein Banker bei der CS, der US-Kunden betreute. Und darauf besteht, dass er niemals gegen US- oder gegen Schweizer Gesetze verstossen habe. In seiner relativ kurzen Zeit zwischen 2001 und 2005. 2011 wurde er in den USA angeklagt, Beihilfe zur Steuerhinterziehung. Er begann zu kämpfen und weigerte sich, den US-Behörden seine Kundenliste auszuhändigen, damit könne sein Fall schnell ad acta gelegt werden.

Die CS lässt Agustoni ein Budget machen und verspricht, die Prozesskosten zu übernehmen. Wenige Tage, bevor der Prozess endlich 2019 beginnen sollte, macht die CS einen Rückzieher, sie stellt per sofort die Zahlungen ein. Alleine kann der Banker das nicht stemmen, der Prozess platzt. Neuer Anlauf nach der Wahl Bidens und Veränderungen im Justizministerium der USA. Diesmal würde ein Prozess gechätzt nur noch die Hälfte des ursprünglichen Betrags kosten. Immer noch zu teuer, sagt die CS. Die sich selber für schuldig bekannte und sagenhafte 2,8 Milliarden Dollar zahlte. Plus Hunderte von Millionen für den von den USA in der Bank eingepflanzten Überwacher. Gute Story. Einzig gute Story.

Die mageren 6 Seiten im «Wissen»-Bund trumpfen immer wieder mit Trouvaillen auf; diesmal mit einer Nacherzählung des Befreiungskampfes der Griechen gegen die Türkei, der vor 200 Jahren begann. Und die Rolle, die drei Schweizer dabei spielten. Schliesslich in der «Kultur» ein mutiges Plädoyer gegen den um sich greifenden Genderwahnsinn auch im Kino. Also nur eine lesbische Frau darf eine lesbische Filmfigur spielen, usw. Schöne Schlussfolgerung: «Wenn die Fiktion deckungsgleich sein muss mit der Realität, schafft sie sich selber ab.» Dann eine ausgewogene Seite über den Knatsch um das Schauspielhaus Zürich. Totalrenovation oder Bewahrung des historisch bedeutenden Theatersaals der Pfauenbühne?

Und tschüss. Ach, das «Magazin»? Sagen wir so: immerhin hat man diesmal keine Riesenstory über aussterbende Elefanten eingekauft.

Man gönnt sich ja sonst nichts.

Dieser zum «Lustwandeln» geeignete Pyjama wird unter «Konsumkultur» im Magazin angeboten. Um ihn zu ergattern, muss man nur drei Hürden überwinden. Die angegebene Adresse ist falsch. Er kostet schlappe 295 Euro. Und er ist noch nicht lieferbar.

Ex-Press XXV

Blüten aus dem Mediensumpf.

Sonntag, Früher Primeur-Tag (weil man am Samstag nur schwer eine superprovisorische Verfügung kriegte), inzwischen Gähn-Tag.

 

Ist Pensionär Müller in der NZZaS zu Selbstkritik fähig?

Felix E. Müller, die schreibende Sparmassnahme bei der Medienkritik der NZZaS, macht in Selbsterkenntnis. «Macht doch weniger Interviews», fordert er nassforsch. Sei doch nur eine Sparmassnahme, schnell gemacht, schnell Seite gefüllt. Vor allem Führungsfiguren würden doch sowieso nur «gedankliches Styropor» absondern, reine «Worthülsen».

Hoch das Glas: Müller als angemieteter Fachreferent auf grosser Fahrt.

Man ist sich sicher: das ist die Einleitung zu einer Selbstkritik. Denn ist Müller nicht selbst Autor des schnarchlangweiligen Buchs «Gespräche mit Alain Berset»? 106 Seiten gedankliches Styropor in Fragen und Antworten, für happige 29 Franken. Ein Weihnachtsgeschenk für den Bundesrat, als ihn noch alle richtig lieb hatten.

