Sterben in den USA
Ein Doppelschlag von NZZaS und SoZ über die sinkende Lebenserwartung.
Die USA wollen Vorbild sein. Freiheit und Demokratie überall in die Welt bringen. Wenn die Ukraine dafür kämpft, sind sie zuvorderst dabei.
So das wohlgeölte Propagandabild. Die Realität ist eine andere. Zufällig haben sich sowohl die NZZaS wie auch die SoZ dem Thema «Geraubte Leben» in den USA angenommen. Die NZZaS etwas grundsätzlicher und umfangreicher. Erschreckende Bilanz: «Die Lebenserwartung in den USA fällt fast auf das Niveau von Kuba».
Ein gutes Stichwort. Schon 2007 kritisierte der US-Regisseur Michael Moore in seinem halb-dokumentarischen Film «Sicko» das marode US-Gesundheitssystem, in dem 16 Prozent der Bevölkerung nicht einmal eine Krankenversicherungen haben und weitere Millionen nur eine ungenügende, die ihnen Behandlungen verweigert oder happige Zuzahlungen verlangt. Als Kontrast dazu reiste Moore nach Kuba, an Bord hatte er erkrankte Freiwillige, denen in den USA eine Behandlung verweigert wurde. In Kuba wurden sie kostenlos verarztet.
Natürlich war das propagandistisch überspitzt. Aber in den USA sind Tod und Lebenserwartung extrem klassenspezifisch. Menschen mit Migrationshintergrund, die in ärmlichen Vierteln leben, tun das entschieden weniger lang als reiche Hellhäutige.
«Dabei haben Experten diese Flut des Todes schon lange kommen sehen. Aron und Woolf waren 2013 an der gross angelegten Vergleichsstudie «Shorter Lives, Poorer Health» beteiligt, die fundamentale Faktoren hinter dem Rückschritt Amerikas gegenüber anderen Staaten bei der Lebenserwartung identifiziert hat. Doch die Gesundheits-Bürokratie unter Präsident Barack Obama liess die Studie in der Schublade verschwinden.
Seither sinkt die Lebenserwartung immer schneller, aber die Politik schaut zu.»
Ein weiteres Versagen des Friedensnobelpreisträgers Obama, der trotz seinen vielen Vorschusslorbeeren wohl der überschätzteste US-Präsidenten der letzten 20 Jahre ist.
Weitere Faktoren sind der überhandnehmende Schusswaffengebrauch, Suizide und schwer im Kommen: Drogen.
Dabei wurden Klassiker wie Kokain, Heroin oder Crack durch synthetische Drogen abgelöst. Besonders heimtückisch ist Fentanyl. Eigentlich als Schmerzmittel entwickelt, gehört es zur Familie der Opioiden. Seit Anfang der 80er-Jahre trat es seinen Siegeszug in den USA als billige Droge an. Es wird vor allem in China hergestellt; heutzutage liefert China die Rohstoffe nach Mexiko, wo Fentanyl dann gebraut wird und in die USA geschmuggelt.
Das Teuflische an der Droge ist, dass sie unvergleichlich stärker ist als die klassischen Opiate. Bereits 2 Milligramm stellen für die meisten Menschen eine tödliche Dosis dar. Auf dem Schwarzmarkt sind solche Gewichtsabmessungen illusorisch, zudem wird natürlich auch Fentanyl gestreckt, also weiss der Konsument nie, in welcher Reinheit er den Stoff bekommt. Kein Wunder, dass Fentanyl auch Bestandteil des Cocktails ist, mit dem in den USA die Todesstrafe per Spritze vollzogen wird.
Schon 2019 veröffentlichte der US-Investigativjournalist Ben Westhoff sein Buch «Fentanyl. Neue Drogenkartelle und die tödliche Welle der Opioidkrise», in dem er minutiös den Weg der neuen Drogen von der Herstellung bis zum Konsumenten nachzeichnete. Es fand kaum Resonanz.
In der SoZ interviewt Michèle Binswanger den US-Journalisten Barry Meier. Der hatte bereits 2003 ein Buch darüber veröffentlicht, wie eine kleine Pharmafirma namens Purdue ein Schmerzmittel auf den Markt pushte. Es versprach, den Menschen Schmerzen zu nehmen, wobei die Gefahr der Entwicklung einer Sucht oder Abhängigkeit bei unter einem Prozent liege. Das Buch hatte kaum Resonanz.
Das Mittel heisst Oxycontin, es kostet hunderttausenden von Menschen in den USA das Leben, hat eine Spur der Zerstörung in Familien und ganzen Gemeinden hinterlassen. In einer geradezu brutalen Serie hat Netflix diesen Skandal nachgezeichnet. In «Painkiller» beginnt jede Folge mit der Schilderung von gebrochenen Menschen, die einen nahen Angehörigen wegen Oxycontin verloren haben. Ihre Geschichte sei echt, nachfolgend sei aus dramaturgischen Gründen Realität und Fiktion gemischt worden.
Es ist die Story, wie eine gnadenlos süchtig machende Droge über Jahrzehnte legal als Arzneimittel verkauft werden konnte. Wie kam Purdue damit durch? Meier:
«Mit schmutzigen Tricks brachten sie die Zulassungsbehörde, Ärzte und Apotheker dazu, das Suchtpotenzial ebenfalls herunterzuspielen. Daraus wurde dann eine grössere Story zum Thema, wie wir mit Schmerz umgehen, wie wir Schmerz behandeln, wie die Pharmaindustrie operiert und die Lügen, die sie erzählt, um ihre Produkte zu verkaufen. … Sie bestachen Politiker, bezahlten Lobbyisten wie der ehemalige Bürgermeister von New York und Trump-Unterstützer Rudy Giuliani, Ärzte und Apotheker.»
Ein typischer US-Skandal besteht darin, dass die Familie Sackler zwar nach vielen Jahren dazu gezwungen wurde, die Firma Purdue in Konkurs gehen zu lassen und eine vergleichsweise lächerliche Entschädigung von 2,5 Milliarden Dollar zu zahlen. Ihr Privatvermögen wird heute immer noch auf 11 Milliarden US-Dollar geschätzt.
In der Netflix-Doku werden Sacklers als Bande von psychopathischen Monstern gezeichnet, die skrupellos nur am Geldverdienen interessiert sind und alles dafür taten, um möglichst lange Profit mit dem Elend von Millionen machen zu können. Das Management wurde zwar angeklagt, aber kein einziger Sackler; niemand musste auch nur einen Tag in den Knast für all diese Untaten. Wie ist das möglich, wer ist dafür verantwortlich?
«Das Justizdepartement, ganz klar. Anstatt Purdues Führungscrew persönlich zur Verantwortung zu ziehen, setzten sie die lokalen Ermittler unter Druck, die Anklagen fallen zu lassen. Die kamen mit einer harmlosen Rüge davon.
Das hat in den USA Tradition. Wirtschaftskriminelle werden bei uns selten belangt. Auch hier gelang es den Anwälten grosser Anwaltsfirmen, sich beim Justizdepartement einzuschmeicheln. Da sitzen dann Kollegen zusammen, und der eine überzeugt den anderen, warum eine Anklage total unfair wäre und dass man die Sache doch lieber mit einem harmlosen Verweis erledigen solle.»
Zufall oder Absicht, mit solchen (seltenen) Lichtblicken versöhnt die Sonntagspresse. Gelegentlich. Selten. Sehr selten.