Zivilisation? My ass
Wie der Ami sagt, woher wir unsere Leitkultur beziehen.
Wahrscheinlich sieht zivilisatorischer Fortschritt heutzutage so aus:
Vorher.
Nachher.
Und dennoch gibt es ihn. Sonst würden wir heute noch in Höhlen hausen und gelegentlich an einem Mammut knabbern.
Allerdings gibt es offenbar Fragen, die zu gross für den Menschen sind. Denn daran knabbert die Menschheit auch schon seit ein paar tausend Jahren. Gibt es Gut und Böse, und wenn ja, wie unterscheidet es sich? Wieso wird bei kriegerischen Auseinandersetzungen schnell auf dem Niveau von Neandertalern argumentiert? Woher kommt dieser unbedingte Wille zur Rechthaberei und primitivem Schwarzweissdenken?
Oder müssen wir nicht einfach eingestehen, dass die Debattenkultur zu Zeiten von Salons während der Aufklärung entschieden höher entwickelt war als sie es heute ist?
Oder muss man sich einfach eingestehen, dass Masse Moral mindert, dass bei Massenveranstaltungen (und Massenmedien) die Erkenntnis von Le Bon gilt, dass das allgemeine Niveau auf dasjenige der unterbemittelten Teilnehmer an der Masse sinkt?
Vielleicht ist es wirklich so, dass die Möglichkeit des allgemeinen Hineinkrähens mittels Social Media, Kommentaren und jeglicher Form des Aufdrängens von Unausgegorenem einen hochstehenden und auf Erkenntnisgewinn ausgerichteten Diskurs verunmöglicht.
Madame de Staël und Manon Roland, Juliette Récamier und Marie d’Agoult, interessanterweise waren es meistens Frauen, die solche literarische Salons (bei denen es bei Weitem nicht nur um Literatur ging) abhielten, in denen zum Beispiel Denis Diderot verkehrte, der die wohl grösste Leistung des vorrevolutionären Europa erbrachte: die Enzyklopädie, die von 1751 bis 1780 erschien und nichts Geringeres als Anspruch hatte, das gesamte menschliche Wissen alphabetisch wiederzugeben.
Die nostalgischen Gefühle von heute entwickeln sich, weil es damals tatsächlich um die Suche nach Erkenntnis ging, tatsächlich gelebt wurde, dass ein Fortschreiten zu mehr Begreifen nur im möglichst schrankenlosen Austausch von Argumenten und Gedankengängen stattfinden kann. Wobei das Einhalten von Höflichkeit und Anstand eine Grundvoraussetzung für den Meinungsaustausch war.
Man stelle sich heute mal vor: in gewissen Salons gehörte es zum guten Ton, dass jemand, der replizierte, zuerst durch eine kurze Zusammenfassung des vorher Gesagten beweisen musste, dass er auch zugehört und den Inhalt verstanden hatte. Wenn man das in einer modernen Talk-Runde einfordern würde …
Nun waren diese geselligen und vor Geist sprühenden Abende natürlich nur für die happy few bestimmt; niemand wäre auf die Idee gekommen, dass das gemeine Volk mitreden sollte oder gar die Voraussetzungen mitgebracht hätte, um das Diskutierte zu verstehen.
Dass heutzutage jeder Flachkopf meint, er habe im Rahmen der Meinungsfreiheit das Recht, Unausgegorenes herumzukrähen, wohlan. Aber wenn man auf das fokussiert, womit sich ZACKBUM beschäftigt, nämlich mit den Medien, dann muss man immer wieder und immer wieder sagen, dass hier ungeahnte Auslotungen von geistigen Niederungen stattfinden.
Selbst die Kriegshetzerei nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Deutschland, Österreich, England und Frankreich hatte im Vergleich zu den heutigen Tiefebenen noch Niveau. Ein Ernst Jünger, so unerträglich er in der Verherrlichung von Stahlgewittern war, schrieb auf einem intellektuellen und kulturellen Niveau, von dem der durchschnittliche Sprachvergewaltiger bei Tamedia, CH Media oder Ringier nicht einmal den Hauch einer Ahnung hat.
Sind wir zivilisatorisch 2024 weiter, als wir es in Europa 1924 waren? Oder haben wir sogar einen neuerlichen Rückfall erlitten? Wenn man die öffentliche Debatte über Covid, Ukraine und Naher Osten als Beispiele nimmt: eindeutig. Der Aspekt «wir lernen in einer offenen Debatte, die um des Erkennisgewinns willen geführt wird» ist völlig verschwunden.
Jeder will belehren, niemand lernen. Jeder will Recht haben, niemand zugeben, dass er es doch auch nicht weiss. Jeder bietet wohlfeile Rezepte zur Heilung von allem an. Niemand räumt ein, dass die nicht an der Realität überprüft werden können, weil der Schreihals seine Ratschläge völlig haftungsfrei, verantwortungs- und einflusslos erteilt.
ZACKBUM hingegen gibt ein weiteres Mal zu: wir stochern im Nebel, bilden uns unsere Meinung und verzapfen die. In der Hoffnung, dass es jemanden interessieren könnte. In der Gewissheit, dass sie nichts bewirkt.
Und warum dann das Ganze? Ganz einfach. Weil die zwanghafte Notwendigkeit der Herstellung Spass macht. Und die Lektüre hoffentlich auch. Sonst ist da nichts.
Aber irgendwie bin ich gerade froh, dass wir es nicht mit allzu sprach- und wortgewaltigen Journalierenden zu tun haben. Vielen Dank Herr Zeyer 🙂
Besten Dank an Zackbum für Inspiration, Denkanstos, Reibungsfläche. Das ist schon einiges!