Während früher für Müller galt: nichts ist älter als seine Schlagzeile von gestern, hat er sich weiterentwickelt: nichts ist älter als sein Buch von gestern. Nur in einem ist er sich treu geblieben: Selbsterkenntnis, Selbstkritik, selbst wenn sie bei diesem Thema mit beiden Armen winkt? I wo, ach was, Müller doch nicht. Das wäre doch keine Medienkritik, sondern Kritik an einem gedanklich inkontinenten Rentner.

Wir sehen auch das Positive

Aber, wir sehen auch Positives, angesichts des bevorstehenden Prozesses in Frankreich, bei dem es darum geht, ob die 4,5-Milliarden-Euro-Busse gegen die UBS auch von der zweiten Instanz aufrecht erhalten wird, macht die NZZaS endlich mal ein lobendes Porträt von Markus Diethelm.

Und der Haifisch, der hat Zähne: Markus Diethelm.

Das ist der Chief Legal Councel der Grossbank, das dienstälteste Mitglied der Geschäftsleitung. Der mit Abstand cleverste Kopf in der Führungsetage einer Bank. Er machte das Unmöglich möglich und fabrizierte im Steuerstreit einen Vergleich, bei dem die UBS mit 780 Millionen Dollar Busse sehr glimpflich davonkam. Die CS, da sind halt andere Pfeifen am Gerät, kam mit 2,6 Milliarden an die Kasse. Ein Meisterstück. Als Opferanode musste die UBS Kundendaten ausliefern, was der Bundesrat per Notrecht bewilligte. Damit war das Bankgeheimnis Geschichte, aber die UBS gerettet.

«Willst Du es mit dem Geier aufnehmen, musst du das Spiel des Geiers spielen», soll seine Maxime sein, laut NZZaS. Interessant, so überlebt man offensichtlich bei der UBS am längsten. Nächste Bewährungsprobe: die 4,5 Milliarden müssen weg. Da er höchstpersönlich die UBS vertritt: nichts ist unmöglich.

 

Wenn der Papagei onaniert

Dieser Titel hat wirklich Potenzial, in die heilige Halle der ewig besten aufgenommen zu werden: «Hilfe, mein Papagei onaniert!» Erschwerend komme noch hinzu, dass die Vögel dabei mit 110 Phon ihr Wohlbefinden ausdrücken.

Ist das die Nuss danach? Befriedigter Papagei.

Ohne falsche Scham klärt hier die «SonntagsZeitung» über «Geile Vögel und ihre Sextoys» auf. Die Autorin zitiert sogar Fachleute auf diesem Gebiet: «Vor allem im Frühling würden Papageien und Sittiche viel onanieren. «Da sind sie alle ein bisschen verrückt»», weiss die Leiterin der Auffangstation für Papageien und Sittiche (APS) in Matzingen TG.

Aber nicht nur Vögel vögeln mit sich selbst, es gibt auch «horny Hörnchen», Schildkröten (wie die das wohl tun?), Pferde, Delphine und natürlich viele Affenarten, weiss ein britischer Wissenschaftler, der «die erste Datenbank über masturbierende Vögel» bewirtschaftet.

Ich hätte allerdings eine alternative Verwendung für diesen Titel: Könnte man den nicht über viele Werke der arbeitsplatzsichernden Mainstream-Journalisten schreiben? Vielleicht eröffnen wir hier eine neue Rubrik.

Kandidat für eine neue Rubrik

Als erster Kandidat bietet sich Denis von Burg an, der Politchef der SoZ. Mit Füssen getretene «politische Redlichkeit», «realpolitisch irr», kommt der Haltung der «Corona-Leugner nahe», «skandalös», gar «faktisch ein Putschversuch». Natürlich wird hier mal wieder «an den Grundfesten der Demokratie gerüttelt». Himmels willen, müssen unsere wehrhaften Mannen das Sturmgewehr aus dem Schrank nehmen und in Bern die Demokratie retten? Gegen wen nur, wer wagt solch finsteres Tun?

Weiss immer, wie es ist: Denis von Burg.

