Somm, der Anti-Leninist

Die grössten Kritiker der Elche waren früher selber welche.

Markus Somm hat einen weiten Weg ideologisch zurückgelegt. Von linksaussen nach rechtsaussen. Das ist sein gutes Recht. Meinungen und ideologische Positionen darf man ändern. Es gibt nichts Schlimmeres als das Politikerwort: «Ich habe schon immer gesagt.»

Nun haben Renegaten es so an sich, dass sie übertrieben oft und massiv auf das einschlagen müssen, was sie früher einmal lobten oder bewunderten. Und welcher Linke bewunderte nicht den Geniestreich Lenins, mit einer Handvoll Revolutionären aus der Schweiz nach Russland zu reisen und dort die erste sozialistische Revolution der Welt durchzuführen.

«Gestern wäre es zu früh gewesen, morgen ist’s zu spät.» Es ist nicht sicher überliefert, ob er das wirklich sagte. Aber es war unbezweifelbar ein politischer Geniestreich. Die wenigen Jahre, die ihm blieben, verbrachte Lenin mit ständigem Lernen und dem Führen eines Überlebenskampfs der von allen Seiten bedrängten Revolution.

Die Fahrt im plombierten Wagen durch Deutschland ging in die Geschichte ein; Historiker Somm ordnet ein: «Wenn es ein Ereignis gibt, das bis heute Europa heimsucht, dann die Russische Revolution von 1917. Was die Deutschen beförderten, um zu siegen, führte sie selbst ins Elend.»

Bevor er diese schräge Geschichtsthese weiter ausführt, erinnert er sich an seine eigenen Ausflüge an die Spiegelgasse in Zürich und sieht die Gedenktafel dort mit heutiger Brille:

«Seltsam, weil auffällig neutral, wenn nicht ehrerbietig gehalten – wenn man bedenkt, dass hier an einen der Massenmörder der Weltgeschichte erinnert wird, der nicht nur sein eigenes Land ins Unglück geführt hat, sondern die ganze Welt

Dann bricht er nochmals den Stab über das, was für Linke die grosse Oktoberrevolution war und ist:

«Es gibt wenige Ereignisse, die so verheerende, so tödliche, so weitreichende Folgen hatte wie die Russische Revolution. Rund 100 Millionen Tote weltweit. Der Ruin Russlands. Die Russische Revolution destabilisierte nach dem Ersten Weltkrieg halb Europa, insbesondere Deutschland und die osteuropäischen Länder. Indirekt bereitete sie damit auch dem Zweiten Weltkrieg den Weg (weitere 60 Millionen Tote).»

Welch ein einäugiger Blick durch eine dunkle Demagogenbrille, typisch für Renegaten. Welche Zustände vorher im zaristischen Russland herrschten, welche dekadente, unfähige Schicht von Fürsten und Grossgrundbesitzern an der Macht war, in welchem Elend die Bevölkerung lebte, mit welcher Unfähigkeit adlige Kommandeure ihre Truppen ins Gemetzel schickten, also schlichtweg: welche Ursachen die russische Revolution hatte, das ist dem Historiker Somm scheissegal.

Aber er hat sich erst warmgelaufen, nun nimmt er sich seines ehemaligen Idols an. Lenin, der «Opportunist», sogar mitschuld am Ukrainekrieg (und indirekt am Zweiten Weltkrieg). Lenin, der «Grossverbrecher». Und wer ist an ihm schuld? Der Zar, das Elend in Russland, der degenerierte Adel? Nein, «vor allen Dingen die kaiserliche Regierung des damaligen Deutschen Reiches. Lenin war ihr Mann. Die kommunistische Revolution war ihr Werk.»

Fritz Platten, deutsche Politiker, die Zugfahrt, die Ankunft in St. Petersburg: «Unversehens nahm er sein Zerstörungswerk auf.» Das fiel allerdings nicht so wirklich in einem zerstörten und zerrütteten Russland auf. Aber schliesslich:

«Lenin, der scheinbar nützliche Idiot, stellte sich als jener heraus, der die Deutschen wie Idioten aussehen liess. Er wusste es besser: «Es gibt keine Moral in der Politik. Es gibt nur den Zweck. Ein Schurke kann für uns von Nutzen sein, nur weil er ein Schurke ist.»»

Mit dieser Erkenntnis stand Lenin ganz alleine in der Politik da. Und die Deutschen waren nach Somm Idioten, weil nach der russischen Revolution auch in Deutschland zumindest der Versuch einer Revolution unternommen wurde. Woran auch Lenin schuld war, nicht etwa der grössenwahnsinnige Kaiser, seine blutsaufenden Generale und ein verlorener Angriffskrieg. Lenin als Produkt einer deutschen Intrige zwecks Destabilisierung des Kriegsgegners Russland. Diese Gähn-These wurde schon mindestens so häufig wie die Dolchstosslegende behauptet.

Geschichte wird immer umgeschrieben – mal schlau, mal blöd

Jedem ist es freigestellt, die Geschichte neu umzupflügen. Das passiert insbesondere in Deutschland häufig im Zusammenhang mit den beiden Weltkriegen. Die «Dolchstosslegende» nach dem Ersten Weltkrieg des deutschen militärisch-industriellen Komplexes, um von der Verantwortung von herrschender Klasse und Militär für die Niederlage abzulenken. Dann die notorischen Versuche, den Überfall von Hitler-Deutschland auf die UdSSR zu einem Präventivschlag umzulügen.

