Innehalten? Ach was

Schreiben kann nur aus sich selbst erfolgen.

Honoré de Balzac war wohl der grösste Schöpfer von nicht-realen Menschenleben, den es jemals gegeben hat (zumindest für alle, die nicht an Gott glauben). Mehr als 2000 Figuren hat er in seiner «Comédie humaine» erfunden.

Woher er diese Kreativität nahm, ist völlig unverständlich. Man weiss nur, dass er sich dafür sein eigenes Leben gestohlen, Nacht um Nacht, begleitet von seiner Kaffeekanne, sich ums Leben geschrieben hat. Sozusagen erschwerend kommt noch hinzu, dass er alle seiner 88 Werke eigentlich mehrfach schrieb. Für die Setzer seiner Bücher war es die Horrormeldung, wenn die Fahnen wieder von Balzac zurückkamen. Da gab es dann seitenlange Ergänzungen, Streichungen, Umstellungen. Wieder und wieder.

Neben der Verbeugung vor einem Ausnahmegenie wollen wir damit sagen: jeder Schreibende kann nur das beschreiben, was er in sich hat. Das müssen wir noch etwas präzisieren. Natürlich hat der Kriegsreporter den Krieg nicht in sich. Der Porträtschreiber erfindet nicht den Porträtierten. Die Zusammenfassung einer Parlamentsdebatte hat ihren Ursprung nicht im Kopf des Berichterstatters.

Aber auf welcher intellektuellen Höhe beschrieben wird, welcher Wortschatz zur Anwendung kommt, auf welche Art der Leser mitgenommen wird, welche Metaphern, Anspielungen, Vergleiche, Wortspiele, Analysen und Interpretationen dazukommen, das hängt nun ausschliesslich vom Kopf des Schreibenden ab.

Wer den Schmerz einer Mutter über den Verlust ihres Kindes gültig beschreiben will, muss diesen Schmerz in sich tragen. Wer ein Gemälde von Picasso beschreiben will, muss diesen Maler verstehen. Wer ein kontemporäres Ereignis beschreibt, muss Kenntnisse über seine historischen Wurzeln haben. Wer fremde Länder beschreibt, muss die Mentalität der Bewohner verstanden haben.

Das alles ist eine Mischung aus dem erlernbaren Teil. Der besteht aus Handwerk. Aus der Beherrschung der deutschen Sprache. Aus der Liebe zu ihr. Aus eher banalen Kenntnissen über Aufbau, Einleitung, Cliffhanger, Neueinstiege, über verschiedene Tonalitäten, Stile, Darstellungsformen. Aus der Beherrschung von Tempo, Perspektive, sprachlichen Kamerafahrten, dem Zoom, dem Panoramabild.

Zum erlernbaren Teil gehört auch das Bemühen, dem Beschriebenen gerecht werden zu wollen. Gerecht im Sinne von: so wirklichkeitsnah und innerhalb des Objekts zu formulieren wie möglich. Nichts einfacher, als sich über die Dummheit eines dummen Menschen lustig zu machen. Nichts einfacher, als mit dem Besitz des letzten Wortes jemand vorzuführen. Ihn sprechen zu lassen, um das Gesprochene anschliessend in der Luft zu zerreissen oder der Lächerlichkeit preiszugeben.

Zu diesem Teil gehört auch die Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden zu können. Quellen richtig einzuschätzen, die Frage «cui Bono?» muss den Journalisten immer begleiten, wenn er angefüttert wird oder von ihm verlangt wird, angebliche Zeugen nur anonym zu zitieren.

Das und noch einiges mehr ist erlernbar. Ein Journalist auf der Höhe eines Kisch, eines Tucholsky, eines Mailer, eines Wolfe zu werden, das setzt dann noch einiges Nicht-Erlernbares voraus. Denn nicht jeder Maler kann ein Picasso, ein Goya, ein Rembrandt werden. Das ist dann die Abteilung Genie, herausragende Begabung; finden, nicht suchen. Hier erhebt sich dann Sprachmächtigkeit in den Olymp, bleibt der Leser beeindruckt, verstört, aufgewühlt, bereichert und unterhalten zurück.

Das war der einfachere Teil dieser Abhandlung. Nun kommt der schwierige: wie viele Journalisten, wie viele Publizisten, wie viele Schriftsteller (Voraussetzung: lebend), fallen einem in der Schweiz ein, auf die wenigstens die meisten dieser Kriterien zutreffen, wobei das Geniale durchaus fehlen darf?

ZACKBUM sendet hier das anhaltende Pausenzeichen. Nimmt den Telefonjoker. Hofft auf die Hilfe seiner Leser (und *innen, auch Nonbinäre willkommen, Hybride sind nicht ausgeschlossen, alle Diversen sollten sich angesprochen fühlen).

Wir wissen nur: alle, die sich ausgiebig mit sich selbst oder mit einer gendergerechten Sprache befassen, fallen schon mal weg. Alle, die lieber Antworten geben als Fragen stellen, ebenfalls. Alle, die nicht die Welt beschreiben wollen, sondern ihre Auswirkungen auf ihr Selbst ebenfalls.

Ja, da wird die Luft dann verdammt dünn. Immerhin, eine Ausnahme fällt uns doch noch ein, weil wir gerade von seinem neusten Werk auf das Angenehmste unterhalten und bereichert werden. Wir sind natürlich stolz darauf, dass es sich um unseren Doktorvater handelt, der nach seiner Emeritierung eine zweite Karriere als der sicherlich interessanteste Essayist, unterhaltsamer Gebildeter und souveräner Führer durch Landschaften der Erkenntnisse angetreten hat.

«Übeltäter, trockne Schleicher, Lichtgestalten», so heisst seine neuste Sammlung. Eigentlich hätten wir uns diese ganzen Ausführungen auch sparen können und einfach schreiben:

Lest dieses Buch.

Lest alle Bücher von Peter von Matt.

Es lohnt sich. Es bereichert ungemein. Es unterhält aufs köstlichste. Es gibt Hoffnung, dass in dieser finsteren Höhle der Mediokrität, stammelnden Unfähigkeit und selbstverliebten Geschreibsels doch noch einer die Laterne der Vernunft, der Aufklärung, der Bildung geistreich und unaufdringlich hochhält.

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