Oh, «bürgerliche Parlamentarier», die sich, – vade retro, Satana, schleich dich, Satan – hinter dem Ex-SVP-Präsidenten Albert Rösti scharen, wollen, nomen est omen, dass Gaststätten schon früher wieder öffnen können. Oh, sichern, Munition rausnehmen, Gewehr wieder in den Schrank. Ohne sich in den eigenen Fuss zu schiessen, das erledigt schon von Burg vom Titel abwärts: «Die Bürgerlichen verhalten sich wie in einer Bananenrepublik».

Allerdings gräbt auch die SoZ einen kleinen Streit aus, der durchaus höheren Unterhaltungswert hat. Denn Ex-Task-Force- und Immer-noch-Präsident des Schweizer Nationalfonds tritt dem bekannten Epidemiologen Marcel Tanner öffentlich kräftig in den Hintern.

Wenn zwei Wissenschafter öffentlich catchen

Mit einfachen Mitteln. Matthias Egger stellte ein Bild von Tanner auf Twitter, mit einer Aussage von ihm vom letzten Mai. «Es werde keine zweite Welle geben» hatte Tanner damals prophezeit. Maliziös ergänzt das Egger mit einem Auszug aus wissenschaftlichen Standesregeln: «Vermeiden Sie ungerechtfertigte Gewissheit.» Wunderbar, nur sollte diese Regel für alle Wissenschaftler gelten, die kakophonisch in die Pandemie hineinkrähen.

 

Ende mit kurzem Schrecken

Ach ja, dann soll es noch den «SonntagsBlick» geben. Bevor der zu quengeln beginnt: Das Interview mit dem inzwischen 80-jährigen Tom Jones ist unterhaltsam, aber vor allem wegen Jones. Das Porträt der Corona-Kreische Emma Hodcroft, die etwas unter Aufmerksamkeitsmangel leidet, ist hingegen schnarchlangweilig und überflüssig.

Topseriöse Wissenschaftlerin: Emma Hodcroft.

Und unser neuer Lieblingskolumnist Frank A. Meyer? Schimpft etwas lahm – im Vergleich zum Ausbruch beim Thema Burka – gegen den Ausverkauf der Heimat und Aufenthaltsbewilligungen für ganz Reiche. Aber die Schlusspointe reisst’s dann fast wieder raus:

«In der Schweiz ist Korruption gratis.»

 

CH+ oder CH++

Noch ein Aperçu aus dem «berühmt durch Corona»-Sumpf. Marcel Salathé, inzwischen anderweitig versorgt und der Durchstarter dank Covid19, hat aus anhaltender grosser Sorge mit 15 weiteren «Personen aus Wirtschaft und Wissenschaft» die «gemeinnützige Organisation CH++» gegründet. Dabei ist all diesen Koryphäen wohl entgangen, dass es bereits die im Handelsregister eingetragene GmbH CH+ gibt. Die zufälligerweise dem Autor gehört. Guter Start; Abmahnung wegen Verwechslungsgefahr ist unterwegs, die Chance, dass CH++ bald ins Minus rutscht, ist gross.

Die Sparmassnahme auf Papier

Vor einer Woche fehlte die «Schweiz am Wochenende» in der Blattkritik. Jetzt folgt sie.

19,7 Gramm. So viel bringt die «Schweiz am Wochenende» auf die Küchenwaage. Nimmt man den Werbeflyer raus, verringert sich das auf 17,7 Gramm. 56 Seiten umfasst die Wochenend-Ausgabe, die den «Sonntag» abgelöst hat. Online ist das Meiste hinter einer Bezahlschranke.

Mit der «Schweiz am Sonntag» wollte das Wanner-Imperium dem alteingesessenen Trio «SonntagsZeitung», «NZZamSonntag» und «SonntagsBlick» das Fürchten lehren. Was auch längere Zeit gelang; nicht zuletzt deswegen, weil der Wirtschaftsredaktor Arthur Rutishauser ausgezeichnete Quellen in der Swissair und dann der Swiss hatte. Und weil Chefredaktor Patrik Müller einen flotten Kurs fuhr.

Das Gemächt von Baden

Wohl ein Höhepunkt war die Affäre um den Badener Namensvetter vom Chefredaktor, dem es gefiel, Selfies seines Gemächts aus den Amtsräumen des Stadtammanns seiner Freundin zu schicken. Daraus entwickelte sich ein ziemliches Schlamassel, aus dem niemand unbeschädigt herauskam.

