Lest Enzensberger!

Diese Lücke ist nicht zu schliessen.

Es war verdächtig ruhig um ihn geworden, das liess schon Ungutes ahnen. Denn einen wacheren Geist hat Deutschland in den letzten Jahrzehnten nicht besessen.

Ein Sprachgenie, vielsprachig, ein Dichter und Denker, ein Essayist, ein Impulsgeber, ein eleganter Schreiber, Inspiration, unerreicht in seiner Vielfältigkeit.

Jetzt ist Hans Magnus Enzensberger mit 93 Jahren gestorben. Wie soll man diesen Literaturkontinent vermessen? Das von ihm gegründete «Kursbuch» war Orientierungshilfe über Jahrzehnte hinweg. Die «Andere Bibliothek» eine Sammlung von inspirierenden und schlichtweg gut und geschmackvoll gestalteten Büchern.

Seine eigenen Werke sind in ihrer Vielfalt unerreicht. Das Museum der modernen Poesie, der Landsberger Poesieautomat, Der Untergang der Titanic, Ach, Europa!, Von der Unaufhaltsamkeit des Kleinbürgertums, Schreckens Männer – Versuch über die radikalen Verlierer, Sanftes Monster Brüssel, Hammerstein oder der Eigensinn, seine Übersetzungen, Das Verhör von Habana. Und für Enzensberger-Anfänger: Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen.

Geniestreiche eines Genies, alles zusammen. Welch einen Humor hatte der Mann, sein belustigtes Kichern bleibt einem im Ohr, die wachen Augen, der messerscharfe Verstand.

Was man auch immer von ihm liest, man ist intelligent unterhalten, badet in herausragender Beherrschung der Sprache, der Sprachen, wird immer auf geraden oder verschlungenen Wegen zu Einsichten und Erkenntnissen geführt. Wenn es jemanden gibt, der den Zeitgeist immer schneller als andere aufnahm, wiedergab, verarbeitete, nie stehenblieb, dann war er das.

Öffentliche Auftritte, gar Talkshows oder prätentiöses Gehabe als Dichter waren ihm völlig fremd. Alleine die Beschreibung, wie er in seiner Münchner Wohnung einen Tisch voller Inspirationsquellen in Form von Zeitschriften hielt, denen er sich schnuppernd und geschmäcklerisch näherte, der Mann hatte ein Niveau, einen Kenntnisstand und eine Fähigkeit, mit wenigen sprachlichen Handgriffen ein Thema zu durchdringen, unglaublich.

Er gehört zu den wenigen Schriftstellern, die einen ernsthaft daran zweifeln lassen, ob man selbst etwas einigermassen Brauchbares zuwege bringt. Welch ein wacher Geist. Ganz am Anfang meines Schreibens wurde ich nach München eingeladen; Enzensberger hatte gerade «Transatlantik» gegründet, der Versuch, einen deutschen «New Yorker» zu etablieren. Mein Stück war angenommen worden, welche Ehre, ich durfte tatsächlich den von mir schon damals bewunderten HME kennenlernen, er hatte sich extra das Frühstück freigehalten.

Man sprach über dies und das, gerade war die «Ästhetik des Widerstands» von Peter Weiss erschienen, eine dreibändige Bibel für alle intellektuellen Linken. Enzensberger hielt nicht sonderlich viel davon, es knacke etwas in den Gelenken, das sei zu fäustelnd, zu sehr Gesinnung.

Eines meiner Idole kritisiert das andere, es wurde schnell schwierig, man verhakte sich etwas. Schliesslich meinte Enzensberger, dass leider der gute erste Eindruck durch mein Stück getäuscht habe, mit einer weiteren Zusammenarbeit werde das wohl nichts.

Die Begründung: «Sie haben viel zu viele Antworten und viel zu wenig Fragen.» Ich war so was von sauer und enttäuscht, wie konnte mir mein Idol nur so etwas vorwerfen, wo ich doch sicher war, die meisten Antworten für so ziemlich alle Probleme der Welt zu haben.

Dieser Satz hat mich ein Leben lang begleitet, er wurde immer wahrer, er wirkte segensreich, er half, ideologische Verhärtungen zu lösen, den Zusammenbruch des kommunistischen Lagers zu verarbeiten. Dabei war es nur ein einziger, schnell dahingeworfener Satz von jemandem, der genügend Sätze niedergeschrieben hat, von denen jeder einzelne es wert ist, nochmals gelesen und genossen zu werden.

In seinen Essays kann man erleben, wie sich jemand tänzelnd, vermeintlich federleicht auch den schwersten Themen nähert, vielleicht unerreicht in den «Aussichten auf den Bürgerkrieg», aber es gäbe so viele Beispiele. Dann der Dichter, der Nachdichter, der Übersetzer Enzensberger, welches Monument, das Museum der modernen Poesie; das gehört in jeden Haushalt, der nicht als völlig literaturfern gelten möchte.

Was bleibt, ist wieder einmal die bittere Feststellung, dass die Zahl der Zwerge durchaus zunimmt. Die Zahl der Riesen aber schmerzlich ab. Ein herausragender Denker und Dichter und Essayist deutscher Zunge; da wird das Aufzählen schwer und schwerer, will man Lebende erwähnen. Wer oder was heutzutage Literaturpreise gewinnt oder sich als Essayist lächerlich machen darf, das ist wirklich bedrückend, wenn man sich von einem ganz, ganz Grossen verabschieden muss.

Immerhin, seine Spuren hat er hinterlassen, seine Bücher sind alle noch da. Was den Überlebenden bleibt: lest Enzensbeger. Seine Werke spenden etwas, was so selten geworden ist: intellektuelle Unterhaltung, intelligenten Spass. Sie nötigen Bewunderung ab, ohne goetheanisch abgehoben daherzukommen. HME hat sich immer erfolgreich bemüht, so verständlich wie möglich zu schreiben. Alles als kinderleicht erscheinen zu lassen, was so verdammt schwer zu machen ist.

Ausser man ist ein Genie wie er. Hoffentlich sitzt er nun mit Diderot, Molière, Neruda, Durutti, Büchner, Lichtenberg und vielen anderen angenehmen Zeitgenossen am Teetisch. Man kennt sich, man versteht sich, man unterhält sich, immer wieder brandet Lachen auf.

Das wünscht man ihm von Herzen.

1 Antwort
  1. René Küng
    René Küng sagte:

    Bravo. Literatur-Banause bedankt sich für diesen engagierten, emotionalen, überzeugenden NachAufruf für Grösse. Und ein Zeyer, der sich klein macht, das ist auch gross.
    Irgendwo die letzten Tage von einem Zwerg (oder -in) gelesen, dass Enzenberger die Moderne nicht mehr ganz gerafft habe.
    Jetzt weiss ich, wie das zu verstehen war.
    Warte auf das nächste, erste Enzenbergerbuch, das mir den Weg kreuzt.
    Merci

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