Tages-Anzeiger wieder einmal ‹brandaktuell›

Am Dienstagabend beglückte der Kopfblattsalat von Tamedia seine Leserschaft wieder einmal mit einem scheinbar lesenswerten Stück.

 

Von Thomas Baumann

Bergsteigerinnen im Interview: «Wir verbrachten 72 Stunden zusammengekauert auf Felsvorsprüngen»
Gezeichnet ist der Artikel von Nadine Regel.
Das Adrenalin der Leserschaft pumpt. Entsprechend verbirgt sich der Artikel hinter einer Bezahlschranke. Der sensationslüsterne Leser soll gefälligst blechen.
Eine kleine Recherche führt allerdings zutage, dass der Artikel bereits fünf Tage früher bei der Süddeutschen erschienen ist.
Also wie gehabt, einmal mehr Resteverwertung an der Werdstrasse. Das tut der Spannung allerdings keinen Abbruch: In einem Interview «schildert», gemäss Lead, die gerettete «Extrembergsteigerin» Fay Manners «ihre dramatische Rettung».
Diese hatte im Oktober 2024 zusammen mit einer «Kletterpartnerin» letztlich erfolglos, aber wenigstens mit glücklichem Ausgang, versucht, einen fast 7000 Meter hohen Berg im indischen Himalaja zu besteigen. Auf einer bislang noch nie begangenem Route immerhin, möglicherweise handelte es sich auch um einen bisher noch nie bestiegenen Nebengipfel.
Das Ganze ist also schon ein Weilchen her. Aber natürlich nie zu spät, die Leserschaft mit interessanten, bislang noch nie geteilten Einsichten zu überraschen, was sich auf solchen Höhen in Sturm und Eis an Dramatik bisweilen so abspielt.
Man erfährt so, dass auf 6400 Metern die schwierigsten Passagen schon überwunden waren, als ein Malheur passierte: Ein Stein löste sich, die Kletterpartnerin fiel ins Seil und der Stein durchtrennte im Fallen das Seil mit dem Rucksack der einen, so dass dieser auf Nimmerwiedersehen in die Tiefe rauschte.
Natürlich fragte die Interviewerin pflichtschuldig, was sich denn in dem verloren gegangenen Rucksack so befand. Die Antwort: Steigeisen und Eispickel der einen Bergsteigerin, das Zelt, das gesamte Essen und der Kocher. Übrig geblieben war nur noch ein einziger Schlafsack — für zwei.
Daraufhin schilderte die Interviewte, was daraufhin geschah: Sie setzten einen Notruf ab, am nächsten Morgen flog ein Rettungshelikopter mehrmals über sie hinweg, jedoch ohne sie zu entdecken.
Sie seilten sich also ab, fanden eine Wasserquelle, wo die Sonne etwas Eis geschmolzen hatte, so dass sie immerhin etwas zu trinken hatten.
Zu guter Letzt, noch weiter abgestiegen, wurden sie dann am vierten Tag von einer Gruppe Franzosen entdeckt und gerettet.
Ende einer dramatischen Expedition. «Wie haben Sie sich während dieser drei Tage in der Felswand gefühlt?» Antwort: «Abends war ich unterkühlt, zitterte ständig und meinem Körper fehlte die Energie, um mich bei dem schlechten Wetter warmzuhalten. Ich wusste, dass wir nicht ewig durchhalten würden.»
Damit hat es sich aber auch schon mit den dramatischen Schilderungen. Der Rest des Interviews widmet sich dann, wen überrascht’s bei der SZ, dem Genderthema, warum es so wenige Frauen am Berg gibt.
Bereits wenige Tage nach der Rettung, am 10. Oktober 2024 berichtete CNN über die Rettung: «‹Our dream became falling down the mountain›: American and British climbers stranded in the Himalayas for three days».
Darin erfährt man ebenfalls, was sich im abgestürzten Rucksack befand: Zelt, Kocher, Essen, Steigeisen und Eisaxt. Also exakt dasselbe wie im SZ-Interview.
Auch der Notruf, die erfolglosen Suchflüge, das Abseilen, das tropfende Eiswasser: alles bereits im CNN-Artikel rapportiert.
Und gar viel detaillierter, farbiger geschildert als in der Tagi-/SZ-Produktion. Während die Bergsteigerin im Tagi-/SZ-Interview ihren Zustand bloss mit «unterkühlt und zitterte ständig» beschrieb, sagte sie gegenüber CNN: «I was shaking so violently through the night that Michelle had to hold my legs to just try and keep me warm».
Auch erfährt man, dass sie noch zwei Energiestängel zum Knabbern hatten und die dehydrierte Nahrung (welche sie offenbar noch besassen) ohne Kocher nutzlos war. Die Liste liesse sich beliebig verlängern.
Alles in allem: Mehr Details, deutlich anschaulicher und packender geschildert — bereits vier Tage nach der Rettung. Das Tagi-/SZ-Stück mutet über weite Strecken bloss wie eine fade Zusammenfassung des CNN-Artikels an.
Da fragt sich bloss: Was soll ein solches sensationsheischendes ‹Interview› geschlagene dreieinhalb Monate nach den Ereignissen — ohne den geringsten Neuigkeits- und Erkenntniswert?
Das wissen wohl nur die SZ — und der Kopfblattsalat von Tamedia, welcher das abgestandene Stück seiner Leserschaft fünf Tage nach der SZ gar nochmals aufzutischen wagt.
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