Nicht nur die direkt Beteiligten bekamen etwas ab; auch der PR-Mensch Sacha Wigdorovitz machte seinem Namen als Katastrophen-Sacha alle Ehre, allerdings in eigener Sache. 2017 war dann Ende Sonntagszeitung.

Arthur Rutishauser ist schon längst als Oberchefredaktor zu Tamedia abgeschwirrt, und obwohl der Verlag tönt, dass mit der «Schweiz Am Wochenende» der Sonntag halt schon etwas früher anfange, handelt es sich um eine Sparmassnahme. Denn so ersetzt die ehemalige Sonntagszeitung alle Samstag-Kopfblätter im Hause, und das sind seit dem Joint Venture mit der NZZ immerhin zwei Dutzend.

Saubere Aufteilung in drei Bünde

Mit Fr. 3.90 ist die SaW immerhin mit Abstand die günstigste Wochenendzeitung, der Leser kann also auch sparen. Was bekommt er dafür geboten? Wir haben die Ausgabe vom 8. August gewogen – und für leicht befunden.

Die SaW ist relativ sauber in drei Bünde aufgeteilt. Der erste Bund ist der Mantelteil, hier werden Inland, Ausland, Wirtschaft, der Geldonkel und die Kommentare abgefeiert. Je nachdem können im Inland auch lokale Themen von überregionaler Bedeutung reingehebelt werden, was ganz schön Koordinationsaufwand erfordert.

Sozusagen gesetzt war an diesem Wochenende das Thema «Schulstart». Hier kommt die SaW nicht über eine Pflichtübung hinaus. Riesiges Aufmacherfoto auf Seite eins, dann eine Doppelseite mit einem weiteren Bildanteil von mindestens ein Viertel. Lauftext, Interview mit dem Fachmann, der Blick ins Ausland. Dann beteiligt sich die SaW am obligatorischen Ratespiel, welche neuen Akzente wohl der SVP-Präsident aus dem Tessin setzen könnte, sollte er gewählt werden.

Wir überblättern das Ausland – und die Wirtschaft

Wir gönnen uns einen kräftigen Schluck doppelten Ristretto und überblättern das Ausland (Weissrussland, Kommentar zu Beirut und der abgängige Ex-König von Spanien). Dann auf einer Doppelseite ein Beitrag zum Thema «Journalisten interviewen Journalisten». Sprung über den Röstigraben, hat das der Blattmacher sicher genannt; also wird der Deutschschweizer Leser mit den Ansichten eines TV-Nachrichtensprechers aus der Welschschweiz in den Schlaf gewiegt. Anlass ist die welterschütternde News, dass er zu einem französischen Privatsender wechselt.

Auch die Wirtschaft leidet sichtbar unter der Hitze, Corona und Impfstoff, Glaceketten, bei der SBB regnet es in die Züge, na ja. Auf der Kommentarseite zeigt der Chefredaktor des St. Galler «Tagblatt», dass er mühelos in der Lage ist, so inhaltsleer, dabei aber so arrogant vor sich hin zu blubbern wie der publizistische Leiter Pascal Hollenstein.

Wespen und Verschweizerung

Nach mageren drei Seiten Sport beginnt im zweiten Bund der Teil «Regionen». Hier wird schön nach Kantonen verteilt abgefüllt, was da so anfiel. Wie schlimm es um die Nachrichtenlage steht, merkt man deutlich am Titel einer mit grossen Bildanteil auf mehr als eine Seite aufgeblasenen Story: «Wespen beschäftigen die Aargauer Feuerwehren». Auch einem als «Essay» angepriesenen Text «Basel verschweizert» wäre eigentlich nach einer Seite der Schnauf ausgegangen (und das wäre gut so gewesen). Aber mit einem über die Doppelseite gezogenen, riesigen roten Balken, sauber im Falz platziert das Kreuz, wird auch hier eine Doppelseite rausgeschunden.

