Schlagwortarchiv für: 80 Prozent

Wiederholungstäter

Ukrainerinnen wollen, dürfen aber nicht.

Der «Tages-Anzeiger» ist auf einem pädagogisch-didaktischen Feldzug. Denn es gibt doch tatsächlich Stimmen (allerdings vornehmlich aus dem rechtspopulistischen Nationalistenlager), die etwas gegen den Sonderstatus S der rund 70’000 in die Schweiz geflüchteten Ukrainer haben.

Von den 70’000 sind Tausende im wehrfähigen und 40’000 im erwerbsfähigen Alter. Allerdings drücken sich alle vor der Vaterlandsverteidigung, und lediglich rund 20 Prozent haben es geschafft, einen eigenen Beitrag zum Lebensunterhalt zu leisten und nicht dem Schweizer Steuerzahler auf der Tasche zu liegen.

Gegen übellaunige Kritik daran ist der Tagi auf dem Kriegspfad. Bereits hat er vier Erfolgsstorys veröffentlicht. Lustigerweise hat die Autorin nur Ukrainerinnen gefunden; ist das wohl eine implizite Kritik, dass Ukrainer arbeitsscheu sind?

Wie auch immer, was ist besser als ein Jubelartikel über arbeitswillige Ukrainerinnen? Genau, zwei Jubelartikel über arbeitswillige Ukrainerinnen.

Um das zu stemmen, hat Sascha Britsko sich der Hilfe von Charlotte Walser versichert, denn sonst wäre es wohl zu aufwendig geworden, zwei weitere Ukrainerinnen aufzutreiben. Was nach dem ersten Artikel noch ein blosser Verdacht war, verdichtet sich zur Gewissheit: ukrainische Männer sind arbeitsscheu, oder zumindest publizitätsscheu. Und Britsko samt Walser gehen langsam die Beispiele aus.

Diesmal porträtieren sie eine Ukrainerin, die bereits 250 Bewerbungen geschrieben habe – vergeblich. Aber sie «lässt den Kopf nicht hängen». Und sie ist nur ein Beispiel unter vielen: «So wie Zofia Koltun geht es vielen Ukrainerinnen und Ukrainern in der Schweiz. Zurzeit arbeiten nur knapp 24 Prozent der Geflüchteten mit S-Status im erwerbsfähigen Alter.» Ein einziges Beispiel, dann sofort der Aufschwung ins Allgemeine.

Dann sogleich das Gegenbeispiel:

«Viktoriya Plyeshakova muss sich darüber keine Gedanken machen. Sie muss auch keine Bewerbungen schreiben.
Ihr letzter Patient an diesem Tag ist ein Kind: ein Junge aus einem ukrainischen Waisenhaus, der an heftigen Zahnschmerzen leidet. Für das Wort «Waisenhaus» benötigt Plyeshakova die Übersetzungsapp – das einzige Mal in diesem Gespräch. Die 39-Jährige kann sich problemlos auf Deutsch verständigen. Und sie arbeitet in ihrem in der Ukraine erlernten Beruf als Zahnärztin.»

Auch hier sogleich die Verallgemeinerung: «Was Viktoriya Plyeshakova geschafft hat, wünschen sich viele ukrainische Geflüchtete. Die allermeisten wollten arbeiten, sagt sie. «Wir sitzen nicht gern herum.» Aber es sei sehr schwierig, in der Schweiz eine Stelle zu finden.»

Noch mal ganz langsam zum Mitschreiben. Wenn es der Tagi als seine Aufgabe ansehen würde, Expeditionen in die Wirklichkeit zu unternehmen, dann müsste er vielleicht ein Mü mehr über nicht-arbeitende Ukrainer schreiben als über arbeitstätige. Wenn zwei weibliche Autoren zur Kenntnis nehmen könnten, dass es auch viele männliche Ukrainer in der Schweiz gibt, die null in den Porträts vertreten sind, wäre die Berichterstattung auch wirklichkeitsnäher.

So aber ist es reiner Belehrung- und Erziehungsjournalismus, geschrieben aus einer luftdicht von der Realität abgeschotteten Gesinnungsblase. Hier soll der der Leser nicht informiert, sondern erzogen werden. Hier werden nebenbei noch die Kritiker an den 80 Prozent Arbeitsunwilligen abgewatscht, in erster Linie natürlich die SVP.

Wie an einer funktionierenden Qualitätskontrolle vorbei ein zweiter Artikel mit fast identischem Inhalt durchflutschen kann, ist völlig unverständlich.

Dass es mit der Restaurantkritik im Argen liegt, nun ja, muss ja nicht zur Kernkompetenz des Nutella-Tagi gehören. Aber so etwas?

