Quo vadis, NZZ?

Neben viel Intelligentem gibt es immer wieder bestürzend Dummes.

Der Kommentar «Noch nie ging es Frauen so gut» von Birgit Schmid in der NZZ strotzt vor Intelligenz, gutem Sprachgebrauch und Argumenten. Sie zerlegt die neue Weinerlichkeit, zu der europäischer, Schweizer Feminismus denaturiert ist. Je mehr er Phantomschmerzen bejammert, desto hysterischer wird er.

Damit zeigt Schmid auch durchaus Mut; logisch, wird ihr kleines Wunderwerk in feministischen Kreisen mit finsterem Schweigen beantwortet; dort bereitet man sich bereits auf den «Frauenstreiktag» am 14. Juni vor.

Auch viel Mut zeigt Andreas Rüesch mit seinem NZZ-Kommentar «Mehr Freiheit, weniger Neutralität». Allerdings ist es bei ihm Mut zur offen gezeigten Dummheit. Im Titel missbraucht er den alten FDP-Slogan «Mehr Freiheit, weniger Staat». Wie soll nun aber mehr Freiheit durch weniger Neutralität entstehen? Angesichts des Ukraine-Kriegs diagnostiziert Rüesch in der Schweiz «zwei Lager: die Fundamentalisten und die Schlaumeier». Mit diesen beiden abwertenden Begriffen meint er die Verteidiger der strikten Neutralität, die auch gegen Wirtschaftssanktionen gegen Russland seien. Und diejenigen, die eine «Lockerung» der Neutralität anstrebten, damit die Ukraine sogar mit Waffenlieferungen direkt oder indirekt unterstützt werden könnte.

Beides sei falsch, denn: «Neutralität ist nur so lange etwas wert, als sie vom Ausland anerkannt und geschätzt wird. Das trifft je länger, je weniger zu», weiss Rüesch, bleibt aber jeden Beweis dafür schuldig. Stattdessen greift er weit in die Geschichte zurück und wiederholt Altbekanntes, von 1689 an. Dann springt er schnell zur Nachkriegsordnung nach 1945, lässt aber beispielsweise den Vertrag von Versailles von 1919 aus, in dem die Neutralität der Schweiz «zum Zweck der Aufrechterhaltung des Friedens» anerkannt wurde.

Nach dieser selektiven Auswahl aus der Geschichte meint Rüesch, durch Wiederholung werde sein Argument besser: «Unter dem Eindruck des Ukraine-Krieges nähert sich das ausländische Verständnis für die schweizerische Neutralität jedoch dem Nullpunkt. Aus den USA und der EU hagelt es Kritik an einer Politik, die als unsolidarisch und egoistisch betrachtet wird. Der ganze Westen hat sich angesichts der Bedrohung aus Russland einen Ruck gegeben, nur die Schweiz scheint die Zeitenwende zu verschlafen.»

Deutschland zum Beispiel hat sich den Ruck gegeben, die eigenen Waffenexportgesetze über Bord zu werfen; die USA geben sich gerade den Ruck, die Lieferung von Kampfflugzeugen nicht mehr kategorisch auszuschliessen. Aber die Schweiz habe die «Zeitenwende verschlafen», dass Rechtsstaatlichkeit keine Rolle mehr spielen soll. Was für ein aufeinandergestapelter Unsinn.

Repetitiv salbadert Rüesch, dass auch «befreundete Staaten» angeblich «befremdet» darüber seien, was immerhin Bundesrat Alain Berset bei seinem Besuch in Deutschland mal wieder klargestellt hat: die Schweiz hält sich an ihre Gesetze. Punkt. Befremden, Kritik daran, dass die Schweiz ein Rechtsstaat ist, das sollte nun niemanden, auch Rüesch nicht, ernsthaft ins Wanken bringen.

Völlig unverständlich wird er, wenn er sogar einen «wachsenden Reputationsverlust» befürchtet, wenn «die Schweiz die Krise auszusitzen versucht und auf ihrer Tradition beharrt». Himmels willen, ist denn nun auch in der NZZ alles erlaubt? Das Befolgen von Gesetzen, die Anwendung der vertragliche garantierten Neutralität, mit der die Schweiz im Übrigen durch zwei Weltkriege hindurch nicht schlecht gefahren ist, sei nun «aussitzen» und «beharren auf Traditionen»? Soll man also nicht länger auf der Tradition beharren, die Bundesverfassung und andere Gesetze ernst zu nehmen und ihnen nachzuleben, auch wenn das als «aussitzen einer Krise» missverstanden wird?

Behauptungen statt Argumente, nun läuft Rüesch in die Zielgerade ein: «Eines ist klar: Die Neutralität hat ihre ursprüngliche Raison d’être längst verloren.» Wem ist das klar, wieso sollte das so sein, was hat sich geändert? «All dies ist passé, da unsere Nachbarn längst in Frieden miteinander leben. Die Schweiz ist nicht mehr neutral, weil sie damit einer Staatsräson folgt, sondern weil die Neutralität Teil einer kaum noch hinterfragten nationalen Identität geworden ist.»

