Wollen wir mal wieder was lesen?
Es ist nie zu früh, sich mit Lektüre für die Festtage einzudecken.
Als leichten Hirnschmeichler können wir den neusten Harris bieten:
Nachdem John Le Carré eine Lücke hinterlassen hat, die niemand auffüllen kann, und er selbst war eigentlich «nur» ein Nachfolger von Eric Ambler, gehört Robert Harris zu den Autoren, deren Werke unbesehen im Reflex von ZACKBUM gekauft werden.
Nun ist die anhand von echten Liebesbriefen des damaligen britischen Premierministers H. H. Asquith an die aristokratische 26-jährige Venetia Stanley erzählte Story des Beginns des Ersten Weltkriegs aus englischer Sicht unterhaltsam. Wie der Mann Zeit fand, seiner Geliebten, die seine Tochter sein könnte, täglich Liebesbriefe voller Staatsgeheimnisse zu schreiben, unglaublich. Allerdings ist dieser Zivilisationsbruch schon viel besser und umfangreicher («Die Schlafwandler») beschrieben worden. Aber leichte Lektüre ist doch auch was.
Schon schwerer wiegt das Buch von Andreas Reckwitz:
Eine soziologische Untersuchung über das Phänomen Verlust und wie wir individuell und als Gesellschaft damit umgehen. Neuland, durchaus originell, allerdings manchmal sehr gelehrt und verkopft. Weniger Präzision und weniger Bedürfnis «ich bin ein unglaublich belesener und gebildeter Soziologe und methodologisch ganz vorne dabei» hätte dem Werk gut getan. Und eine Schlankheitskur (462 Seiten) auch. Aber mal etwas Anregendes im ganzen aktuellen Gejammer.
Wer Lust auf richtig Dickes hat, dem sei das Werk von Simon Sebag Montefiore empfohlen:
Die Weltgeschichte als Familiengeschichte, ebenfalls ein origineller Ansatz des britischen Historikers, der schon mit anderen Werken («Jerusalem: Die Biografie», «Stalin. Am Hof des roten Zaren») positiv auffiel. Sehr lesenswert. Der Lesegenuss hört auch lange nicht auf; der Schinken hat 1534 Seiten …
Wem es in der besinnlichen Weihnachtszeit mehr nach einem Kracher gelüstet; bitte sehr. Wie Harris garantiert James Ellroy auch immer für gleichbleibend brutale, facettenreiche, realitätsnahe und abgrundtief zynische Unterhaltung:
Um den Tod von Marilyn Monroe herum entwirft er hier ein weiteres Sittengemälde der amerikanischen Gesellschaft, bei dem es wenig Helles und viel Dunkles gibt. Constantin Seibt ist von der Lektüre dringlich abzuraten. Aber wer noch nicht genug hat, da wäre noch dieser hier:
Von den Abgründen menschlicher Existenz wieder in die lichten Höhen der Intellektualität:
Wolfram Eilenberger ist in seiner Serie ziemlich nahe bei der Gegenwart angekommen und kümmert sich um Adorno, Feyerabend und Foucault, was eine hübsche geistesgeschichtliche Mischung ergibt, die er durchaus bildungsbürgerlich, aber auch für in der Philosophie nicht so Bewanderte unterhaltsam und erkenntnisreich aufbereitet. Und wird es manchmal für den philosophischen Laien etwas zu gestelzt, kann er ruhig auch mal ein paar Seiten überblättern. Schliesslich gibt es auch hier genügend davon, nämlich 485.
Übrigens, wer von Christopher Clarke nach dessen «Schlafwandlern» noch nicht genug hat, im nächsten Werk nimmt er sich des «Frühlings der Revolution» an, nämlich den Ereignissen in Europa von 1848/49. Was gerade für Schweizer Leser von Bedeutung ist, denn schliesslich war die Schweiz das einzige Land Europas, in dem diese bürgerliche Revolution gesiegt hatte. Allerdings mit seinen 1161 Seiten auch eher für die ganz langen Winterabende geeignet.
