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Trinkgenuss gegen Trinkverdruss

Au weia. Wenn der Tagi und die NZZ über Flaschendeckel schreiben …

Statt tiefschürfender Analyse über Niveauunterschiede zwischen den beiden Zürcher Tageszeitung genügt der Vergleich von zwei Artikeln zum gleichen Thema. Vorgelegt hat Isabel («die Ente») Strassheim im Tagi. Sie lobt: «Der Lass-mich-dran-Deckel ist super» und salbadert:

«Es erstaunt, wie viele Menschen ihr Trinkerlebnis höher gewichten als eine intakte Umwelt.» Kein Deckelchen zu klein, Weltretter zu sein: «Viel besser wäre es, den neuen Deckel als Weckruf zu begreifen.» Genau, wacht auf, Ihr Sünder, und haltet ein, ruft der Deckel.

Selten so gelacht.

Aber nun kommt es knüppeldick, denn in der NZZ hat sich Birgit Schmid des gleichen Themas angenommen.

Hier geht es nicht nur um eine Meinungsverschiedenheit, sondern um einen Niveauunterschied. In der Schreibe, im intellektuellen Niveau, in der Durchdringung des Themas.

Denn Schmid macht den Deckel zu einem Lehrstück über Bevormundung: «Der Deckel ist nun festgemacht am Flaschenhals, was das Trinken mühseliger macht. Die Leute werden belehrt, wie korrektes Trinken geht. Nicht durch Ratschläge, an die man sich halten kann oder die man trotzig missachtet. Sondern man hat keine Wahl.»

Die praktische Handhabung stellt auch den geübten Trinker vor Probleme: «Man schraubt den Deckel auf und klappt ihn an der Lasche zurück. Mit einem Klickgeräusch sollte der Deckel einrasten. Nur kommt er nun beim Trinken in die Quere. Er drückt in die Backe oder, je nach Grösse derselben, auf die Nase.»

Nun ist es so, dass in der Schweiz (und auch in Deutschland) weit über 80 Prozent der PET-Flaschen rezykliert werden, die allermeisten mit Deckel.

«Bis anhin ging das auch ohne Bevormundung. Man zerquetscht die Flaschen und schraubt den Deckel fest, damit die Luft draussen bleibt. Darauf achtet man schon allein deshalb, weil die letzten Tropfen des klebrigen Süssgetränks oder des Minerals nicht in die Einkaufstasche fliessen sollen.
Ob mit der neuen Regelung wirklich mehr Plastik eingespart wird, will die EU bis 2027 analysieren. Bis dann sind die Deckel gekommen, um an der Flasche zu bleiben.»

Kein erhobener Zeigefinger, keine Leserbeschimpfung («Trinkerlebnis höher Gewichten als eine intakte Umwelt»), keine falsch interpretierten Statistiken, keine schiefen Sprachbilder («Deckel als Weckruf»). Dafür eine elegant-ironische Abrechnung mit einem typischen EU-Bürokratenfurz, der viel Aufwand mit zweifelhaftem Ertrag verbindet und sich würdig in die Reihe von Nonsensbestimmungen über die richtige Krümmung der Banane oder die korrekte Herstellung einer Pizza einreiht.

Bei der NZZ ist man leise amüsiert, beim Tagi kräftig verstimmt. Die NZZ will den Leser informieren und unterhalten, der Tagi will verkniffen belehren und schulmeistern.

In der NZZ legt man Wert auf eine elegante Schreibe, im Tagi holpert der Gesinnungsjournalismus. Aber das passt ja auch zu einem Blatt, das eine Beschwerde einer einzigen Frau über angeblich spannende Männer zu einem Dauerbrennerthema macht und bedauernd feststellt, dass blosses Schauen in der Öffentlichkeit (noch) nicht strafbar ist.

Rechthaberei und Fanatismus und das Erfüllen der Weltrettungsmission ist immer mit  mehr als bedauerlicher Humorlosigkeit verbunden. Mit einer knäckebrot-trockenen, staubenden Lustlosigkeit, Miesepetrigkeit, dass man sich fragt, ob diese Schreiber beim Tagi an überhaupt irgendwas im Leben Spass haben. Ausser an der moralinsauren Zurechtweisung mit wackelndem Zeigefinger und flackerndem Blick.

