Im Tagi bärtschiet es überall
So viele Redaktoren ahmen die publizistische Leiter nach unten nach.
CH Media hatte auch einmal eine publizistische Leiter nach unten. Pascal Hollenstein liess sich als Sprachrohr von Jolanda Spiess-Hegglin missbrauchen, beschimpfte seine Leser als Milchkühe – und wurde von einem Tag auf den anderen entsorgt. Wanners war es zu viel geworden.
Seit der letzten Reorganisation hat Tamedia (oder «Tages-Anzeiger», man weiss nicht einmal genau, wie der Haufen aktuell heisst) einen publizistischen Leiter. Simon Bärtschi ergriff die erste grosse Möglichkeit, sich unsterblich zu blamieren, indem er das nächste grosse Rausschmeissen als «Weichenstellung für Qualitätsjournalismus» hochschwurbelte. Seither gibt es die Bärtschi-Skala, mit der Peinlichkeit gemessen wird. Seine eigene Benchmark liegt bei 10 Bärtschis.
Die ganze «Bschiss»-Sause arbeitet sich daran ab und erklimmt neue Höhen; zurzeit liegt sie bei einer 13. Die 12 erreichte sie schon, als sie den «Campaigner» Daniel Graf interviewte, der schwere staatspolitische Bedenken äusserte und über seine Konkurrenz herzog. Was der Qualitäts-Tagi zu erwähnen vergass: auch Graf ist im Geschäft des Unterschriftensammelns unterwegs.
Aber nachdem man diverse Kreisch-Artikel zum Thema brachte, den Fachmann interviewte, sogar hübsch geframt die Stellungnahme der Bundeskanzlei in die Pfanne haute, was bleibt da noch, um die Mähre weiter zu Schanden zu reiten? Natürlich, der Kommentar.
Veredelt zum «Leitartikel» stellt Thomas Knellwolf eine knallharte Forderung auf:
Schon im Lead arbeitet er mit allen Triggerwörtern: «massive Fälschungen», «Skandal», «spielen Ernst der Lage herunter», «dringend Massnahmen».
Nur hat das Getobe ein kleines Problem: es ist beweisfrei. Es ist Vermutungs- und Unterstellungsjournalismus. Der Tagi ist auch nicht aus eigenen Kräften auf diesen angeblichen Skandal gestossen. Er wurde angefüttert mit einer Strafanzeige.
Um die herum schlingt er gewagt Girlanden. Die Bundeskanzlei habe das schon lange gewusst, «aber sie schlug nicht Alarm». Immerhin wird ihr nicht mehr unterstellt, sie habe nichts getan. Dass sie sich erklärte, was soll’s. Umhüllt von tropfender Häme durfte sie mal kurz zu Wort kommen:
«Das Amtsgeheimnis, die Unschuldsvermutung, die laufenden strafrechtlichen Verfahren sowie der Schutz der Abstimmungsfreiheit gebieten es der Bundeskanzlei, die bestehenden Verdachtsfälle diskret zu behandeln.»
Zudem: «Solange die laufenden Strafuntersuchungen nicht abgeschlossen sind, kann die BK (Bundeskanzlei, Red.) keine gesicherten Aussagen machen über das Ausmass mutmasslicher Unterschriftenfälschungen. Doch ihres Erachtens liegen keine belastbaren Indizien vor für die Vermutung, dass über Vorlagen abgestimmt wurde, die nicht rechtmässig zustande gekommen sind.»
Aber das ist natürlich für den Tagi nur blödes Gedöns, sonst könnte er ja nicht weiter «Skandal» rufen. Während also die Bundeskanzlei «herunterspielt», weiss Knellwolf: «Kontrolleurinnen und Kontrolleure wissen: Es fliegen nur die besonders dreisten oder dummen Fälscherinnen und Fälscher auf.»
Sich einfach an Recht und Gesetz halten, die Unschuldsvermutung gelten lassen, die Ergebnisse von Strafverfahren abwarten – ach was. Damit wäre es doch kein schön knackiger Skandal mehr. Deshalb stellt Knellwolf auch gleich noch ein paar knallharte Forderungen auf, was nun getan werden müsse. Dass sie allesamt untauglich oder illegal sind, was soll’s:
«Damit das Vertrauen in die direktdemokratischen Prozesse erhalten bleibt, müssen die Bögen von Abstimmungen, die anstehen, zumindest stichprobenweise nachkontrolliert werden – und zwar indem die Personen, die angeblich unterschrieben haben, abtelefoniert werden. Sollte es für solche Kontrollen keine rechtliche Grundlage geben, muss diese schnellstens geschaffen werden.
Zudem muss langfristig ein weniger anfälliges System installiert werden. Sicherer gemacht werden kann der bisherige Sammelprozess durch ein Unterschriftenregister bei den Gemeinden oder durch E-Collecting, also elektronisches Sammeln, zum Beispiel über das Handy. Will man das nicht, bleibt nur noch ein Verbot des kommerziellen Sammelns – was ohnehin die einfachste Lösung wäre.»
E-Collecting, die Lieblingsidee von Graf, mit der er seine beeindruckende Adresskartei noch wertvoller machen könnte, obwohl es hier gewichtige datenschützerische Probleme gibt.
Normalerweise, das kennt man von x Wiederholungen bei den Leaks und Papers, wird Tamedia noch ein Weilchen nachjapsen, bis dann alle Qualitätsjournalisten sich trollen (falls sie nicht vorher gefeuert wurden).
Umrahmt wird das mit einem faktenwidrigen Interview mit dem «deutschen Ökonomen Holger Schmiedin», der kühn behauptet: «Leute wie Sahra Wagenknecht liegen völlig falsch», denn der Westen, also Europa, befinde sich keineswegs im Niedergang. Das wird den deutschen Mittelstand aber freuen zu hören. Nur dürfte ihm der rechte Glaube fehlen.
Zwecks Messung an der Bärtschiskala führt ZACKBUM noch die Höchstleistung des «Magazin» an: «Fragebogen zu Liebe, Sex & Partnerschaft». So eine billige Nummer trauen sich selbst Boulevardmedien immer seltener.
Und schliesslich verdreht Daniel Schneebeli mit seinem woken Kommentar «Migranten Stipendien zahlen – und Sozialhilfe sparen» auf absurde Weise die Wirklichkeit, um Stimmung für eine Zürcher Abstimmung zu machen. Auch hier erspart der Tagi dem Leser Verwirrung durch Gegenmeinungen.
Das läppert sich alles zu einer beeindruckenden Zahl von 18 Bärtschis in einer einzigen Ausgabe.
Lieber Tages-Anzeiger, liebe Tages-Anzeigerin, da geht noch was. 20 Bärtschis ist in Reichweite. Gebt nochmal alles, bevor Eure Reihen gelichtet werden. Wobei, mit rund 100 Nasen weniger kommt ihr auch auf 20 Bärtschis. Man muss nur wollen.
«Aldi-Journalismus» wäre eine Beleidigung für Aldi.