Ein wunderbares Bildthema ist dann auch «Der Coronaleere auf der Spur». Eine Bilderreise zu, genau, leeren Orten und Plätzen. Wahnsinn, die Doppelseite zum Meditieren, ruhen und oooohm sagen.

Schliesslich noch sozusagen das Spielbein, der letzte Bund. Man merkt, dass es hier darum geht: Muss weg, erreicht sonst das Verfallsdatum. Also überrascht uns die SaW hier mit einem Dreiseiter über den US-Präsidentschaftskandidaten Joe Biden. Mann und Werk, ein fabelhafter Ausflug ins SMD, in Google und in ein paar Archive von US-Medien. Leicht geschüttelt und eiskalt serviert.

Wird das Wochenende länger?

Auch wenn die Salzburger Festspiele dieses Jahr nur ein reduziertes Programm anbieten; wenn man schon den Kulturredaktor ins Ausland lässt, Eintritte und Hotelaufenthalt zahlt, dann ist es klar, dass auch daraus mindestens eine Riesenstory werden muss. Und sonst, fällt etwas auf, bleibt etwas hängen? Ehrlich gesagt: nein. Selbst die Reise-Seite mit Tipps für schöne Schweizer Wasserlandschaften, nun ja. Immerhin: Es sieht so aus, als wären hier die eigenen Kräfte bemüht worden, ohne Sponsoring.

Wird also mit der «Schweiz am Wochenende» der Sonntag wirklich länger, beginnt er schon am Samstag, ersetzt sie den Inhalt der Samstagsausgaben, plus Mehrwert für den Sonntag? Sagen wir mal so: Nicht unbedingt. Das Wochenende kommt einem einfach länger vor, wenn man sich langweilt. Auf der anderen Seite hat man auch dieses Blatt relativ schnell durchgeblättert. Ohne dass man durch herausragende Artikel dabei behindert würde.

Bla Bla Blattkritik

Die Sonntagspresse im Test. Wer ist top, wer Flop?

Zugegeben, es mag unfair sein, ausgerechnet den 2. August als Testgrundlage zu nehmen. Samstag 1. August, Sommerloch, Höchststrafe für die Redaktoren, die sich dennoch genügend Themen aus den Fingern saugen müssen.

Auf der anderen Seite verlangen die drei Sonntagsblätter ja nicht weniger Geld für weniger Inhalt. Da schwingt der «SonntagsBlick» (SoBli) obenaus. Für Fr. 4.90 gibt es 39 Seiten Politik, People und Vermischtes, 39 Seiten Sport und 35 Seiten Magazin. Allerdings im Tabloid-Format, also werden die auf 56,5 Seiten umgerechnet. Die Verlagsbeilage 20/20 mit einigen sehr interessanten Formen von Schleichwerbung läuft ausser Konkurrenz.

Es gibt keine Primeurs oder Skandale

Die «SonntagsZeitung» (SoZ) will Fr. 6.- für 60 Seiten, die NZZamSonntag (NZZaS) gar Fr. 6.50 für ganze 48 Seiten. Obwohl deren Magazin «Sommerpause macht» und sich erst Mitte August zurückmeldet. Alle drei Blätter sind erschreckend-angenehm inseratefrei.

Gut, das ist die quantitative Analyse, viel wichtiger ist natürlich der Inhalt. Zunächst fällt auf, was es nicht gibt. Primeurs, Skandale, Enthüllungen. Das war früher das Geschäft von SoBli und SoZ, selbst die NZZaS war sich nicht zu schade, mal für Gesprächsstoff zu sorgen. Alle drei Blätter profitieren davon, dass Samstag weitgehend gegendarstellungsfreier Raum ist. Da kann man ungeniert holzen und dazu schreiben: War für eine Stellungnahme nicht erreichbar.

Diesen Sonntag aber ist der SoBli eindeutig das staatstragende Organ; er macht mit einem Interview mit Aussenminister Ignazio Cassis auf. Inhalt? Unwichtig, Interview mit Bundesrat ist immer gut. Die SoZ will Mut machen und behauptet «Die Schweiz trotzt der Krise», die NZZaS verlangt «Ruhe!» in der Natur und beklagt, dass der Bund «Impftests verschläft».

