Keine mildernden Umstände

Es darf gelacht werden. Wie man um entscheidende Fragen herumrudert.

Die Ausgangslage war vertrackt. Bianca Lüthi, in der Wirtschaft zuständig für «Tourismus, Detailhandel und Immobilienmarkt», interviewt den Medienprofessor Urs Saxer zum Vincenz-Urteil. Nicht nur, dass sie frei von Sachkenntnissen ist. Es gibt noch ein zweites Problem. Denn das Thema ist die Frage, ob der Strafabzug von neun Monaten wegen medialer Vorverurteilung  zu recht erfolgte.

Klares Verdikt Saxers:

«Ich finde die neun Monate Strafmilderung nicht angemessen»

Er fügt zwar hinzu: «Gewisse Medien hätten in der Berichterstattung zurückhaltender sein können und sich das eine oder andere genüssliche Detail sparen können.» Auf der anderen Seite habe aber Vincenz selbst als Prominenter immer das Licht der Öffentlichkeit gesucht. Es ist allerdings schon ein kleines Kunststück, um die entscheidenden Fragen in einem längeren Interview herumzureden.

Aber wir verstehen das als Arbeitsplatzsicherung von Lüthi, bei der anhaltenden Sparwelle bei Tamedia. Zunächst einmal hatten die beiden Hauptangeklagten von der Staatsanwaltschaft einen Maulkorb bekommen; sie durften sich während der ganzen Strafuntersuchung und sogar noch nach Einreichung der Klage vor Gericht nicht zu den Vorwürfen öffentlich äussern. Ein absolutes medien- und prozessrechtliches Unding.

Erst kurz vor dem Prozess traute sich Beat Stocker aus der Deckung und gab der NZZaS ein eher verunglücktes Interview; Vincenz schwieg die ganzen vier Jahre lang, abgesehen von einem kurzen Statement nach der drakonischen U-Haft. Da hätte doch interessiert, was der Medienrechtler dazu gesagt hätte. Aber man müsste ihn halt fragen.

Um den ganz grossen Elefanten im Raum wird auch herumgeredet. Denn das Thema in diesem Fall ist ja nicht eine allfällige Vorverurteilung durch breite mediale Berichterstattung. Angesichts der Person des Angeklagten und seiner ehemaligen Position ist es klar und selbstverständlich, dass ausführlich berichtet wird.

Aber was überhaupt nicht thematisiert wird: wie steht es denn mit der kontinuierlichen Veröffentlichung von strikt vertraulichen Dokumenten aus der Strafuntersuchung? Die unter Bruch von Amts- und Geschäftsgeheimnis an die Öffentlichkeit gelangten? Was könnte ein Medienprofessor dazu sagen, dass selbst die Anklage vollumfänglich schneller in den Medien war als bei den Angeklagten?

Dazu könnte er sicherlich einiges sagen. Hätte man ihn gefragt. Kleines Problem für Lüthi: Ihr Oberchefredaktor Arthur Rutishauser war an vorderster Front, wenn es um die Veröffentlichung möglichst saftiger Details, Dokumente, Verhaltensweisen, Spesenabrechnungen von Vincenz ging. Genüsslich zitierte er Mal um Mal aus Unterlagen, die ihm zugespielt worden waren.

Dabei fragte er sich nicht einmal, in wessen Interesse es denn liegen könnte, damit den Ruf von Vincenz schon vor der Verhandlung restlos zu ruinieren. Denn in der ganzen Strafuntersuchung hatten ja nur drei Parteien Zugang zu diesen Akten. Die Staatsanwaltschaft, die Angeklagten – und Raiffeisen als Zivilkläger im Prozess. Nebenbei ist da noch ein Zivilprozess zwischen Raiffeisen und Vincenz/Stocker im Gange, bei dem es um richtig viel Geld geht; um über 100 Millionen Franken.

Das wären doch interessante Fragen an einen Medienrechtler gewesen; wie einfach sich heutzutage Medien instrumentalisieren lassen. Wie leicht sie sich anfüttern lassen. Wie hemmungslos sie aus ihnen zugespielten, eigentlich strafbewehrten Dokumenten zitieren. Aber eben, auch das hätte die interessante Medienfrage aufgeworfen, ob sich eine Redaktorin trauen darf, solche Fragen zu stellen – und das im Amt überlebt.

Verständlich, wenn auch bedenklich, dass Lüthi das nicht gewagt hat.

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