Wumms: Birgit Schmid

Welch eine Wohltat, ein Labsal: ein niveauvoller Kommentar zu Rammstein.

Dumpfes Schweigen umweht den mit Abstand schlausten Kommentar zum medialen Skandal um den Rammstein-Sänger Till Lindemann. Vielleicht hat Birgit Schmid den falschen Titel gewählt («Der Wüstling»). Aber diese knapp 12’000 Anschläge wiegen jeder für sich alles auf, was in diesem Zusammenhang bislang gequatscht, gelabert, gejammert, vorverurteilt und geheuchelt wurde.

Wie armselig wirken da die Kommentatorenzwerge von «Tages-Anzeiger» über «Süddeutsche Zeitung» bis hin zu «Spiegel» und sogar FAZ.

Eine bemerkenswerte Überlegung wird bei Schmid auf die andere gestapelt: «Man soll das Werk vom Leben ihres Erschaffers losgelöst betrachten. Heute passiert das Gegenteil. Künstler werden gecancelt, bloss weil da in der Vergangenheit vielleicht einmal etwas war, was sich nicht beweisen lässt; weil einem eine politische Haltung nicht passt oder ein Werk als anstössig empfunden wird.»

Schmid geht als Erste (!) der Person Lindemanns nach, seinem Werdegang, seinen Beeinflussungen. Um solche Sätze über den Bildungshintergrund Lindemanns zu schreiben, muss man selbst gebildet sein: «Der Sänger liess sich dabei von E. T. A. Hofmanns «Der Sandmann» inspirieren. Mit seinem Hang zum Unheimlichen, das er gerne auch parodiert, beerbt er die deutschen Romantiker. Theodor Fontane, Joseph von Eichendorff, aber auch Goethe und Schiller oder Bertolt Brecht. Im «Fänger im Roggen» erkannte sich Lindemann als Jugendlicher wieder, in der Figur des herumstreunenden Teenagers Holden Caulfield.»

Statt nur die tabubrechenden, pornografischen Liedzeilen zu zitieren, die Lindemann um die Ohren geschlagen werden, erwähnt Schmid auch den leisen Lyriker:

«Ich werde in die Tannen geh’n,/ Dahin, wo ich sie zuletzt geseh’n/ Doch der Abend wirft ein Tuch aufs Land/ Und auf die Wege hinterm Waldesrand.»

Schmid verurteilt nicht, sie urteilt. Sie begibt sich auf Spurensuche, erkundet die Spalten und Abgründe zwischen der Kunstfigur auf der Bühne und dem Menschen. Wer selber primitiv und blöd ist, zudem nur ein sehr leicht geschnürten Bildungsrucksack hat – wie die meisten Kommentatoren von Tamedia ab- und aufwärts – sieht nur das Plakativ-Primitive bei Lindemann.

Lindemann als protofaschistisch, gar als Nazi abzustempeln, das heisst, seine Texte so missverstehen wie weiland Trottel Ronald Reagan, der Bruce Springsteens «Born in the USA» für ein Amerika verherrlichendes Lied hielt.

Wer hingegen fast die Flughöhe von Walter Benjamin (Kindersoldaten, googeln, oder besser: vergesst es) hat, kommt zu diesem Schluss:

«Die einen empfehlen Till Lindemann eine Therapie, damit er sich von seiner Triebhaftigkeit kuriere. Noch lieber sähen sie ihn vor Gericht. Die anderen hören hinter seinem Toben und der Grobheit Verzweiflung heraus und Einsamkeit. «Doch wenn die Wolken schlafen gehen,/ Kann man uns am Himmel sehen», heisst es im Lied «Engel». «Wir haben Angst und sind allein./ Gott weiss, ich will kein Engel sein.»»

Ein Labsal von Kommentar in der wüsten Wüste der herrschenden Gedankenlosigkeit. Wo kleine Lichter grosse Schatten werfen, in der Abenddämmerung der Kulturlosigkeit.

