Die Jahresbilanz
Wie war 2022 für die Medien? Katastrophe.
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Die Wirklichkeit müsste wie die Nemesis über ihre mediale Darstellung herfallen. Für die Ungebildeten unter den Journalisten: Die Nemesis ist die griechische Göttin des gerechten Zorns, der ausgleichenden Gerechtigkeit.
Denn die grossen Massenmedien und sogenannten Qualitätszeitungen haben sich auch 2022 noch weiter von ihrer eigentlichen Aufgabe entfernt. Ihren Konsumenten und Zahlern ein bearbeitetes, eingeordnetes, nach Bedeutung gewichtetes Bild der Realität zu vermitteln.
Es gibt keine objektive Realität, wie schon viele Verteidiger des Marxismus-Leninismus leidvoll erfahren mussten. Aber es gibt mehr oder minder kompetente Versuche, eine Interpretation zu liefern, die dem Konsumenten einen Erkenntnisgewinn verschafft, ihn ein wenig begreifen lässt, was über 8 Milliarden Menschen in über 200 Staaten so treiben.
Wie sie leben, welche Träume sie haben, welche Mentalität sie prägt, welche geschichtlichen Erfahrungen. Wie sie Konflikte lösen oder eben nicht. Was sie so treiben, um das zu erreichen, was wohl der Traum jedes Erdenbürgers ist: sein kleines Glück im Diesseits verwirklichen.
Der Mensch ist ein widersprüchliches Wesen, gesteuert von Rationalität und auch Irrationalität. Die einen mehr, die anderen weniger. Er lebt in einer widersprüchlichen Wirklichkeit, einer multipolaren Welt, zersplittert, fragmentiert, granuliert und dennoch durch die Globalisierung so eng vernetzt wie noch nie in der Geschichte.
Dank Internet haben inzwischen rund 5 Milliarden Menschen Zugang zu einem Meer von Informationen. Das ist aber noch verschmutzter als die Weltmeere; dem Nutzer geht schnell die Luft aus und er ersäuft in wilden Strudeln von Belanglosigkeiten.
Dagegen zimmert er sich ein Rettungsboot, er schliesst sich einer Gruppe (oder mehreren) an. Hier versammeln sich die Kenner der Andamanen, die Sammler von Bierdeckeln, Sportsfreunde, Rechte, Linke, Abartige und Fetischisten, Kenner der Philosophie und Sammler von Pornos um wärmende Lagerfeuer, angefacht von Gleichgesinnten.
Dadurch wird die Welt vom bunten Kaleidoskop zu einem trichterförmigen Bildausschnitt, gleichförmig grau statt bunt, geordnet statt chaotisch, erklärbar statt geheimnisvoll. Rund statt kantig, einschränkend statt bewusstseinserweiternd.
In unsicheren Zeiten sucht der Mensch nach Sicherheiten. Will Bestätigung der eigenen Vorurteile, will nicht mit Widerspruch herausgefordert werden. Denn denken tut nicht weh, ist aber anstrengend. Schwarzweiss ist beruhigender als bunt und farbig. Aber Schwarzweiss-Seher sind wie blinde Maulwürfe, die sich durch die Erde graben und keine Ahnung haben, welche wahren Wunder sich an der Oberfläche abspielen.
Heinrich von Kleist verzweifelte an der einfachen Frage, wie es denn wäre, wenn alle Menschen grüne Brillen tragen würden, ohne das zu wissen. Dann käme ihnen die Realität grün vor, obwohl sie das nicht ist:
«Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urtheilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün — und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nicht mehr — und alles Bestreben, ein Eigenthum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich.»
Sind wir 2022 weiter als 1801, als Kleist das schrieb? Spielt in unserem Alltag die Nemesis noch eine Rolle? Damit sie das könnte, müsste man sich an sie erinnern. Nemesis, Zeus, Schwan, Helena, um derentwillen der Trojanische Krieg geführt wurde? Nemesis wird begleitet von Aidos, der Göttin der Scham. Ihre Hauptaufgabe ist, menschliche Hybris zu bestrafen und die Missachtung von Themis, der Göttin des übergeordneten Rechts und der Sittlichkeit.