Und nun noch der spätberufene Somm, der Lenin als Wurzel allen Übels entdeckt. Nach marxistischer Auffassung sind Klassenkämpfe der Motor geschichtlicher Entwicklungen, und Revolutionen ihre Lokomotive. Individuen sind Charaktermasken im Dienste ihrer Klasse, deren Bedeutung von der bürgerlichen Geschichtsschreibung grob überschätzt würde. Berufsrevolutionäre wie Lenin stellen sich dabei in den Dienst des Proletariats.

Selbst die SP hing dieser Auffassung an, bis sie von Opportunisten und Karrieristen gekapert wurde. Und Somm soll in seinen Jugendjahren sogar mit dem Trotzkismus sympathisiert haben, war Mitglied der GSoA und galt später als Sozialdemokrat ohne Parteibuch.

Was treibt diesen Mann um?

Wieso er allerdings öffentlich noch viele Jahre später sich selber Abbitte leisten muss, und das erst noch in der Halböffentlichkeit eines «Nebelspalter»-Memo, das lässt sich wohl nur psychoanalytisch erklären.

Er nimmt dabei in Kauf, sich seinen Ruf als Historiker zu bekleckern und Ansichten zu formulieren, die nicht weit von Verschwörungstheorien entfernt sind. Auf jeden Fall stehen sie denen näher als der historischen Wirklichkeit.

Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen. Seit es Geschichtsschreibung gibt, wird sie immer wieder aufs Neue umformuliert, umgeschrieben, den jeweils herrschenden Narrativen angepasst. Ganz einfältige Historiker tragen ihre Ansichten und Vorurteile in die Geschichte hinein und vermelden triumphierend, dafür angebliche Belege und Beweise gefunden zu haben.

Das ist ein sehr erkenntnisfreies Tun, das nichts zur Aufklärung beiträgt, höchstens zur Gefahr, aus mangelnder Einsicht die Geschichte wiederholen zu müssen. Ob sich Somm noch an diesen Satz von Karl Marx erinnert?

«Hegel bemerkte irgendwo, dass alle grossen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.»

Auf die Geschichtsschreibung angewendet, ist Somm dann aktuell die Farce, nach seiner jugendlichen Phase, die er rückblickend als Tragödie empfindet.

 

 

 

 

 

 

6 Kommentare
  1. Henri Leuzinger
    Henri Leuzinger sagte:

    Es ist immer wieder drollig anzusehen, wie selbst gestandne Journalisten glauben, auf jede und sogar die abwegigsten Provokationen von Herrn Somm antworten zu müssen. Lasst den doch sein schwer bekömmliches Süppchen kochen und alleine löffeln – ihn immer und immer wieder zu zitieren, erhöht nur sein Ego.

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  2. Hans von Atzigen
    Hans von Atzigen sagte:

    Die harte Linke hat den faktisch allumfassenden Totalzusammenbruch des Realsozialismus nach UDSSR Muster bis heute nicht verkraftet und akzeptiert, die EU wurde zur ,,Ersatzheimat».
    Die aktuellen Ereignisse in der Ukraine, sind zum Teil Nachwehen dieses Zusammenbruches.
    Wie die Überlebenschancen der ebenfalls zu schnell zusammengepappten EU stehen, steht in den Sternen.
    Offenbar braucht innzwischen auch die EU einen Erbfeind als Klebstoff, zur sicherung ihres überlebens zumindest in der aktuellen Gestalt
    Letztlich entscheidet immer das Wirtschaftsergebnis ganz besonders bei imperien über Erfolg, oder in letzter Konsequenz Untergang.
    Nationen verkraften auch schlechte Zeiten, Imperien zerbrechen immer an nicht abwendbar, wirtschaftlichem Versagen und breiter Überdehnung.

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  3. Victor Brunner
    Victor Brunner sagte:

    Markus Somm sollte Hilfe, Gesprächs- oder Beschäftigungstherapie, suchen um seine «Jugendsünden» zu bewältigen. Nur Vergesstmichnichtkolumnen in der SoZ, beim TCS, und die Töibeliauftritte in «Sonntagszeitung Standpunkte» genügen nicht.

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  4. Jürg Streuli
    Jürg Streuli sagte:

    Wladimir Iljitsch Lenin war ein brillanter Taktiker und hat das morsche Zarenreich im Geniestreich gestürzt. Doch ohne den genialen Leo Trotzkij wäre der anhaltende weisse Widerstand nicht besiegt worden. Das fürchterliche Drama besteht darin, dass Lenin durch Krankheit geschwächt zu früh verstarb, um Jossif Stalin noch verhindern zu können. Er wurde zum zweitgrössten Schlächter in der Geschichte der Menschheit.

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  5. Mathias Wyss
    Mathias Wyss sagte:

    Die Russische Revolution fand statt, als Lenin noch in Zürich dem Nichtstun frönte. Er bzw. die Bolschewiken haben sie später einfach gewaltsam gekapert. Insofern ist die Gedenktafel falsch, ebenso wie die meisten Geschichtsbücher und andere Erzählungen. Aber wen interessieren schon solche Nebensächlichkeiten. Das Nichtstun war auch in Lenins Russland-Zeit seine Hauptbeschäftigung. Immer schön weit weg vom Geschütz – das Lebensmotto dieses schwächlichen Schreibstuben-Revolutionärs.

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