Der SoBli sorgt für Aufreger

Für die einzigen Aufreger sorgt der SoBli; er zwirbelt die unterschiedlichen Auffassungen von Bund und Kantonen zum «Corona-Chaos» hoch. Dann hat er sich den ehemaligen Immobilien-Chef der SBB zur Brust genommen. «Filz nach Schweizer Art» schimpft er, denn der ehemalige Chef der zweitgrössten Immobilienfirma SBB sammelt nach seinem Ausscheiden fleissig VR-Mandate – logisch bei Baufirmen und anderen Unternehmen, die mit den SBB zu tun haben.

Obwohl die SoZ den grössten Umfang hat, muss man sich bei der Lektüre durch energisches Umblättern wachhalten. «Velofahrer ärgern sich über die SBB», «Feuer unterm Zeltdach», «Die erste Madam President», alles Artikel mit hohem Schnarchpotenzial. Einzig ein munteres, aber nicht ganz taufrisches Stück, «Wie Schweizer Mafiosi ihr Geld gewaschen haben», unterbricht die Monotonie. Allerdings traut sich der Autor nicht, die Namen der darin involvierten Banken zu nennen. Oder er hat sie nicht rausgekriegt.

Die NZZaS lässt einen Taliban sprechen

In der guten alten NZZ-Tradition, auch Mikronesien nicht auszulassen, wenn es dem zuständigen Redaktor beliebt, informiert sie den Leser auf einer Seite darüber, warum sich der afghanische Bauer Abdul Maruf den Taliban angeschlossen hat. Im «Hintergrund» glänzt Daniel Meier mit einem kenntnisreichen Stück über Kermit, den Frosch. Es ragt auch deswegen heraus, weil  Werweisen über die Frage, ob Trump freiwillig das Weisse Haus nach einer Wahlniederlage räumt und die Erinnerung an 75 Jahre Abwurf der Atombomben auf Japan zur Gattung gehören: Kann man machen, muss man nicht machen.

Sonst? Sagen wir so: Wirtschaft plätschert so vor sich hin, und dass der auch schon 75-jährige Bassist von Deep Purple im Aargau wohnt, ist an kulturellem Gehalt kaum zu überbieten. Bei der SoZ war früher einmal das grosse Interview als Auftakt des «Fokus»-Bundes ein Markenzeichen. Diesmal darf der neue Zoodirektor Lebensweisheiten unter die Leute streuen wie «Bei einem Tiger kommt man leider selten davon».

Dann der Notnagel, eine Doppelseite «Wie war denn der 1. August», auf Seite 19, neben den Leserbriefen ein bemerkenswertes Korrigendum über ZACKBUM.ch. Auch die Wirtschaftsredaktion der SoZ hat eigentlich nichts zu melden; eine interessante Abhandlung über die Entwicklung der Zinsen seit 1317 entpuppt sich als Zusammenschrieb aus einer wissenschaftlichen Untersuchung zum Thema.

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Vom gleichen Autor, der schon mit der Mafia-Geldwäsche etwas für Unterhaltung sorgte, noch ein Stück über Schmiergeldzahlungen beim Bau der U-Bahn von Panama City. Nicht gerade überraschend, und auch nur ein Zusammenschrieb aus einem Bundesgerichtsurteil vom Mai. Dass Migros jetzt Schoggi von Coop verkauft, schafft es auch nur in der Saure-Gurken-Zeit zu fast einer Seite. Dass Frauen inzwischen offen dazu stehen, dass sie menstruieren; nun, das wollten wir Männer auch schon immer mal wissen.

Zur Abrundung entlässt einen die SoZ mit einer Seite redaktionelle Werbung für ein Töff und mit der Schmonzette, dass Bugatti eine Seifenkiste für Kinder auf edel getrimmt hat und für bis zu schlappen 60’000 Euro verkauft. Was darauf hinweist, dass der Artikel, wie viele andere auch, von der «Süddeutschen Zeitung» übernommen wurde und der bearbeitende Redaktor erschöpft war, nachdem er alle ß durch ss ersetzt hatte.

