Vincenz: eine Stimme der Vernunft

Strafrechtsprofessor Marcel Niggli kritisiert das Urteil scharf.

Ordinarius für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Uni Freiburg: Niggli ist ein Schwergewicht, sozusagen die Instanz bei allen Fragen rund ums Strafrecht. Dabei hält er mit seiner Meinung nie hinter dem Berg – im Gegensatz zu vielen Kollegen, die sich lieber nicht in den Nahkampf mit den Mühlen der Justiz begeben.

Niggli rechnet in einem Interview im «Tages-Anzeiger» (hinter Bezahlschranke) mit dem erstinstanzlichen Urteil gegen den gefallenen Banker-Star Pierin Vincenz ab. Und lässt keinen guten Faden daran. Schon zuvor hatte er die 368 Seiten umfassende Anklage als «dünn» abqualifiziert. Aus der Tatsache, dass die beiden Hauptangeklagten länger in Untersuchungshaft sassen, folgerte er, «dass das Gericht keinen Freispruch fällen würde. Denn sonst müsste der Staat Ersatz leisten». So kam es dann auch.

Aber Niggli geht noch weiter und zerpflückt die Begründung des Gerichts für sein drakonisches Urteil (45 Monate für Vincenz, 48 für seinen Kompagnon). Dazu nimmt er ein handliches Beispiel:

«Wenn Sie mir 100 Franken schulden, und Sie geben mir die nicht, dann klage ich. Dann bin ich noch nicht geschädigt im strafrechtlichen Sinn. Die Vorstellung, dass jemand, der seine Verpflichtungen nicht erfüllt, per se schon eine Vermögensschädigung bewirkt, ist falsch. Denn dafür ist das Zivilrecht zuständig.»

Also das Problem, dass Vincenz und Beat Stocker ihren Arbeitgebern gegenüber eine Herausgabepflicht von Gewinnen haben, könne man nicht als strafrechtliches Problem sehen. Sondern als zivil- oder arbeitsrechtliches.

Das Gericht begibt sich auf einen gefährlichen Weg

Betrug und Arglist kann Niggli alleine durch die Verwendung eines Konstrukts nicht erkennen: «Das würde ja heissen, dass, immer wenn ich eine Beteiligungsgesellschaft nutze, ich schon im betrügerischen Bereich unterwegs bin.»

Auch die Rolle der Medien sieht der Professor sehr kritisch: «Ohne die Berichterstattung wäre möglicherweise das Urteil viel neutraler ausgefallen.» Im Fall des Spesenbetrugs hätte Niggli eine Strafe von einem Jahr bedingt für angemessen gehalten.

Über den Einzelfall hinaus sieht er aber ein grundsätzliches Problem:

«Wenn man sagt, dass Vertragsverletzungen automatisch strafbar sind, dann begeben wir uns auf einen sehr gefährlichen Weg.»

Es tut gut, eine Stimme der juristischen Vernunft zu hören. Denn gerade in diesem Fall wurden in der Öffentlichkeit (und durch die Öffentlichkeit) Begrifflichkeiten vermischt, die nichts miteinander zu tun haben sollten.

Moral und Strafrecht sind zwei verschiedene Dinge

Die Entrüstung über das moralisch fragwürdige Verhalten von Vincenz versperrte den Blick auf die strafrechtliche Würdigung. Wenn jemand Spesen in Striplokalen oder für Reisen seinem Arbeitgeber in Rechnung stellt, mag das anrüchig sein. Ob es aber strafrechtlich relevant ist, steht auf einem ganz anderen Blatt. Hier kommt noch ein weiterer Punkt hinzu, auf den Banken-Professor Kunz aufmerksam machte: diese Spesen wurden allesamt vom Vorgesetzten des Bankers, vom damaligen VR-Präsidenten, abgesegnet.

Wenn sie dennoch im Nachhinein als betrügerisch gewertet werden, muss eigentlich jeder, der Spesen verursacht, zusammenzucken. Denn selbst die Tatsache, dass sie akzeptiert wurden, schützt ihn nicht davor, allenfalls im Nachhinein strafrechtlich belangt zu werden.

Der ganze Themenkomplex Rotlichtspesen – und die unablässige Veröffentlichung saftiger Details unter Bruch des Amts- und Geschäftsgeheimnisses – kann nur so interpretiert werden, dass damit Ruf und Reputation des Angeklagten irreversibel geschädigt werden sollten.

