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Vergewaltigung: Der Mob tobt sich aus

Sexualdelikte lassen die Emotionen hochgehen. Leider auch in den Medien, wo Abscheu und Unkenntnis einen fatalen Mix ergeben.

Es muss befriedigend sein, wenn man unbeleckt von jeglichen juristischen Kenntnissen einfach mal losheulen darf. In der Erregungsmaschine Soziale Medien ist das Geschäftsprinzip (und füllt die Taschen der Betreiber). Hier müssen Kommentare möglichst kurz, dumm und knackig sein.

Hier tobt der Mob sich anonym aus.

Anlass für die aktuelle Erregung (die genauso schnell verschwinden wird wie alle ihre unendlich vielen Vorgänger) ist das Urteil des Appellationsgerichts Basel-Stadt über einen Vergewaltigungsfall. In zweiter Instanz reduzierte es das Strafmass für einen Vergewaltiger. In der mündlichen Urteilsbegründung verstieg sich die Richterin zur Aussage, dass «das Opfer mit dem Feuer gespielt» habe.

Zudem habe das Vergewaltigungsopfer zuvor bereits alkoholisiert ein einverständiges Techtelmechtel auf einer Toilette abgehalten und sei bereits 2017 wegen einer Falschbeschuldigung verurteilt worden. Das änderte aber nach Meinung des Gerichts nichts an der Beurteilung, dass es sich um eine Vergewaltigung gehandelt habe. Lediglich das Strafmass wurde gesenkt.

Mittelalter …

Das führte erwartungsgemäss zu einem Aufschrei an den Klowänden des Internets, vor allem auf Twitter. Das hier ohne viel Kenntnis, aber mit viel Meinung polemisiert und geholzt wird, ist nichts Neues.

… oder Ohrfeige.

Erschreckend ist mehr die Reaktion in den sogenannten Qualitätsmedien. Herausragend wie meist Tamedia, diesmal in Gestalt des Lokalorgans «Basler Zeitung». Da keift Mirjam Kohler sofort nach der mündlichen Urteilsverkündigung los:

«Es gibt ein Wort dafür: Opfer-Täter-Umkehr. Schuld ist nicht der kurze Rock, nicht der Alkoholkonsum des Opfers. Sondern der Täter. Dass dieser moralisch-geschwängerte Mechanismus einen positiven Einfluss auf das Strafmass eines Vergewaltigers hat, ist beschämend und skandalös.

In unserem Justizsystem muss sich Grundlegendes verändern.»

Eine weitere Kindersoldatin des Journalismus; nach ein paar mehrmonatigen Praktiken, unter anderen beim Qualitätstitel «bajour», ist sie seit April Teilzeit-Redaktorin bei der BaZ. Nun hat jeder – auch jede – das Recht, klein anzufangen und noch viel dazuzulernen. Aber gleich so den Mund aufzureissen und grundlegende Veränderungen in unserem Justizsystem zu fordern: dazu müsste man schon ein paar juristische Grundkenntnisse aufblitzen lassen – statt gesinnungsgeschwängerter Leere.

Keiner zu klein, Kommentator zu sein

Auch «20 Minuten» begibt sich aus seiner Haltung der Nicht-Kommentierung mit dem Titel:

««Sie hat mit dem Feuer gespielt» – Vergewaltiger wird von Appellationsgericht belohnt»

Der «Blick», weit entfernt von früheren Verhaltensweisen gegen Frauen, zitiert fleissig: «Das Urteil sorgt für Empörung. Agota Lavoyer, Leiterin Beratungsstelle Opferhilfe Solothurn, twitterte: «Basel 2021: Das Gericht lastet einer Frau Mitverantwortung für ihre Vergewaltigung an, weil (Achtung!) sie mit einem anderen Mann herumgemacht habe an dem Abend.»» Dieser Empörung schliesst sich Autorin Andrea Cattani offenbar an.