Unsere Nachbarn leben zurzeit in Frieden miteinander. Entweder glaubt auch Rüesch an das Ende der Geschichte, oder aber, das könnte sich im Verlauf der kommenden Jahrzehnte durchaus wieder ändern. Man denke nur an die vielen internen Probleme, die sich in Italien, Frankreich, aber auch Deutschland aufstapeln.

Oder verlängern wir Rüeschs Gedankengang nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit. Laut ihm hätte sich die Schweiz also auch spätestens ab 1939 einen Ruck geben sollen, nicht länger auf überkommenen Traditionen verharren, den Zweiten Weltkrieg nicht «aussitzen», sondern die «Freiheit von Europa» nicht zuletzt mit Waffenlieferungen an die Alliierten stärken sollen? Selbst Rüesch sollte dazu in der Lage sein, sich auszumalen, was das bewirkt hätte …

Was wäre denn heute die Alternative zur angeblich obsolet gewordenen Neutralität? Da wirft Rüesch den nicht gerade originellen Begriff der «Bündnisfreiheit» in die Runde. Genauer: Die Schweiz könne «gefahrlos ihre Politik der dauernden Neutralität aufkündigen und zu einer fallweisen, «einfachen» Neutralität übergehen».

Jetzt ist die Katze aus dem Sack. Neutralität von Fall zu Fall. Das passt zu Rechtsstaatlichkeit von Fall zu Fall.  Und wer oder was entscheidet, wann man es mal nicht so eng sehen sollte mit der Neutralität? «Der jetzige Fall eines Aggressionskrieges in Europa, der auch Schweizer Interessen mit Füssen tritt, wäre das Paradebeispiel einer solchen Konstellation.»

Pardon, welche Schweizer Interessen werden durch die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Russland und der Ukraine «mit Füssen getreten»? Laut Rüesch in erster Linie die Interessen der Schweizer Rüstungsindustrie: «Die Schweiz bliebe frei von Bündnispflichten, aber sie gewänne ungeahnte Freiräume in der Verfolgung ihrer Interessen hinzu, erlöst aus der Zwangsjacke ihrer bisherigen Aussenpolitik. Zugleich öffnete sich ein Weg, um die Freiheit Europas zu stärken – mit der Lieferung von Militärmaterial an die Ukraine, die in ihrem Überlebenskampf auch auf die Schweiz angewiesen ist

Ohne Schweizer Hilfe könnte die Ukraine ihren Überlebenskampf verlieren, mit ihr gewinnen? Welch ein unfassbarer Unsinn.

«Zwangsjacke, erlöst, Freiheit» für Waffenhändler und -hersteller? Was für ein armseliges Bild soll die Schweiz abgeben, wenn es nach Rüesch ginge. Glücklicherweise geht es nicht nach ihm; aber dass ausgerechnet die NZZ ihm den Platz einräumt, diesen Anschlag auf die Fundamente des Schweizer Rechtsstaats zu unternehmen und ungeniert die Interessen der Schweizer Rüstungsindustrie zu vertreten, das ist beunruhigend.

 

9 Kommentare
  1. René Küng
    René Küng sagte:

    Das Bild von zackbum war diesbezüglich präziser als der Text vom Meister.

    Aber wer darf sowas denn schon denken oder schreiben,
    ich mach’s halt – für all die ‹Solidarischen› die meinen, wir hätten in den vergangenen 15 Monaten vielen Ukrainern das Leben gerettet.
    Oder die ‹Freiheit›, so wie es die allermeisten Ukrainerinnen und deren Kinder dort in den letzten 30 Jahren ‹geniessen› durften.
    Ich rede nicht von der kleinen Elite und deren direkt profitierendem Umfeld, die westlichen Standard zelebrierten.

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  2. René Küng
    René Küng sagte:

    Herr Rüesch darf so limitiert denken und schreiben,
    WEIL es dem Chef bei der NZZ genau so passt.
    Wenn einer bei den westlichen Kriegstreibern von Anfang mit dabei war und fest im Atlantik-Bund, dann der. Intelligent und gebildet, wenn nicht selber happig reich, dann schlau genug, mit und für REICH zu bandeln im westlichen Herren-Konzert.
    Eine Ouvertüre, die es in zwei Jahrzehnten geschafft hat, Intelligenz, Scharfsinn, Mut und INTEGRITAET fast vollständig aus der Medien-Landschaft zu tilgen.
    Den Rest besorgt der Staat & Politik mit SRF, BBC, ARZFd & Co.
    Keine guten Aussichten auf die Art von Konzert, das uns erwartet…….