Womit wir schon mitten im Problem der Medien wären. Brüllende Bildungsferne, historischer Analphabetismus, Schamlosigkeit und Unkenntnis des Begriffs Sittlichkeit: das sind Merkmale, mit denen man den modernen Journalismus ziemlich erschöpfend beschreiben kann. Es wird zunehmend gejapst und gehechelt, in ermüdenden Schlaufen die gleichen Narrative durchgekaut, die Bestätigung von Vorurteilen geliefert, statt die Bausteine für Urteile.
Denn, so ist der Mensch: er möchte die Welt schon verstehen. Er ist nicht bösartig von Natur aus, sondern eigentlich anteilnehmend und mitleidig. Nur kommt er so selten dazu. Er mag’s gerne kommod und bekömmlich. Aber bei der Lektüre der modernen Massenmedien (wenige Ausnahmen bestätigen die mächtige Regel) wird ihm Fastfood serviert. Angereichert mit Geschmacksverstärkern und Zucker als Geschmacksträger, der dank geschicktem Lobbying den Kampf gegen Fett längst gewonnen hat.
So wird das Drama der abserbelnden Medien zur Tragödie. Denn eigentlich hätten die Helden des Stücks, die Journalisten und Publizisten, den Ausgang in der Hand. Seit rund 30 Jahren gibt es das Internet. Es ist damit eine Generation alt, und es wäre die Rettung für alle Anbieter bearbeiteter News mit Nutz- und Mehrwert.
1605 erschien die wohl erste Zeitung Europas, das Wochenblatt «Relation aller Fürnemmen und gedenckwürdigen Historien». 400 Jahre lang war Print das Medium der Wahl, nur ergänzt durch Radio und dann TV. Alles Medien, die keine Interaktion zulassen, keine Individualisierung, keine Vernetzung, keine verschiedenen Ebenen der Vertiefung, keine Dreidimensionalität. Im Gegensatz zum Internet.
Aber in den dreissig Jahren seiner Existenz ist den grossen Verlagen, immer noch geprägt von der Druckermentalität, nichts Neues eingefallen. Ausser: Internet muss auch sein, das ist dann einfach digital und flimmert. Aber wie man damit Geld verdienen könnte, dieses Geheimnis aufzudecken, ist noch niemandem vergönnt.
Also klagen und jammern die Medien, krähen nach Staatshilfe, weil sie angeblich für die Demokratie unersetzlich seien. Aber weil sie als Ausweg aus der Krise nur eins kennen – sparen, bis es quietscht und knirscht –, nimmt ihnen das die Bevölkerung nicht wirklich ab. Die verlorene Abstimmung über eine Steuermilliarde Subventionen, trotz der geballten Medienmacht derjenigen, die davon profitiert hätten, ist wie ein Menetekel an der Wand. Das ist ein Rebus und bedeutet wohl: «Gott hat dein Königtum gezählt und beendet.»
Der babylonische König Belsazar soll sich in frevlerischem Hochmut an Gott versündigt haben und sich über ihn gestellt. Wie dichtete Heinrich Heine, der wohl begabteste Lyriker deutscher Zunge, so schön (leicht gekürzt):
«Doch kaum das grause Wort verklang,
Dem König ward’s heimlich im Busen bang.
Und sieh! und sieh! an weißer Wand
Da kam’s hervor wie Menschenhand;
Und schrieb, und schrieb an weißer Wand
Buchstaben von Feuer, und schrieb und schwand.
Die Magier kamen, doch keiner verstand
Zu deuten die Flammenschrift an der Wand.
Belsatzar ward aber in selbiger Nacht
Von seinen Knechten umgebracht.»
Es gab Zeiten, da meinten irre gewordene Banker, sie seien die «Master of the Universe». Es gab Zeiten, da meinten Medienclans, sie hätten Gelddruckmaschinen im Keller stehen, bis in alle Ewigkeit.
2022 bedeutet nicht das Ende der Newsmedien. Aber ihre selbstverschuldete Verzwergung, ihren beschleunigten Sturz in die Bedeutungslosigkeit. Begleitet von rechthaberischem Geschrei, unbrauchbaren und haftungsfreien Kommentaren, fuchtelnder, aber verantwortungsloser Besserwisserei und unappetitlicher Betrachtung des eigenen Bauchnabels.
Sie gleichen immer mehr dem Idioten von Shakespeare, leicht abgewandelt trifft’s auf den Punkt:
«News are a tale
Told by an idiot
Full of sound and fury
signifying nothing.»
Touché!!!