Dann folgen noch drei Seiten, die das Elend des Reisejournalismus bestens illustrieren. Lust auf Malta, eine Wandertour im Tirol oder patriotisch auf den Aletschgletscher? Die SoZ hat’s ausprobiert und findet’s grossartig. Super. Spitze, toll. Keinesfalls liegt das daran, dass bei allen drei Ganzseitern am Schluss verschämt steht «Die Reise wurde unterstützt durch …». Mit anderen Worten: bezahlte Werbung, die als redaktionelle Leistung daherkommt.

Eine überraschende Reihenfolge

Kassensturz am Schluss? Es fällt auf, dass die SoZ, aber auch zunehmend die NZZaS, mit übergrossen Fotos arbeiten. Der SoBli pflegte schon immer ein Boulevard-Layout mit hohem Bildanteil, knalligen Titeln, bunten Elementen. Bei der SoZ sind die bis zu halbseitigen Fotos, links und rechts von Textriemen umrandet, aber offensichtlich Platzhalter. Platzfüller.

Was erhält man also für insgesamt Fr. 17.40 (Einzelverkaufspreis)? 165 Seiten bedrucktes Papier. Natürlich rein subjektiv inhaltlich gewichtet: Die NZZaS hat mit dieser Ausgabe extrem enttäuscht. Kaum Lesenswertes, kaum Interessantes, kaum Hintergründiges, und das Magazin, kaum eingeführt, macht schon mal Pause.

Der SoBli zeigte sich interessanterweise staatstragend und sorgte mit dem Multi-VR für einen hübschen Aufreger. In der SoZ fielen nur zwei Stücke vom gleichen Autor über Gelwäsche und Schmiergelder positiv auf.

Es war also ein Kopf-an-Kopf-Rennen, aber zur eigenen Verblüffung ist die Rangordnung: 1. SoBli, 2. SoZ, 3. NZZaS.

 

 

Packungsbeilage: Der Autor war lange Jahre Auslandkorrespondent der NZZ, publiziert noch gelegentlich in der NZZ, hat aber in der NZZaS bislang ein einziges Mal einen Kommentar veröffentlicht.

Blattkritik: Das «Spiegel»-Bild heute

Hat sich das Nachrichtenmagazin von Relotius erholt?

Das Objekt der Blattkritik ist die «Spiegel»-Ausgabe vom 18. Juli 2020. Die Titelstory knüpft an bessere Zeiten an: «Der Wirecard Thriller» nimmt sich des wohl grössten deutschen Wirtschaftsskandals an.

Der ehemalige Börsenliebling und als deutsches IT-Wunderkind gehandelte Konzern erwies sich als Betrugsmaschine, es fehlen rund 2 Milliarden Euro in der Bilanz. Seine Nummer zwei ist abgetaucht, und den Spuren dieses Jan Marsalek geht ein Team von 18 Redaktoren auf etwas mehr als neun Seiten nach. Launig illustriert und knackig betitelt mit «Auf der Jagd nach Dr. No».

Tatsächlich fördert der «Spiegel» hier Neues und Erstaunliches zu Tage. Es geht um Libyen, Russland, Spionagesoftware und wirklich knackige Anekdoten wie aus einem Bond-Film. Sauber chronologisch aufgearbeitet, hier spielt das Blatt seine Manpower und seine Fähigkeit, ein Recherchepuzzle süffig aufzubereiten, voll aus.

Rechthaber statt Recherche

Weniger glorios ist allerdings noch vor der Titelstory das erste Meinungsstück. Seit einiger Zeit leistet sich der «Spiegel» einen «Leitartikel». Hier erhebt der deutsche Oberlehrer sein hässliches Haupt: «Es reicht jetzt», kanzelt er Ungarns Premier und seine «illiberalen Freunde» ab. «Höchste Zeit», «Wesenskern würde beschädigt», hier wird mit dem Zeigefinger gefuchtelt, als würde irgend jemand auf die Ratschläge eines Journalisten hören.