Wo Empörung ist, ist der sogenannte Nachzug nicht weit. Man hält das Thema am Köcheln, indem man als Brandverstärker Berufene und Politiker zitiert. Macht kaum Arbeit, füllt aber ungemein Platz: «Politikerinnen von rechts bis links sind sich in der Frage ungewohnt einig. Franziska Stier vom feministischen Streikkollektiv Basel sagt: «Das ist eine Urteilsbegründung aus dem letzten Jahrhundert. So was erwarte ich heutzutage von einer Richterin nicht mehr. Die Signalwirkung des Urteils an alle Betroffenen ist verheerend, ein Schlag ins Gesicht»», zitiert Kohler.

«Ronja Jansen, Präsidentin der Juso Schweiz, pflichtet bei und sagt: «Auch die Vermischung von einvernehmlichen sexuellen Handlungen und Vergewaltigungen, die bei diesem Fall gemacht wurde, ist ein Affront für alle Betroffenen von sexueller Gewalt und skandalös. Unser Sexualstrafrecht ist unzureichend und hat mit der Realität oft nicht viel zu tun.» Die Grossrätin Annina von Falkenstein (LDP) kritisiert das Urteil ebenfalls: «Der Fall zeigt einmal mehr, dass die Integrität von Frauen zu wenig gewichtet wird.» Laetitia Block, Präsidentin der Jungen SVP Basel-Stadt, kommentiert: «Aus juristischer Sicht ist das Recht bei Vergewaltigungen viel zu milde. Wir brauchen dafür eine viel höhere Mindeststrafe.»»

Noch mehr Strafrechtsspezialisten gehen ans Gerät

Natürlich bringt sich auch Strafrechtler Dennis Frasch von «watson» mit einem fundierten Urteil in die Debatte ein: «Juristisch heikel einzustufen ist dann ein weiterer Punkt der Urteilsbegründung: Das Vergehen werde relativiert durch «die Signale, die das Opfer auf Männer aussendet», so die Gerichtspräsidentin. Dabei bezog sie sich vor allem auf das «Verhalten im Club», wo sich die Frau offenbar mit einem anderen Mann in eine Toilette zurückzog.»

Dennis Frasch, ein weiterer Kindersoldat und Multitalent, der alles wegschreibt, was ihm auf den Bildschirm gerät.

Twitter: Keine Ahnung, aber viel Meinung.

Aber, nach Bedenkfrist, am 5. August rafft sich sogar die NZZ zu einem Stirnrunzeln auf: ««Man muss feststellen, dass sie mit dem Feuer spielte»: Diesen verhängnisvollen Satz soll eine baselstädtische Gerichtspräsidentin am vergangenen Freitag bei der Urteilseröffnung in einem Vergewaltigungsfall von 2020 gesagt haben. Irritierend ist dies, weil das Gericht eine Schuldminderung des Täters nicht zuletzt mit diesem Hinweis auf das Verhalten des Opfers begründet haben soll. Das berichteten mehrere Medien sowie verschiedene beim Prozess Anwesende, mit denen die NZZ im Kontakt war. Die NZZ war bei der Urteilsverkündung nicht dabei.» Hier kommt strafverschärfend hinzu, dass der Autor Daniel Gerny tatsächlich über juristische Kenntnisse verfügt.

Das kann man hingegen von diesem Schreihals im «Papablog» von Tamedia nicht sagen:

«Unglaublich absurdes Gerichtsurteil.»

«Weil das Opfer betrunken war, freizügig gekleidet oder weil es gerne Sex mit wechselnden Partnern hat. Die gleiche misogyne Scheisse, immer und immer wieder. Was das mit Kindern und dem Papablog zu tun hat? Ich will, dass einvernehmliches Verhalten und Gewaltfreiheit Schulfach wird. Ich will, dass Schulklassen dieses Urteil auseinandernehmen, anschreien, zerreissen und sich ein besseres ausdenken.»