 

Quo vadis, NZZ?

Neben viel Intelligentem gibt es immer wieder bestürzend Dummes.

Der Kommentar «Noch nie ging es Frauen so gut» von Birgit Schmid in der NZZ strotzt vor Intelligenz, gutem Sprachgebrauch und Argumenten. Sie zerlegt die neue Weinerlichkeit, zu der europäischer, Schweizer Feminismus denaturiert ist. Je mehr er Phantomschmerzen bejammert, desto hysterischer wird er.

Damit zeigt Schmid auch durchaus Mut; logisch, wird ihr kleines Wunderwerk in feministischen Kreisen mit finsterem Schweigen beantwortet; dort bereitet man sich bereits auf den «Frauenstreiktag» am 14. Juni vor.

Auch viel Mut zeigt Andreas Rüesch mit seinem NZZ-Kommentar «Mehr Freiheit, weniger Neutralität». Allerdings ist es bei ihm Mut zur offen gezeigten Dummheit. Im Titel missbraucht er den alten FDP-Slogan «Mehr Freiheit, weniger Staat». Wie soll nun aber mehr Freiheit durch weniger Neutralität entstehen? Angesichts des Ukraine-Kriegs diagnostiziert Rüesch in der Schweiz «zwei Lager: die Fundamentalisten und die Schlaumeier». Mit diesen beiden abwertenden Begriffen meint er die Verteidiger der strikten Neutralität, die auch gegen Wirtschaftssanktionen gegen Russland seien. Und diejenigen, die eine «Lockerung» der Neutralität anstrebten, damit die Ukraine sogar mit Waffenlieferungen direkt oder indirekt unterstützt werden könnte.

Beides sei falsch, denn: «Neutralität ist nur so lange etwas wert, als sie vom Ausland anerkannt und geschätzt wird. Das trifft je länger, je weniger zu», weiss Rüesch, bleibt aber jeden Beweis dafür schuldig. Stattdessen greift er weit in die Geschichte zurück und wiederholt Altbekanntes, von 1689 an. Dann springt er schnell zur Nachkriegsordnung nach 1945, lässt aber beispielsweise den Vertrag von Versailles von 1919 aus, in dem die Neutralität der Schweiz «zum Zweck der Aufrechterhaltung des Friedens» anerkannt wurde.

Nach dieser selektiven Auswahl aus der Geschichte meint Rüesch, durch Wiederholung werde sein Argument besser: «Unter dem Eindruck des Ukraine-Krieges nähert sich das ausländische Verständnis für die schweizerische Neutralität jedoch dem Nullpunkt. Aus den USA und der EU hagelt es Kritik an einer Politik, die als unsolidarisch und egoistisch betrachtet wird. Der ganze Westen hat sich angesichts der Bedrohung aus Russland einen Ruck gegeben, nur die Schweiz scheint die Zeitenwende zu verschlafen.»

Deutschland zum Beispiel hat sich den Ruck gegeben, die eigenen Waffenexportgesetze über Bord zu werfen; die USA geben sich gerade den Ruck, die Lieferung von Kampfflugzeugen nicht mehr kategorisch auszuschliessen. Aber die Schweiz habe die «Zeitenwende verschlafen», dass Rechtsstaatlichkeit keine Rolle mehr spielen soll. Was für ein aufeinandergestapelter Unsinn.

Repetitiv salbadert Rüesch, dass auch «befreundete Staaten» angeblich «befremdet» darüber seien, was immerhin Bundesrat Alain Berset bei seinem Besuch in Deutschland mal wieder klargestellt hat: die Schweiz hält sich an ihre Gesetze. Punkt. Befremden, Kritik daran, dass die Schweiz ein Rechtsstaat ist, das sollte nun niemanden, auch Rüesch nicht, ernsthaft ins Wanken bringen.