Wieso sind die Redaktorinnen nicht einfach ehrlich und schreiben: lieber Leser, solltest Du zu den Wählern der grössten Partei der Schweiz gehören, solltest Du dummerweise etwas am Verhalten der Ukrainer in der Schweiz auszusetzen haben, dann nimm zur Kenntnis: Du liegst falsch. Du bist ein rechtspopulistischer Depp. Am besten verpisst Du Dich hier und lässt uns in Ruhe unseren Gesinnungsbrei anrühren.

Und da soll noch einer sagen, die Probleme der Medien seien nicht vorwiegend hausgemacht.

 

Wir üben Schönschreiben

Früher Schulfach, heute Journalismus.

In der Schweiz leben rund 70’000 ukrainische Flüchtlinge. Die haben ein Problem. Tausende von ihnen sind im wehrfähigen Alter, haben sich also der Vaterlandsverteidigung durch Flucht entzogen. Menschlich verständlich, aber schützenswert?

40’000 von ihnen sind im erwerbsfähigen Alter, könnten also versuchen, ihren Lebensunterhalt nicht auf Kosten der Schweizer Steuerzahler zu bestreiten. In die Tat umgesetzt haben das bislang aber lediglich 20 Prozent, ganze 8000. Dabei sollen zwei Drittel der Ukrainer in der Schweiz sogar einen Hochschulabschluss haben, hätten also beste intellektuelle Voraussetzungen, sich in einer fremden Sprache und Mentalität zurechtzufinden.

Dass die überwältigende Mehrheit der Flüchtlinge aber lieber etwas Land und Leute kennenlernen will, sich vielleicht auch endlich mal die Zähne richten, das sorgt verständlich für etwas Unmut in der Bevölkerung. Dem muss mit Schönschreiben Gegensteuer gegeben werden.

Ein Einsatz für Sascha Britsko von Tamedia. Unter der Spitzmarke «Integration von Flüchtlingen» berichtet sie über drei ukrainische Frauen, die eine Anstellung gefunden haben. Olga (39) ist «Klassenassistentin an einer Privatschule». Allerdings ist dieser 75-Prozent-Job bis zum Sommer befristet. Natalia (28) ist «Assistenzärztin an einer psychiatrischen Klinik». Obwohl es ihr immer noch «am schwersten fällt, Schweizerdeutsch zu verstehen», was in diesem Job vielleicht nicht ganz unwichtig ist, will sie in drei Jahren das Schweizer Staatsexamen bestehen. Irina (34) arbeitet als Fitnesstrainerin, mit 13 Lektionen pro Woche, die sie auf Englisch erteilt, können sie und ihr Tochter leben.

Offensichtlich ist die Sprache eine grosse Hürde. Allerdings sollten eigentlich zwei Jahre für akademisch ausgebildete Menschen völlig ausreichend sein, auf genügend hohem Niveau Deutsch zu sprechen. Da es in der Schweiz anscheinend einen gravierenden Fachkräftemangel gibt, sollte es auch kein Problem für die übrigen 80 Prozent der ukrainischen Flüchtlinge sein, eine Arbeitsstelle zu finden.

Aber all diese Überlegungen und Themen und Fragen umfährt Britsko weiträumig; ihr geht es darum, aus ihren drei Erfolgsfällen so viel wie möglich rauszusaugen. Sie überlegt nicht einmal, wieso sie eigentlich nur Frauen aufführt; ist das nicht etwas diskriminierend gegenüber ukrainischen Männern? Oder will sie damit sagen, dass die arbeitsunwilliger sind?

Normalerweise gehen solche Storys nach dem klassischen journalistischen Strickmuster so: ein Beispiel, zwei Beispiele, vielleicht drei, dann der Aufschwung ins Allgemeine: nicht nur diese Personen, sondern viele andere auch …

Hier wird das aber geradezu ins Umgekehrte pervertiert. 80 Prozent aller arbeitsfähigen Ukrainer arbeiten nicht. Da wäre es doch naheliegend gewesen, drei solche Beispiele zu präsentieren. Oder allenfalls vier oder fünf Beispiele arbeitsunwilliger Flüchtlinge einem Beispiel eines Erfolgsmodells gegenüberzustellen.

Aber das wäre dann natürlich kein Schönschreiben gewesen. Dafür eine Abbildung der Realität. Aber Realität wird gewaltig überschätzt, sagen sich die Um- und Schönschreiber im Hause des Qualitätsjournalismus Tamedia.

Hier geht es mehr um Lesererziehung als um Leserinformation. Kleines Problem dabei: das mögen viele Leser gar nicht, dass sie noch dafür bezahlen sollen, eines Besseren oder zumindest anderen belehrt zu werden.