Wie das «Tagblatt» den Osten beschallt
Einheitssauce aus dem Hause CH Media. Plus bescheidene Eigenleistungen.
Mit «Die Ostschweiz» verschwindet die einzige Alternative zum Einheitsbrei aus Aarau in der Ostschweiz. Dort herrscht das St. Galler Tagblatt mitsamt diversen weiteren Kopfblättern, die sich inhaltlich lediglich durch ein wenig Lokalberichterstattung unterscheiden.
In der Auslandberichterstattung wärmt CH Media, und somit auch das «Tagblatt», gerne alte Storys auf. So zetert Remo Hess aus Brüssel am 5. September:
Immer wieder dieser Orbán, neben Donald Trump der Lieblingsfeind aller woken Schreiber. Kleines Problem dabei: bereits am 30. Juli titelte die «Süddeutsche Zeitung»: «Einfallstor für Putins Gefolgsleute. Viktor Orbán ermöglicht Russen und Belarussen mit Visa-Erleichterungen die Einreise in den Schengen-Raum.»
War knackiger formuliert und fand natürlich sein Echo in den Kopfsalatblättern von Tamedia. Auch die SDA klapperte am 2. August hinterher. Immerhin nau.ch und die SDA meldeten dann die Gegenwehr Ungarns, es «verteidigt Sonderregel für Gastarbeiter». Und am 22. August fasste die NZZ nochmal zusammen: «Visa-Lockerungen als Einfallstor für russische Spione? Ungarn lässt die EU erst zappeln – und dementiert dann formell».
Man kann als mit Fug und Recht sagen, dass dieses Thema abgefrühstückt ist. Gegessen. Erledigt. Nur nicht für das «Tagblatt», dieses Qualitätsorgan.
Welche Qualität legt es denn in der Lokalberichterstattung vor? Eine hohe, im wilden Mischmasch inklusive Anzeige:
Ein exklusiver Einblick in das Haus eines Architektenehepaars, der Gossauer «Benzinpreis-Brecher», die «Top-Autoversicherung», der Bundesrat räume «Fehler bei Corona-Massnahmen» ein. Das Thema wäre vielleicht Gelegenheit für etwas Selbstkritik, denn auch CH Media verfolgte das staatliche Handeln mit unkritischer Distanz und drosch auf «Corona-Leugner» und andere «Aluhut-Träger» kräftig ein. Aber nicht doch.
Dann eine weitere Portion Gemischtes und Gehacktes:
Lehrlinge wandern aus Appenzell ab, Filmfestspiele Venedig, schon wieder die «Top Autoversicherung», der Thurgau soll zur Annahme von Bargeld gezwungen werden, etwas Weissraum, und in Georgia hat ein Teenager vier Menschen an einer Schule getötet. Das nennt man mal eine Handschrift.
Eine eigene Note können Zeitungen durch ihre Kommentare setzen. Leider ist das bei CH Media intellektuell und auch sonst eher überschaubar.
Bruno Knellwolf übt sich in Ausgewogenheit: «Manchen waren die Corona-Massnahmen des Bundes zu streng, anderen zu lasch». Statt ein solches Einerseits-Andererseits zu versprühen, verpasst er wieder einmal die Gelegenheit, Vergangenheitsbewältigung in eigener Sache zu machen. Wie war eigentlich die Berichterstattung von CH Media? Gab es da vielleicht Fehler? Wenn ja, welche? Könnte es sein, dass der zunehmende Vertrauensverlust in die Medien auch darin begründet liegt, dass sie während der Pandemie zu lammfrommen Nachkläffern staatlicher Massnahmen wurden? Wuchs nicht «Die Ostschweiz» gewaltig und überholte sogar das Tagblatt online, weil es einen kritischeren Ansatz fuhr?
Könnte man doch mal kommentieren. Könnte.
Schliesslich erklärt sich noch der Deutschland-Korrespondent Hansjörg Friedrich Müller, den CH Media von der NZZ erbte:
Auch hier ist die Frage, ob es den Leser wirklich auf fast einer Seite interessiert, wieso Müller dieses Adjektiv für die AfD verwendet. Nach einem länglichen Ausflug in die Geschichte und in Stellungnahmen des deutschen Verfassungsschutzes outet sich Müller:
«Der Verfasser dieser Zeilen bezeichnet die AfD manchmal als «rechts», meist aber als «rechtsradikal». Extremistisch wäre sie, wenn sie ein Ende der bestehenden politischen Ordnung anstreben würde. Die Belege dafür erscheinen ihm bisher nicht als ausreichend.»
Dann erklärt Müller, wieso er einen anderen Begriff nicht verwende: «Die Bezeichnung «rechtspopulistisch» empfindet er dagegen als zu harmlos, lässt sie doch eher an einen Politiker wie den Niederländer Geert Wilders denken, der für eine harte Asylpolitik eintritt und sich islamfeindlich äussert, aber nie behaupten würde, ein Mensch afrosurinamischer Abstammung könne kein Niederländer sein. AfD-Politiker nennen eingebürgerte Migranten oft verächtlich «Passdeutsche».
Mit «er» meint er übrigens sich selbst, so als eine Art Distanzierung von sich selbst. Oder wie auch immer. Dann wird es unfreiwillig komisch, denn Müller nimmt sich seine Leser zur Brust:
«Die Bezeichnung der AfD als «rechtsradikal» führt in den meisten Fällen zu energischem Widerspruch aus der Leserschaft: Man habe das Programm der Partei gelesen, heisst es dann in den Zuschriften, dieses stehe doch nicht im Widerspruch zur deutschen Verfassung, die AfD fordere ja auch nichts anderes als die SVP und so weiter. Die Alternative für Deutschland ist aber anders als die SVP. Und eine Partei ist mehr als ihr Programm: Aus den Reihen der AfD sind rassistische Entgleisungen bekannt, die zu zahlreich sind, um als Einzelfälle abgetan werden zu können.»
Daher: «Es ist die Meinung des Autors. Er steht zu ihr, kann aber damit leben, dass ihm widersprochen wird.»
Also, Müllers Meinung führt nach eigenem Bekunden sehr häufig zu energischem Protest seiner Leser. Offensichtlich teilen die seine Meinung nicht. Bitte, sagt da Müller, es sei aber – wieder dritte Person – «die Meinung des Autors», der wohl Müller heisst. Und wenn die dem Leser nicht passt, nun ja, damit könne er, also Müller, leben. Vielleicht solange, bis zu viele Leser ihrer gegensätzlichen Meinung damit Ausdruck verleihen, dass sie nicht länger bereit sind, für Müllers Meinung zu bezahlen.
Denn, Überraschung, eine Meinung muss man sich auch leisten können.
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