Völlig unverständlich wird er, wenn er sogar einen «wachsenden Reputationsverlust» befürchtet, wenn «die Schweiz die Krise auszusitzen versucht und auf ihrer Tradition beharrt». Himmels willen, ist denn nun auch in der NZZ alles erlaubt? Das Befolgen von Gesetzen, die Anwendung der vertragliche garantierten Neutralität, mit der die Schweiz im Übrigen durch zwei Weltkriege hindurch nicht schlecht gefahren ist, sei nun «aussitzen» und «beharren auf Traditionen»? Soll man also nicht länger auf der Tradition beharren, die Bundesverfassung und andere Gesetze ernst zu nehmen und ihnen nachzuleben, auch wenn das als «aussitzen einer Krise» missverstanden wird?

Behauptungen statt Argumente, nun läuft Rüesch in die Zielgerade ein: «Eines ist klar: Die Neutralität hat ihre ursprüngliche Raison d’être längst verloren.» Wem ist das klar, wieso sollte das so sein, was hat sich geändert? «All dies ist passé, da unsere Nachbarn längst in Frieden miteinander leben. Die Schweiz ist nicht mehr neutral, weil sie damit einer Staatsräson folgt, sondern weil die Neutralität Teil einer kaum noch hinterfragten nationalen Identität geworden ist.»

Unsere Nachbarn leben zurzeit in Frieden miteinander. Entweder glaubt auch Rüesch an das Ende der Geschichte, oder aber, das könnte sich im Verlauf der kommenden Jahrzehnte durchaus wieder ändern. Man denke nur an die vielen internen Probleme, die sich in Italien, Frankreich, aber auch Deutschland aufstapeln.

Oder verlängern wir Rüeschs Gedankengang nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit. Laut ihm hätte sich die Schweiz also auch spätestens ab 1939 einen Ruck geben sollen, nicht länger auf überkommenen Traditionen verharren, den Zweiten Weltkrieg nicht «aussitzen», sondern die «Freiheit von Europa» nicht zuletzt mit Waffenlieferungen an die Alliierten stärken sollen? Selbst Rüesch sollte dazu in der Lage sein, sich auszumalen, was das bewirkt hätte …

Was wäre denn heute die Alternative zur angeblich obsolet gewordenen Neutralität? Da wirft Rüesch den nicht gerade originellen Begriff der «Bündnisfreiheit» in die Runde. Genauer: Die Schweiz könne «gefahrlos ihre Politik der dauernden Neutralität aufkündigen und zu einer fallweisen, «einfachen» Neutralität übergehen».

Jetzt ist die Katze aus dem Sack. Neutralität von Fall zu Fall. Das passt zu Rechtsstaatlichkeit von Fall zu Fall.  Und wer oder was entscheidet, wann man es mal nicht so eng sehen sollte mit der Neutralität? «Der jetzige Fall eines Aggressionskrieges in Europa, der auch Schweizer Interessen mit Füssen tritt, wäre das Paradebeispiel einer solchen Konstellation.»

Pardon, welche Schweizer Interessen werden durch die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Russland und der Ukraine «mit Füssen getreten»? Laut Rüesch in erster Linie die Interessen der Schweizer Rüstungsindustrie: «Die Schweiz bliebe frei von Bündnispflichten, aber sie gewänne ungeahnte Freiräume in der Verfolgung ihrer Interessen hinzu, erlöst aus der Zwangsjacke ihrer bisherigen Aussenpolitik. Zugleich öffnete sich ein Weg, um die Freiheit Europas zu stärken – mit der Lieferung von Militärmaterial an die Ukraine, die in ihrem Überlebenskampf auch auf die Schweiz angewiesen ist

Ohne Schweizer Hilfe könnte die Ukraine ihren Überlebenskampf verlieren, mit ihr gewinnen? Welch ein unfassbarer Unsinn.

«Zwangsjacke, erlöst, Freiheit» für Waffenhändler und -hersteller? Was für ein armseliges Bild soll die Schweiz abgeben, wenn es nach Rüesch ginge. Glücklicherweise geht es nicht nach ihm; aber dass ausgerechnet die NZZ ihm den Platz einräumt, diesen Anschlag auf die Fundamente des Schweizer Rechtsstaats zu unternehmen und ungeniert die Interessen der Schweizer Rüstungsindustrie zu vertreten, das ist beunruhigend.