Dem Zeitgeist geschuldet ist auch, dass jedes der klassischen Ressorts, zuerst «Deutschland», mit inzwischen fünf Seiten Kurzfutter eingeleitet wird. Ebenfalls den Mantel in den Wind hängt der «Spiegel» mit einem länglichen Stück über die Politik als Männerdomaine. Dann kommt etwas, was es seit Jahren nicht mehr gegeben hat, ein neues Ressort: Reporter.

Das beinhaltet, Überraschung, Reportagen. Offensichtlich die Wiedergutmachung für den Schaden, den der Fake-Reporter Claas Relotius anrichtete. Dessen Reportagen entsprachen zwar genau den Wünschen und der Gesinnung der Redaktion, hatten aber den kleinen Nachteil, dass sie über weite Strecken schlicht erfunden waren.

Das klassische «Spiegel»-Gespräch»

Im grossen Wirtschaftsstück «Masslose Macht», dem Aufmacher einer Serie über die zunehmende Dominanz des Staates in der Wirtschaft, merkt man deutlich, wie zwischen Kritik an staatlichen Monopolbetrieben und an «übertriebenen» Privatisierungen geeiert wird. Besonders hier zeigt sich, dass der «Spiegel» nun beileibe nicht in erster Linie ein Nachrichtenmagazin ist. Sondern ein Meinungsblatt. Es will nicht spiegeln, allenfalls einordnen und analysieren, es will nicht nur erklären, sondern richten.

Ein schönes Stück alter «Spiegel»-Kultur ist das Interview mit dem ehemaligen Sicherheitsberater des US-Präsidenten, John Bolton. Der hatte schon mit einem Enthüllungsbuch mit Trump abgerechnet. Im Gespräch erweist sich die alte Kriegsgurgel als schlagfertiger und gebildeter Mensch. Wunderbar seine Sottise, als er gefragt wird, ob dem Präsidenten eine Rede Merkels über Multilateralismus auf die Nerven gegangen sei: «Trump weiss wahrscheinlich gar nicht, was Multilateralismus ist.»

Politisch korrekt ist dann aber das Interview mit den beiden Journalistinnen, die den Hollywood-Mogul Harvey Weinstein wegen seinen sexuellen Übergriffen zu Fall brachten. Und nach 130 Seiten, auch das ist dem Zeitgeist geschuldet, ist dann Schluss.

€ 5.50 kostet das, in der Schweiz unverschämte Fr. 8.10. Früher war Montag obligatorischer «Spiegel»-Tag für sehr viele Deutsche, auch für mich. Seit 1995 ist die Auflage von über einer Million auf 700’000 zurückgegangen, und Erscheinungstag ist Freitag.

Im deutschen Sprachraum unerreicht

Von Fake Journalismus scheint sich das Magazin gut erholt zu haben, und wenn es wie bei dieser Titelgeschichte seinen journalistischen Muskel anspannt, ist es zumindest im deutschen Sprachraum unerreicht. Auch dem Zeitgeist geschuldet ist die immer grosszügigere Bebilderung mit auch ganzseitigen Fotos. Das hatte das Blatt früher nicht nötig, ein Gewinn ist’s nicht.

Überhaupt nicht erholt hat sich der «Spiegel» aber von seiner krachenden Fehleinschätzung, dass Donald Trump keine Chance habe, US-Präsident zu werden. Seither verfolgt ihn das Blatt hasserfüllt, beschimpft ihn als «Brandstifter» ruft «Das Ende der Welt» aus und tut so, als wäre es seine Aufgabe, den Präsidenten wegzuschreiben. Wie meist, wenn Journalismus Gesinnung zeigen will, ein Zeichen setzen, warnen, aufrufen, wird’s schal und unerträglich. Würde der «Spiegel» wieder vermehrt versuchen, dem Motto seines Gründers zu folgen, «sagen was ist» statt «sagen, wie’s sein sollte», dann wäre er wieder geniessbar.

Aber bei all seinen Schwächen, bei allen Zerrbildern, die er aus der Realität widerspiegelt: Natürlich bleibt er unverzichtbar für die politische Debatte im deutschen Sprachraum. Bis heute kann ihm kein anderes Blatt das Wasser reichen. Was ein Lob und auch ein Armutszeugnis ist.