Peter Bichsel †

De mortuis nihil nisi bene.

Für alle, die am grossen oder kleinen Latinum gescheitert sind: über Tote nichts sagen oder nur Gutes. Das geht bei ZACKBUM natürlich nicht.

Peter Bichsel (1935 – 2025) ist kurz vor seinem 90. Geburtstag gestorben. Das Feuilleton überschlägt sich mit ergriffenen Nachrufen auf den angeblich so grossen, genauen, immer das Einfache suchenden Schriftsteller. Der konnte so präzise dem Alltag auf die Spur kommen, verdichtete zum Gültigen, Blabla.

Mein Freund Hugo Loetscher nannte das, was Bichsel schrieb, Literatur in kurzen Hosen. Das trifft es haargenau. Wenn ein Primarlehrer zu schriftstellern beginnt und versucht, das Aufsatzniveau seiner Schüler zu treffen, dann kommt Bichsel raus. Frau Blum und der Milchmann und 100 Gramm Butter und der Austausch per Zettel. Schon damals geriet das Feuilleton gleich in Wallungen, selbst Marcel Reich-Ranicki bewies, dass auch er nicht unfehlbar ist, und lobte über den grünen Klee.

Einfache Begrifflichkeit löst Ergriffenheit aus. Wenn dann noch die Gesinnung stimmt (eher links, kritisch, aber nicht radikal), dann übersieht das Feuilleton gerne, dass Banales, banal formuliert, überraschenderweise banal bleibt. Solche Irrtümer gibt es immer wieder; aktuelles Beispiel ist der Sprachmalträtierer Lukas Bärfuss, der keinen geraden Satz hinkriegt, aber dank richtiger Gesinnung sogar den Büchner-Preis kriegte. Das hat der geniale Revolutionär und Dichter wirklich nicht verdient, das ist reiner Missbrauch.

Zudem sei Bichsel so bescheiden und zurückhaltend gewesen, wird gelobt. Dabei wusste er als einer der Ersten, wie man aus sich eine Marke macht. Die ewig gleiche übergrosse runde Brille, das blau gestreifte Hemd, das Gilet. In der Beiz am Tisch, vor sich ein Glas Roter. Später dann der Gag, dass Wasser im Glas war. Das nennt man Inszenierung, das nennt man Wiedererkennungswert.

Davon haben dann Gebrauchsschriftsteller wie Martin Suter einiges abgeguckt. Immer Anzug und Krawatte, immer die nach hinten gegelten Haare, der bekümmerte Blick. Natürlich auch Bärfuss, immer der grimmige Blick, die unter allem Unrecht der Welt leidende Miene, niemals lächeln. Die Form ist alles, der Inhalt nebensächlich.

So war es auch bei Bichsel. Hand aufs Herz, wer kann den Inhalt irgend einer seiner vielen Kurzgeschichten aus dem Stegreif wiedergeben? Wer erinnert sich noch, was in «Des Schweizer Schweiz» steht? «Für Schweizer gibt es zwei Welten. Das Inland und das Ausland.» Welch angestaubte Banalität, die sich als einfache Tiefe ausgibt. Wer das zitiert, würgt damit jedes muntere Tischgespräch ab.

Eins muss man Bichsel lassen: schon vor Harald Schmidt erhob er das Interview zur Kunstform. Gab verblüffende Antworten auf Fragen, die nicht gestellt wurden. «Ich weiss, dass es keinen Gott gibt, aber ich glaube an ihn.» Wow. Inzwischen dürfte er herausgefunden haben, ob sein Wissen oder sein Glauben zutrifft.

6 Kommentare
  1. Erich Angst
    Erich Angst sagte:

    Nun ja, die breite Masse (zu der ich mich in Sachen Literatur durchaus bekenne) erinnert sich an Bichsel eh nur als Wegbegleiter des letzten ehrlichen SP-Bundesrats Willi Ritschard und natürlich an die köstlichen Interpretationen von/durch Mike Müller.

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  2. Peter Bitterli
    Peter Bitterli sagte:

    Sie haben, Meister, mit der Selbststilisierung des „Dichters“, mit dem Weihrauchgefurze des Feuilletons und mit der Überflüssigkeit des Grossteils der Bichselschen Produktion gewiss ebenso recht wie Lötscher mit seinem bonmot über die kurzen Hosen, tun damit aber den Texten der zwei ersten Bichselschen Publikationen („Eigentlich möchte Frau Blum…“ und „Kindergeschichten“) unrecht. Hat man erst genügend verständliche und nachvollziehbare aber wenig informierte und unpräzise Rabulistik und Polemik gegen diesen näselnden Schnarcher, der in der Parodie durch die Staatskomiker besser wegkam als im Original, zu Markte getragen, darf man sein kräftiges aber uraltes Urteil gerne an diesen frühen Geschichten überprüfen. Es könnte sich dann herausstellen, dass gerade etwa die stets banal kolportierte Wortvertauschungsgeschichte durchaus mehr Hintergrund hat, als der durchschnittliche Oberstudienrat oder Wirtschaftsjournalist zu erkennen vermag.
    Da ist zunächst Einer alt und bereits ein Leben lang opportunistisch in sämtlichen Gemeinplätzen des mainstreams gefangen. Eines schönen Frühlingstages ahnt er etwas von einem anderen, schöneren, wahreren Leben, kommt vom Spaziergang nach Hause und findet denselben abgeranzten Alltag vor wie zuvor und wie immer. Jetzt beginnt er seine Welt zu „ändern“, indem er die Bezeichnungen der Dinge ändert. Das führt schliesslich dazu, dass er von niemandem mehr verstanden wird und seinerseits das Gerede der Andern nur mehr lächerlich findet. Es ist das genau, was sich einstellt, wenn ein Individuum den handelsüblichen Narrativen keinen Glauben mehr schenkt. Schliesslich bedeutet „neu denken“ immer „umbenennen“.
    In dem Text, der diesem vorangeht, beschliesst in ganz ähnlicher Weise ein Mann, das bisher Geglaubte nun am Beispiel der Erdkugel höchstselbst zu überprüfen, was sich natürlich als unmöglich herausstellt und somit für den Leser in der bedrückenden Einsicht endet, dass wir nicht anders können, als die Überzeugungen der Mehrheit mehrheitlich zu übernehmen.
    Die Frau Blum durchlebt eine nicht einmal ihr selbst bewusste love-story mit einem sehr pragmatischen und kalten Milchmann, und der Leser kann darin die Andeutung einer anderen möglichen Biografie sehen, wenn er denn will.
    Dann gibt es gewiss auch Texte, die mit Geranien am Fenster nur ärgern.
    Zur Zeit ist die Frau Blum trotz Neuauflage vollständig vergriffen und erst in Wochen wieder lieferbar.
    Vergleiche mit Bärlauch/Käsfuss sind übrigens generell verboten.

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  3. Martin Arnold
    Martin Arnold sagte:

    Aber im Gegensatz zu den Interviews mit Peter Bichsel ist Harald Schmidt eine Wohltat. Unterhaltsam, ungekünstelt, humorvoll, wunderbar zynisch und sarkastisch.
    So elegant wie er bringt niemand die totale Verlogenheit unserer Gesellschaft auf den Punkt.
    Und immer gut gelaunt. Er zitierte mal sein Vorbild, ich glaube, Johnny Carson: „Kill your enemies with kindness“.

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  4. Daniel Funk
    Daniel Funk sagte:

    Danke für diesen erfrischenden Kommentar. Ich bin generell sehr einverstanden, aber in Bezug auf die Kurzgeschichte «Ein Tisch ist ein Tisch» möchte ich eine Ausnahme machen. Da weist Bichsel auf ein enormes Problem hin.
    «Zu dem Bett sagte er Bild.
    Zu dem Tisch sagte er Teppich.
    Zu dem Stuhl sagte er Wecker.
    Zu der Zeitung sagte er Bett.
    Zu dem Spiegel sagte er Stuhl.
    Zu dem Wecker sagte er Fotoalbum.
    Zu dem Schrank sagte er Zeitung.
    Zu dem Teppich sagte er Schrank.
    Zu dem Bild sagte er Tisch.
    Und zu dem Fotoalbum sagte er Spiegel». (Peter Bichsel, 1969)