    Und als zackigen Einwurf:
    1939 hätte die Schweiz voll solidarisch und vorwärts-marsch mit die Welt erobern müssen – von wegen mit den Alliierten. Dann würde der historisch-zeitliche Vergleich eher stimmen.
    Das wär erstens damals ‹woke› gewesen – bevor es diese MarketingMasche gab – und zweitens entspräche es den Fakten:
    Ob in der Ukraine oder bei den Falken im Westen (tschuldigung, heute heisst das Sponsoren der ‹Freiheit›): es sind die wieder munter gewordenen Geister von damals, die treiben.
    Irgendwann musste ja die Saat von all den rüber geholten NAZI, deren ‹Wissen› und Gesinnung so voll aufgehen wie jetzt in diesen Jahren. An allen Fronten, auf allen Gebieten, wo Gewissenlose skrupellos Geld verdienen, Macht ausbauen können.
    Wenn nach rechts rutschen nicht mehr geht, weil rinks&lechz sowieso völlig durcheinander sind, dann ist auch für die NZZ der Mehrheitstrend angesagt: nach unten.

    Rechnen wir es an, dass dort zwischendurch noch Ausnahmen und Zwischenrufe von Gegenmeinung möglich sind. Bald: waren?

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  3. Heribert Seifert
    Heribert Seifert sagte:

    Sehr gut. Sie zeichnen sehr treffend das Doppelgesicht der NZZ.Muss man als Leser leidend aushalten, wenn man überhaupt noch ein deutschsprachiges Mainstream-Blatt lesen will.

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  4. Beth Sager
    Beth Sager sagte:

    Birgit Schmid, NZZ, hat ihre Auszeichnung auf diesem Portal redlich verdient.

    Heute ein Kommentar von Frau Chef Raphaela Birrer über «gendergerechte Sprache» im Tagesanzeiger.
    Ihre schwammige, nebulöse Sprache ein grosses Ärgernis. Sie schreibt opportunistisch: «die Deutungshoheit sollte weder bei (linken) Aktivisten noch bei einer (rechten) Partei liegen. Sondern in der Mitte der Gesellschaft». Ihre Illustration mit einem Keystone-Bild und einer Wandtafel zeigt aber ein andere Sprache. Bloss drei Möglichkeiten stehen bei Birrer nämlich offen! Sie zeigt somit klar und eindeutig, dass eine 4. Möglichkeit des status quo bei ihr nicht vorkommen darf. Dies, obwohl dieser aufgezwungene Genderunsinn von der Mehrzahl der Bevölkerung abgelehnt wird. Ihre ideologische Agenda zeigen sie klar mit diesem illustrierenden Bild.

    Apropos Gender-Thematik: Die Idee, dass damit Frauen und Transmenschen ausgeschlossen würden, beruht auf einem ABSICHTLICHEN Missverständnis. Wieso werden die Pluralformen wie Leser, Zuschauer usw. eigentlich als generisches Maskulinum bezeichnet? Die Endung -er sagt doch einfach, dass hier jemand liest oder zuschaut, ohne ein Geschlecht zu implizieren. Deshalb sagen wir ja auch problemlos Hallwilersee oder Zürchersee und nicht etwa Hallwilerinnen- Zürcherinnen oder Sempach:erinnensee.

    Frau Chef Birrer sollte das engagierte Essay von Birgit Schmid, NZZ lesen, um zur Vernunft zu kommen. Vielleicht sollte sie sich auch auseinandersetzen damit, dass es im Anglizistischen Raum diesen tagtäglichen, lähmenden Unsinn nicht gibt.

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    • Sam Thaier
      Sam Thaier sagte:

      Mit dieser Annabellisierung ™ holen sie keine mündigen männlichen Leser ab, Frau Birrer. Respektieren sie doch bitte diese plausible Umfrage ohne ständige Relativierung. In der deutschen WELT können gemäss Umfragewerte, bloss 10% der Deutschen Bürger Verständnis aufbringen für diese Gendervergewaltigung.

      Mangels Ehrlichkeit wird diese Tagesanzeigerinnen-Lektüre für Männer unlesbar. Weg ist weg Frau Birrer. Reissaus – and never come back!

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    • Simon Ronner
      Simon Ronner sagte:

      «Frau Chef Birrer sollte das engagierte Essay von Birgit Schmid, NZZ lesen, um zur Vernunft zu kommen.»

      Diese Übung würde ins Leere laufen. Linken, Woken, Feministinnen (und Feministen) mangelt es vielleicht auch an Vernunft. Ihre Agenda ist jedoch die der perfiden Manipulation. Sie wollen Chaos und Unsicherheit herbeiführen, bestehende Werte, Prinzipien und Tugenden denunzieren und lächerlich machen. Sie fühlen sich nur dann gut, wenn sie andere besiegen und niedermachen. Sie wollen durch ihre niederträchtigen Methoden Macht, Geld und Status erhalten. Genügen wird es nie, die Euphorie jeder Errungenschaft verpufft wie ein Strohfeuer. Darum wird die Hetze nie aufhören.

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