Damit wurde das andere Thema, arglistiger Betrug durch verschleierte Beteiligungen ohne Gewinnherausgabe, sozusagen vorbereitet. Jemand, der einen solchen Lebenswandel hat, ist doch sicher auch im Geschäftsleben nicht sauber. Um dann noch ungetreue Geschäftsbesorgung auf ein anderes Niveau zu heben, nämlich als Betrug zu werten, setzt Arglist voraus. Die Beweisführung dafür ist tatsächlich mehr als «dünn» und beruht auf der Strapazierung eines Bundesgerichtsurteils im Fall von nicht herausgegebenen Retrozessionen.

Dass das Gericht hier der Argumentation des Staatsanwalts vollumfänglich folgte, macht es wahrscheinlich, dass das Obergericht korrigierend eingreifen wird.

Der Schaden ist angerichtet, unabhängig vom Ende der Justizodyssee

An der Tatsache, dass die gesellschaftliche Stellung der Angeklagten unwiderruflich zerstört ist, ihre finanziellen Verhältnisse zerrüttet, nicht zuletzt durch die schon Jahre andauernde Beschlagnahmung ihrer Vermögenswerte, stellt einen nicht wiedergutzumachenden Schaden dar.

Es geht hier keinesfalls um eine Verteidigung des Verhaltens von Vincenz. Aber es muss zwischen der strafrechtlichen und der moralischen Beurteilung strikt unterschieden werden. Hat doch Dreck am Stecken und konnte den Kanal nicht voll genug kriegen, das ist Volkes Stimme, aber keine rechtlich relevante Position.

Relevant ist hingegen, dass theoretisch bis zu einem rechtsgültigen Urteil für Vincenz und seinen Kompagnon die Unschuldsvermutung zu gelten hätte. Das ist in diesem Fall purer Hohn.

 

 

 

 

3 Kommentare
  1. Didier Venzago
    Didier Venzago sagte:

    Gut gab es endlich mal ein deutliches Verdikt gegen Wirtschaftskriminelle. Während jeder Einbrecher oder Schnellfahrer knallhart von der Justiz angegangen wird, konnten und können Weisskragen-Kriminelle agieren ohne mit ernsthaften Konsequenzen rechnen zu müssen. Schlimmstenfalls gibt es eine bedingte Strafe, bestenfalls Freispruch mit Schadenersatz ( Swissair). Weil – diese ganzen Wirtschaftsthemen sind ja so komplex, schwierig, nicht so eindeutig, häufig gar nicht so wie es auf den ersten Blick aussieht, und sowieso die Angeklagten wollten ja nur das Beste, aber es lief halt nicht so optimal. Diese Urteil war mehr als nötig. In dem Zusammenhang jetzt unbedingt noch Herr Professor Johannes Rüegg-Stürm als verantwortlichen Raiffeisen VR-Präsident dafür zur Verantwortung ziehen, dafür dass er Pierin Vincenz‘s Rotlicht-„Spesen“ im sechsstelligen Bereich(!) bewilligt hat. Ach nein, geht ja nicht, weil alles nicht so klar und eindeutig und überhaupt….

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  2. Markus Tobler
    Markus Tobler sagte:

    Niggli ist laut, provokativ und unterhaltsam, aber sicherlich kein Schwergewicht. Seine Meinung hat in der Rechtsprechung und Wissenschaft kein Gewicht. Seine Uni Fribourg ist drittklassig und vor allem dafür bekannt, dass man dort auch noch Ius abschliessen kann, wenn man selbst in Basel nicht mehr genommen wird. Niggli lebt davon, das zu sagen, was klickträchtig ist. Hauptsache, nicht «Mainstream», egal, bei welchem Thema: Putin, Corona, Vergewaltigungen, Wirtschaftskriminalität, you name it! Kann man machen, manchmal Entertainment, manchmal Menschenverachtung, aber nein, damit ist man kein fachliches Schwergewicht. Kein Wunder, wird in diesem Beitrag auch noch Kunz erwähnt, der ähnlich unterwegs ist.Ich verstehe es übrigens: Fachlich wahrgenommen zu werden, ist sehr anstrengend. In den Medien wird man wahrgenommen, wenn man verfügbar ist und knackige Quotes liefert. Das macht Niggli (und das macht auch Kunz). Und was die tatsächlichen Schwergewichte denken, kann man getrost ignorieren, wenn man erst einmal eine ordentliche Professur hat.

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  3. Mathias Wyss
    Mathias Wyss sagte:

    Was ist eigentlich aus dem Vorwurf der Dokumentenfälschung geworden? Für mich ist dies der einzig relevante Straftatbestand in diesem Prozess.

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