Geld wert? Tamedia

Das letzte Bezahlorgan unserer Serie: Tamedia.

Mit der Ausgabe vom Mittwoch wollen wir überprüfen, ob der «Tages-Anzeiger» Fr. 4.60 wert ist, die er am Kiosk kostet.

Dafür gibt es 36 Seiten, was einen Seitenpreis von 13 Rappen ergibt.Damit liegt der Tagi auf Augenhöhe mit dem «Blick», ist billiger als die NZZ (16 Rappen) und teurer als die Organe von CH Media (11 Rappen). Als Kaufanreiz bietet der Tagi oberhalb des Bundes das hier:

Sagen wir so: damit wird wohl kein rasender «muss haben»-Wunsch ausgelöst. Auch die Anrisse über «goldene Modejahre», «praktische Präsente» (was man nicht alles des Stabreims wegen reinwürgt) und «Hella Pick» (was, Sie kennen diese «grosse Journalistin» nicht?) überdecken nicht wirklich die doch gähnende Leere auf dem Rasen.

Auf Seite zwei folgt dann die Lieblingsrubrik fast aller Journalisten im Hause Tamedia: «Meinungen». Eva Novak meint, dass sich die «Politik Gedanken machen» solle. Worüber? Ob die Schweiz als neutrales Land keine Waffen in Kriegsgebiete exportieren dürfe, andererseits aber eine eigenständige Rüstungsindustrie behalten möchte. Wir sind gespannt, wie sie der «Politik» beim Denken zuschauen wird. Auf jeden Fall bekommt sie von Novak schon mal eins übergebraten im Titel: «Die Schweizer Rüstungspolitik ist verlogen.»

Der Reserve-Co-Chefredaktor Mario Stäuble meint, dass die Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr «nicht gut» dastehe. Er donnert: «Die Verfehlungen gehen über ein einzelnes Leak hinaus. Jetzt braucht es Aufklärung.» Eine interessante Position eines mehr oder minder führenden Mitarbeiters eines Organ, das doch immer wieder und mit grossem Trara Datenleaks ausbeutet.

Auf «Seite Drei» ist die Falschschreibung des Numerale wohl Warnhinweis auf den Inhalt. Es geht um die Untersuchung eines Gletschervorfelds durch eine Forscherin, die dort keinen Stausee sehen will. Eine echte Schnarch-Seite zum Überblättern.

Nun hatte der Tagi wie alle Printzeitungen an diesem Tag das Problem, dass er natürlich nicht aktuell über die Bundesratswahlen berichten konnte. Was tun? Na, da hilft doch immer ein Interview mit einer Ex-Bundesrätin, die nicht gerade mit Arbeit überlastet ist und sich gerne mit grossem Foto und ein paar Worthülsen in der Zeitung sieht:

Ohne frauenfeindlich sein zu wollen: das interessiert nun wirklich keinen, wie sich Calmy-Rey vor 20 Jahren in dem Moment fühlte, als sie in den Bundesrat gewählt wurde.

Mit der Bildauswahl auf der folgenden Seite zeigt Tamedia allerdings, dass Prognosen nicht so seine starke Seite ist:

Was war denn «International» so los? Nicht wirklich viel, laut Tagi, denn der Deutschland-Korrespondent darf sich um ein aussageloses Riesenfoto der deutschen Regierungsmannschaft herum darüber verbreitern: «Scholz muss die Zeitenwende jetzt auch wollen». Das ist eine so tiefe wie verwirrliche Aufforderung. Muss er wirklich, und was passiert, wenn er nicht will? Zwingt ihn dann Korrespondent Dominique Eigenmann dazu? Und was ist denn eigentlich eine «Zeitenwende»? Hat irgendetwas mit Alter zu tun, suggeriert der erste Satz: «Noch nie sah eine Regierung schneller alt aus als diese.» Da sich auf den Riesenfoto auch Ausseniminsterin Baerbock befindet, ist das keine sehr galante Bemerkung.

Mehr Ausland, Wirtschaft? Ach nö, lieber nicht. Dann aber der «Hintergrund». Alexandra Föderl-Schmid, stellvertretende Chefredaktorin der «Süddeutschen Zeitung» im fernen Wien, füllt eine Seite über Hella Pick. Hella who? Bitte, die ««Guardian»-Legende, aussenpolitische Expertin, Herzenseuropäerin».

Über Pick weiss Wikipedia: «In Deutschland wurde sie vor allem durch ihre Auftritte im «Internationalen Frühschoppen mit Werner Höfer bekannt.» Diese Sendung gab es von 1952 bis 1987. Was auch mit dem stolzen Alter der «Legende» korrespondiert, das wir hier nicht enthüllen wollen.