Für Liebhaber des Abseitigen, oder besser gesagt für Leser, die gerne auf Entdeckungsreise in ferne Zeiten gehen, sei Herbert Clyde Lewis (1909 – 1950) empfohlen, der nur ein schmales Oeuvre hinterliess, dessen Meisterwerk erst seit Kurzem auf Deutsch übersetzt vorliegt:
Wunderbar ausgestattete 170 Seiten im Mare Verlag. Das erinnert an frühere Höhepunkte der Buchdruckerkunst in der «Anderen Bibliothek», einer der vielen Geniestreiche von Hans Magnus Enzensbeger, der noch schmerzlicher als Le Carré fehlt.
Als Absackerchen noch etwas zum Anschauen und leicht verstört zurückbleiben. Animiert von einem Besuch in der Wiener Albertina ist ZACKBUM wieder auf einen Fotografen gestossen, der einzigartig ist. Er fotografiert die Realität. Allerdings eine, die er selbst bis in jedes Detail erschaffen hat. Monatelange Planung, Hunderte von Mitarbeitern und Statisten und Schauspielern und technischen Spezialisten sind nötig, damit ein einziges Bild entsteht.
Dessen Aussage? Tja, man mache sich da selbst einen Reim drauf. Alles kommt auf den ersten Blick wirklich banal daher, aber irgendwie lauern immer Abgründe in diesen Fotos:
Vielleicht ist Gregory Crewdson der fotografierende Zwillingsbruder von Thomas Pynchon …
Solche Werke lassen es (fast) verschmerzen und vergessen, dass der Rumpel-Holper-Autor Lukas Bärfuss (nur echt mit grimmigem Gesichtsausdruck) sagenhafte 350’000 Franken Steuergelder für die Übergabe seines Archivs an das Schweizerische Literaturarchiv erhielt. Der eiert (wie meist) herum, ob diese Summe seinem Werk angemessen sei: «Der Wert eines Archivs und die Bedeutung eines literarischen Werks sind zwei verschiedene Dinge», sagt er dem «Blick». «Vom einen auf das andere zu schliessen, ist unzulässig, daraus gar eine ‹Messbarkeit› abzuleiten, erscheint mir abwegig.»
ZACKBUM erscheint es hingegen abwegig, für den Brachial-Polemiker so viel Geld auszugeben – ohne dass er das Versprechen abgibt, nie mehr etwas zu publizieren.
Meine bescheidene Meinung: Ambler vor Le Carré.
«Die Maske des Dimitrios» ist schon unerreicht, aber «Our Game» war auch nicht schlecht …
Es gehört sich nicht, das schöne und wertvolle Wort „bildungsbürgerlich“ auch nur angedeutet pejorativ zu verwenden.
Hab› ich weder angedeutet, noch sonstwie abwertend verwendet …
Sehr geehrter Herr Bitterli
von Ihnen hätte ich zu diesem Beitrag eigentlich substanzielle Hilfe erwartet, erhofft.
Denn ich als bildungsunbürgerlich fühle mich echt erschlagen, überfordert, WER KANN DAS ALLES LESEN?
Wenn Sie doch nur die eine oder andere Auswahl des Chefs zerrissen, angezweifelt oder als unnütz gestempelt hätten – soviel Winter kann’s für mich gar nicht geben für die tausenden von Seiten.
Da bin ich echt froh über das profane Absackerchen am Schluss: wenn Bärfuss 350’000.- kassiert, was bekommt dann wohl tsürri mal für ihr Archiv?
Viele andere Künstler aller Arten müssen heutzutage für Hausräumungen zahlen.
Zumindest da ist der zeitgenössische Schreiber TOP, Kohle machen ist sowas von Zeitgenosse.
Danke Herr Zeyer, ich warte auf den Winter und breche dann die Überforderung auf Herausforderung runter, wo, wer, wie mir jemand das was und warum dieser Bücher noch näher bringen könnte.
Die Welt fordert einem so schon einiges ab.