Nils Picker ist also dafür, dass Kinder an die Macht kommen, wie schon Herbert Grönemeyer forderte. Wieso überlässt er die Beurteilung nicht dem Mob? Oder dem «gerechten Volkszorn»? Wieso nicht der gute alte Pranger mit Anschreien und Anspucken? Wieso eigentlich nicht einfach abstimmen? Dabei alle Möglichkeiten anbieten: Kopf ab, Schwanz ab, lebenslänglich, Verwahrung, beim fröhlichen Jekami.

Ob ein paar Lektionen Rechtskunde nützen?

Das Appellationsgericht Basel-Stadt sah sich genötigt, was Gerichte eher selten tun, mit einer Medienmitteilung die gröbsten Irrtümer richtigzustellen.

Immerhin schaffte es Tamedia, allerdings mit einer der Kindersoldatin Kohler an die Seite gestellten Fachkraft, diese Korrektur einigermassen korrekt wiederzugeben. Die wichtigsten Punkte:

  1. Das Urteil wurde von einem Dreiergremium gefällt, nicht von einer Richterin allein.
  2. Der Schuldspruch wegen Vergewaltigung wurde bestätigt, das Strafmass allerdings von 4,25 auf 3 Jahre gesenkt. Bis zu diesem Rahmen ist gesetzlich vorgeschrieben, einen teilbedingten Vollzug zu gewähren.
  3. Die bereits abgesessenen fast 18 Monate Untersuchungshaft müssen dabei angerechnet werden, womit der Beschuldigte in wenigen Tagen freikommt.

In Punkt 6 ruft das Gericht allen Volksstimmen in Erinnerung, was zu den fundamentalen Prinzipien unserer zivilisierten Rechtsprechung gehört. Das ist dermassen wichtig, dass es zum Schluss vollständig zitiert werden muss. Denn neben der Unschuldsvermutung und dem Grundsatz «im Zweifel für den Angeklagten» soll und muss unser Justizsystem nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter beschützen. Vor Gefühlsaufwallungen, Hetze und blanker Wut. Vor Volkszorn und Lynchjustiz. Eine Vergewaltigung ist unbestreitbar etwas vom Widerlichsten, was Menschen einander antun können.

Genau deshalb muss nach Recht und fachkundig ein möglichst gerechtes Urteil gefunden werden. Ob das dem Mob passt oder nicht. Die Aussage «mit dem Feuer gespielt» war in der Vermittlung dieses Prinzips nicht hilfreich. Aber die schriftliche Begründung steht noch aus, bis dahin werden sich die Schreihälse schon längst anderen Themen angenommen haben.

Vielleicht nützt diese Erinnerung etwas, wohl eher aber nicht:

6. «Das Gesetz sieht für jeden Straftatbestand einen sogenannten Strafrahmen vor. Innerhalb dieses Strafrahmens ist die Strafe nach dem konkreten Verschulden des Täters festzusetzen. Zu berücksichtigen sind die Schwere der Verletzung, die Verwerflichkeit des Handelns, die Beweggründe und Ziele des Täters und wie weit der Täter in der Lage war, die Verletzung zu vermeiden. Ferner sind das Vorleben des Täters, dessen persönliche Verhältnisse und die Auswirkungen der Strafe auf sein Leben zu berücksichtigen. Bemisst das Gericht die Strafe, so hat es jeweils die konkreten Tatumstände, die konkrete Situation des Täters, seinen konkreten Tatbeitrag und die konkreten Auswirkungen auf das Opfer zu berücksichtigen. Wenn dabei geprüft wird, wie der Beschuldigte die Situation interpretiert hat, geht es lediglich darum, das Verschulden des Täters zu bemessen und nicht darum, das Opfer zu disqualifizieren. Ferner muss sich das Gericht vergleichbare bereits entschiedene Fälle vor Augen halten. Die Strafe muss deshalb nach den Grundsätzen der Rechtsgleichheit ausgesprochen werden. Vergleichbares Verschulden soll vergleichbar geahndet werden.»