Die «Zürich»-Seite wird natürlich von der Datenaffäre und Jacqueline Fehr dominiert. Es bleibt aber genug Platz, um über die Zukunft des «Kosmos»-Gebäudes nach dem Bankrott zu spekulieren. «Schule, Kongresszentrum, Nachtclub?» Offenbar ist man da ideenmässig breit aufgestellt und denkt an die Zukunft. Die Gegenwart von über 70 gefeuerten Angestellten und auf ihren Rechnungen sitzengebliebenen KMU, nun ja, man kann doch nicht an alles gleichzeitig denken.

Etwas verwirklich wird es auch beim Artikel «Frau Seiler lädt zum psychedelischen Salon», wo es irgendwie um «die therapeutischen Möglichkeiten psychoaktiver Substanzen» geht, wobei sich jeder Scherz darüber verbietet, was die Autorin Tina Fassbind wohl beim Verfertigen des Stücks geraucht hat.

Titel wie «Rebellion in der Mode – war da mal was?» wollen offenbar dem Leser sagen: entweder bist du bereit für eine Zeitreise in die Vergangenheit – oder blätter schnell um. ZACKBUM hat sich für letzteres entschieden.

Schliesslich die WM, das Debakel, schreiberische Trauerarbeit. Natürlich muss sich auch das Entsenden von Sportredaktoren nach Doha amortisieren, also wird mit brüllender Originalität über englische Fans in einem «Pub in Doha» berichtet. Dreimal darf der Leser raten, was die Engländer im Pub wohl so treiben …

Hohen Nutzwert versprüht dann die Seite «Wolle oder Synthetik? Worauf Sie bei der Sportunterwäsche achten sollten». ZACKBUM gesteht allerdings: bei Sportunterwäsche achten wir auf garnix.

Dann begleitet einen die Wissensseite zum Ausgang: «Neuer Anlauf gegen das Artensterben». Sagen wir so: diese Ausgabe war nun nicht unbedingt ein Anlauf gegen das Artensterben bei Printtiteln.

Viel Meinungen, viel Fussball, viel Altes und Uraltes, penetranter Rechthaberjournalismus, Flucht in die Zukunft bei ungeklärten Fragen in der Gegenwart beim «Kosmos», ist das alles Fr. 4.60 wert?

Antworten wir im Tagi-Stil: das muss besser, wertiger werden. Es braucht eine Zeitenwende, sonst sieht der Tagi so alt aus wie einige Protagonisten dieser Ausgabe. Oder kurz: nein.

 

6 Kommentare
  1. Max Kaiser
    Max Kaiser sagte:

    Die TX Group soll den Tagesanzeiger an eine Stiftung verschenken. Er ist für diese börsenquotierte Unternehmung bloss eine unwirtschaftliche Bürde. Nur Herzblut und Leidenschaft würde diesen morschen Kahn überlebensfähig machen.

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  2. H.R. Füglistaler
    H.R. Füglistaler sagte:

    Noch gibt es für rund 4.60 eine Tasse herrlich duftenden heissen Kaffee.
    Dazu viele Zeitungen zum Gratislesen. Den Tagi zum Schluss aufbewahren.
    Ist ohnehin nur kalter Kaffee.

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  3. Rolf Karrer
    Rolf Karrer sagte:

    Heute ein erneuter ganzseitiger Artikel im TA über einen LSD-Selbstversuch. Die Häufung in dieser Themenwahl lässt aufhorchen.

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    • Tristan Schreiber
      Tristan Schreiber sagte:

      Ich verstehe das schon. Im tristen Grossraumbüro sitzend, dem Meinungs- und Anpasssungsdruck unterliegend, stramm linksschreibend, die Kollegen glotzen. Da, ein beherzter Griff zum Fläschchen oder Brieflein, ein Zug oder ein Schluck, und die Welt wird wieder bunt und erträglich. Die Gedanken fliessen in einen neuen Beitrag, der Tag ist gerettet, die Anerkennung gesichert.

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  4. Beth Sager
    Beth Sager sagte:

    Die „Kehrseite“ im Tagesanzeiger hat sich gewandelt in letzter Zeit. Früher mehrere bebilderte kleine Artikel. Jetzt ein dominierender Artikel über mindestens drei Spalten.

    Die „Kehrseite“ ist eigentlich ein dankbarer Name für alles und jenes. Somit könnte diese Rubrik „Kehrseite“ eigentlich mehrere Seiten umfassen. Ein TA-Orientierungspunkt, wo heitere und ernsthafte Themen querbeet untergebracht wären. Eben Freestyle-Charakter, wo in dieser Sparorgie wohl noch weitere Ressorts Platz finden würden.

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    • Mario Sacco
      Mario Sacco sagte:

      So dürfte es zukünftig aussehen. Die „Kehrseite plus“ wird die Klammer werden für Gesellschaft, Kultur, Leben, Wirtschaft etc. Alles schön verpackt, wie sich seinerzeit unser Studentenblatt präsentierte.

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