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Ich, ich, ich

Unseren täglichen Rassismus gib uns heute.

Der Lieblingssong vieler Journalisten muss «I and I» von Bob Dylan sein. Allerdings sind die meisten nicht gebildet genug, um den zu kennen. Auf jeden Fall nimmt die Betrachtung des Bauchnabels einen immer wichtigeren Bestandteil der täglichen Arbeitsimitation ein.

Dabei werden täglich neue Rekordversuche aufgestellt. Während der Journalist gemeinhin seinen eigenen Bauchnabel betrachtet und über dessen Befindlichkeit, Zustand, Grösse, Farbe und Veränderung seit gestern Auskunft gibt, stellt Sandro Benini im «Tages-Anzeiger» eine neue Perspektive in den Raum.

Ein Journalist betrachtet einen anderen Journalisten beim Betrachten dessen Bauchnabels. Konkret geht das so, dass Benini über eine Kollegin von «Finanz und Wirtschaft» schreibt – «die wie diese Zeitung zu Tamedia gehört». Diese Journalistin hatte getwittert: «Welcome to my Alltagsrassismus». Dieses merkwürdige Kauderwelsch entging nicht dem geschulten Augen Beninis, der sofort eine Story witterte, die man der Weltöffentlichkeit nicht vorenthalten kann.

Also bastelte er einen «Kopf des Tages» daraus, mit dem anklagenden Titel: «Sie hört pro Woche einen rassistischen Spruch». Denn sie sieht nicht wie ein reinrassiger Schweizer aus, wobei noch zu klären wäre, wie der aussähe. Seine Kollegin ist hingegen «Tochter einer Amerikanerin mit koreanischen Wurzeln und eines Schweizers jüdischen Ursprungs».

Wir ersparen es Benini, diesen Satz einem Spezialisten für Diversity, Gendern und der Beurteilung von Inklusionen sowie Exklusionen und rassistischen Untertönen zur Beurteilung vorzulegen. Wir schliessen aber gerne Wetten ab, dass der (oder die oder es) einige Ansätze für Kritik sähe. Alleine «koreanische Wurzeln, jüdischer Ursprung», also wirklich.

Wie auch immer, ihr Aussehen provoziert offenbar Dumpfbacken dazu, anzügliche Bemerkungen zu machen. Behauptet sie. Wie sie sich wohl jede attraktive Frau (und auch viele nicht attraktive) immer wieder anhören muss. Nur haben die in ihrem Fall bedauerlicherweise gelegentlich auch rassistische Konnotationen. Behauptet sie.

Das ist ein sicherlich ärgerliches Begleitbrummen im Leben. Aber wirklich berichtenswert in allen Kopfblättern des Tagi? Muss nun wirklich jeder (und jede) jegliche Form von Diskriminierung, Alltagsrassismus, alle dummen Sprüche, zu denen leider minderbemittelte Mitbürger in der Lage sind, in den Schrumpfzeitungen ausbreiten, die eigentlich wichtigere Themen zu behandeln hätten?

Ist solcher Pipifax wirklich einen Artikel wert? Als René Zeyer im Appenzell lebte, schmiss ein Bekannter meines Nachbarn jeden Sonntagmorgen den Rasenmäher an und mähte nicht nur dessen Magerwiese nieder, sondern auch meine. Als ich mir das verbat und darum bat, auch beim Nachbarn den Lärm wenigstens nicht um 8 Uhr morgens zu veranstalten, bekam ich die Antwort: «Bei uns in der Schweiz macht man das so

Wenn ich genauer darüber nachdenke, bin ich also auch ein Rassismusopfer. Ganz zu schweigen davon, was ich mir in der Schule anhören musste, als ich der schweizerdeutschen Krachlaute noch nicht mächtig war. Allerdings: sollte es mir in den Sinn kommen, jemals einen Tweet mit dem Titel «Welcome to my Alltagsrassismus» abzusetzen, wäre ich sofort bereit, mich psychologisch beraten und behandeln zu lassen.

Es ist eine zunehmende gesellschaftliche Erkrankung, ansteckender als Covid, Vogelgrippe und Schweinepest, dass sich jeder (und jede) als Opfer von irgendwas inszenieren muss. Fällt einem dazu trotz grössten Bemühungen nichts ein, kann man wenigstens stellvertretend leiden. Für die Schwarzen. Die Transen. Die Queeren. Die Frauen. Die Kinder. Die Ausländer. Die Inländer. Die Hybriden, Schwulen, Asexuellen, die People of Color, die Nachfahren von Sklaven, die Nachfahren von Sklavenhaltern, die Rastaträger, die sich kulturell aneignenden Rastaträger.

Die Moslems, Juden, Adventisten, Katholiken, Reformierten, Scientologen. Überhaupt für jede Minderheit. Für SVP-Wähler, Covid-Leugner, Verschwörungstheoretiker, Befürworter der Behauptung, dass Donald Trump der Sieg bei den Präsidentschaftswahlen geklaut wurde. Mohrenkopf-Esser, Trinker von koffeinfreiem Kaffee, Träger von Brioni-Anzügen. Denn auch all die sind Minderheiten; diskriminiert, verlacht, von Ausschliessung bedroht.

Keiner zu klein, diskriminiert zu sein. Jeder ist ein Opfer von allem und allen. Wer multiple Diskriminierungen vorweisen kann, ist dem einfach Diskriminierten deutlich überlegen. Väter sind Täter, Frauen sind benachteiligt und unterdrückt. Durch Sprache, in der Medizin, am Arbeitsplatz, durchs Kinderkriegen. Die blosse Zugehörigkeit zu irgendwas legitimiert das Leiden unter Diskriminierung. Das blosse Zusehen, sogar die Einbildung eines Leidens anderer reicht schon.

Eine Frau ist diskriminiert und Opfer. Eine dunkelhäutige Frau ist mehrfach diskriminiert und Mehrfachopfer. Eine lesbische, dunkelhäutige Frau mit Migrationshintergrund und Endometriose ist multipel diskriminiert und Fünffachopfer.

Dass angeblich von fürchterlicher Diskriminierung Betroffene, in deren Namen kräftig gelitten wird, sich häufig wundern, was offensichtlich wohlstandsverwahrloste Menschen sich einbilden, um etwas Farbe ins langweilige Leben zu kriegen, hält hierzulande niemanden davon ab, auch stellvertretend zu leiden. Wie Patti Basler. Wie diese Redaktorin der FuW. Wie so viele, wie viel zu viele.

Was noch fehlt: das Leiden an der Diskriminierung durch sich selbst. Zum Beispiel, ein Schwarzer, Pardon, eine Person of color, sagt zu sich selbst: als Schwarzfahrer bist du immer der Neger. Damit hat er sich selbst diskriminiert, exkludiert und das Ganze erst noch mit einem rassistischen Unterton und unter Verwendung eines Pfui-Worts. Und jetzt? Muss er sich vor sich selbst fürchten? Einen Sensibilisierungskurs besuchen? Hundert mal in sein Smartphone tippen: ich darf nie mehr Neger sagen? Patti Basler, stellen Sie sich das vor und helfen Sie!

Es ist so ein Elend in der Schweiz, dass es jedes Bürgerkriegsopfer der Dritten Welt, jede Mutter mit einem verhungernden Kind auf dem Arm in Afrika mit tiefem Schmerz und Mitgefühl erfüllen muss.