    Sie berichtet von einem einsamen, alten Mann, der, damit sich endlich etwas ändert, wie im Eingangszitat die Bedeutung der Wörter verändert. Das führte dazu, dass der Mann die Leute nicht mehr verstehen konnte – sie ihn auch nicht.
    In den letzten Jahren – so denke ich – machen wir genau das.
    «Tod» war traditionell der Zustand, bei dem die die Lebensfunktionen erloschen sind und auch kein Herzschlag mehr nachweisbar ist. Heute kann ein Mensch schon als «tot» bezeichnet werden, wenn der Hirnfunktionsausfall irreversibel ist, der Kreislauf aber noch funktioniert. Damit kann man verschleiern, dass bei der Organentnahme zwecks Spende der Kreislauf noch funktioniert. Damit sei noch nichts gegen Organspende gesagt. Ich will lediglich erklären, dass auf diese Art verschleiert wird, was genau getan werden soll, wozu man das grüne Licht gibt, wenn man in eine Organspende einwilligt.
    Auch Wörter wie «Sterbehilfe» oder «Euthanasie» (gr. εὐθανασία = guter, richtiger, oder schöner Tod) verschleiern, dass da nachgeholfen wurde, dass es sich um Tötung auf Verlangen handelt. Es gibt aber hier grosse Abstufungen: Passiver Sterbehilfe (durch Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen bei gleichzeitiger schmerzlindernder Behandlung ist nicht das gleiche wie aktive Sterbehilfe (absichtliche und aktive Beschleunigung oder Herbeiführung des Todeseintritts, indirekte aktive Sterbehilfe (durch eine schmerzlindernde Behandlung unter Inkaufnahme einer nicht beabsichtigten Lebensverkürzung) der assistierte Suizid (als Hilfeleistung zur Selbsttötung, zum Beispiel durch Beschaffung und Bereitstellung des tödlichen Präparates).
    In der Schweiz ist von den vier genannten Varianten die aktive Sterbehilfe verboten. Weit verbreitet ist der assistierte Suizid unter Beihilfe von spezialisierten Organisationen wie EXIT. Länder mit besonders permissiven Gesetzen, die auch aktive Sterbehilfe zulassen sind zum Beispiel Holland oder Kanada.
    Der kanadisch Arzt Dr. Louis Roy geht nun einen Schritt weiter und schlägt einer Parlamentskommission vor, Sterbehilfe für Säuglinge bis zum ersten Lebensjahr zuzulassen, die mit «schweren Fehlbildungen» und «schweren und schwerwiegenden Syndromen» geboren werden, bei denen «die Überlebensaussichten sozusagen gleich Null sind». Verständlich formuliert: Würde der Vorschlag Gesetzeskraft erlangen, dann könnten Eltern und Ärzte unter bestimmten Bedingungen entscheiden, ein Kind zu töten. Damit würde Kanada eine der rötesten aller roten Linien eines jeden zivilisierten Landes überschreiten: das Land würde den Schutz des Lebens unter bestimmten Umständen preisgeben und von einer Interessenabwägung abhängig machen. Dass kaum Widerstand erkennbar ist, hat wohl ursächlich damit zu tun, dass hier die Dinge nicht beim Namen genannt werden.
    «Ehe» war seit Jahrtausenden die Verbindungen von Frau und Mann. In vielen Ländern wurden die Gesetze geändert und es geht auch Frau ⚭ Frau und Mann ⚭ Mann. Mit dieser Bedeutungsänderung wird verschleiert, dass diese Gesetzesänderung auch die Bedeutung der Wörter Mutter und Vater in Frage stellt, sowie Vorarbeit leistet für Dinge wie Samenspende, Eizellenspende und Leihmutterschaft.

    Das gleiche gilt für die «Geschlechter». Die biologischen Geschlechter «männlich» und «weiblich» sollen nicht mehr zwingend identisch mit dem sein, was wir als «Mann» oder «Frau» bezeichnen.

    Und schliesslich «Impfung». Seit der Erfindung der Pockenimpfung Ende des 18. Jahrhunderts verstand man unter diesem Begriff die Injektion abgeschwächter oder getöteter Viren, damit das Immunsystem Antikörper gegen den Erreger bildet. Auch diese Definition wurde geändert: Eine Impfung ist heute die «Gabe eines Impfstoffes mit dem Ziel, vor einer (übertragbaren) Krankheit zu schützen». Diese Definition ist nicht nur Schrott, weil sie tautologisch ist, damit können neue, unerprobte Stoffe wie die mRNA-Präparate unter dem traditionellen Begriff laufen. Der Transparenz wegen setze ich im Zusammenhang mit mRNA-Präparaten das Wort «Impfung» immer in Anführungs- und Schlusszeichen. Denn gemäss der Definition, die seit dem 18. Jahrhundert galt, ist es keine Impfung. Ohne diesen intellektuellen Taschenspielertrick hätten sich wohl viel weniger Menschen diese Spritze geben lassen.
    Und schliesslich «Pandemie» (gr. πᾶν = gesamt, umfassend, alles und δῆμος = Volk) bezeichnet eine «neu, aber zeitlich begrenzt in Erscheinung tretende, weltweite starke Ausbreitung einer Infektionskrankheit mit hohen Erkrankungszahlen und i. d. R. auch mit schweren Krankheitsverläufen». Traditionell gehören hohe Sterberaten zu einer Pandemie. Weil dies in der vor einigen Jahren geänderten Definition nicht vorkommt, war es überhaupt möglich, die Covid-Pandemie als «Pandemie» zu bezeichnen. Mit allen Folgen.

    Zusammenfassend: Die Bedeutung von Wörtern zu ändern ist nicht trivial und kann Folgen haben. Leider wird das in der letzten Zeit immer häufiger getan. Wie die eingangs erwähnte Kurzgeschichte zeigt, kann dies dazu führen, dass wir uns nicht mehr verstehen. Um mit Goethe abzuschliessen: «Man merkt die Absicht und ist verstimmt.»

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  5. Guido Kirschke
    Guido Kirschke sagte:

    In meiner Jugend habe ich ihn öfters gelesen. Je älter ich wurde, desto mehr habe ich ihn aus den Augen verloren.

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