Reise in die Verlorengegangenheit

Aus der Reihe nachdenklicher Sonntag: Es gab mal eine Debattenkultur.

Selten ist eine Auseinandersetzung um eine Abstimmungsfrage dermassen gehässig,  nicht kooperativ und geradezu verbiestert geführt worden wie bei dem Referendum gegen das verschärfte Covid-Gesetz.

Die inhaltliche Argumentation ist vorbei; niemand wird heute noch von seiner Meinung, ob ja oder nein, abweichen. Daher ist es höchste Zeit, sich Sorgen um unsere Debattenkultur zu machen.

Von Platon bis heute zerbrechen sich Philosophen den Kopf darüber, welche Erkenntnismöglichkeiten wir haben. Vom Höhlengleichnis bis zu Systemtheorien gibt es unzählige Versuche, unser Verhältnis zur uns umgebenden Realität zu verstehen. Ist das alles nur in unserem Kopf? Gibt es eine Wirklichkeit, die unabhängig vom Betrachter existiert? Wichtiger noch: wie verhalten sich zwei erkennende Subjekte zueinander?

Am allerwichtigsten: mit welchen Methoden können wir Fortschritt befördern, was dient einem besseren Verständnis, damit einem adäquateren Verhalten, damit einem zunehmenden Wohlergehen für möglichst viele?

Diskursfähigkeit ist das Zauberwort

Nein, alle letzten Fragen der Menschheit werden hier nicht beantwortet. Daran zu scheitern, überlassen wir glaubensstärkeren Mitmenschen. Das stimmt nicht; wir warnen ausdrücklich vor überzeugten Besitzern von Wahrheiten. Nichts gegen klare Ansichten. Ermangeln deren Besitzer aber der wichtigsten Eigenschaft eines Menschen, geht’s direkt in die Hölle des Fanatismus, der Umerziehung, des Zwangs zum Besseren, der Vernichtung des Falschen, Bösen, Schlechten.

Auf schmalen Pfaden zur Erleuchtung durch Erkenntnis.

Die wichtigste Eigenschaft ist Diskursfähigkeit. In den Salons des 17. Jahrhunderts entstand das, was wir heute Aufklärung nennen, das goldene Zeitalter des Ausgangs aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit.

Mit welcher Methode wurde damals eigentlich die Erkenntnis befördert? Ganz einfach, mit der Methode des respektvollen Disputs. Alles ist dabei erlaubt. Falsches, Schockierendes, den Sitten und Normen nicht Entsprechendes. Die Ansichten eines de Sade genauso wie die Überlegungen eines Montesquieu oder Rousseau. Eines Marat, Robespierre, Danton, de la Mettrie oder eines Guillotin. Vorausgesetzt, man hielt sich an selbstverständliche Regeln von Anstand und Höflichkeit.

Dazu gehörten auch nur wenige Dinge.

Man lässt sich gegenseitig ausreden. Man zeigt zunächst, dass man die Argumentation des anderen verstanden hat, bevor man allenfalls zu einer Erwiderung und Kritik ansetzt.

Kommunikatives Handeln statt strategisches

Einen modernen Meilenstein in dieser Debatte setzte die «Theorie des kommunikativen Handelns» von Jürgen Habermas. Ein zweibändiger Wälzer, in der üblichen, nicht gerade leichtverständlichen Sprache eines Philosophen und Soziologen abgefasst.

Dabei ist seine Grunderkenntnis so einfach wie überzeugend. Gesellschaftlicher Fortschritt ist garantiert, wenn ein herrschaftsfreier Diskurs möglich ist. Der kann dann stattfinden, wenn ein paar wenige Bedingungen erfüllt sind:

  • Die Kommunikationspartner sind gleichberechtigt
  • Sie haben die gleichen Möglichkeiten sich zu äussern
  • Die Kommunikation ist symmetrisch
  • Die Entscheidungsfindung erfolgt durch den «Zwang des besseren Argumentes»

So wird der Pfad der Erkenntnis zur Strasse.

Man sieht sofort: das ist die Beschreibung eines Idealzustands, der natürlich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht existiert. Statt sich aber in komplexen Debatten über die Hindernisse, die Machtverhältnisse, die Rolle der Massenmedien, die Herrschaftsstrukturen oder gar in Genderwahnsinn zu verlaufen, kann man diesen Idealzustand einfach als Massstab verwenden.

Herrschaftsfreier Diskurs als Messfühler

Als Messfühler, wie fortschrittsfähig eine Gesellschaft ist. Wobei Fortschritt ganz allgemein als zunehmendes Wohlergehen möglichst vieler Teilhaber der Gesellschaft definiert sei.

Die Schweiz gehört zu den wenigen Ländern auf der Welt, wo Diskurse relativ frei stattfinden können.

Auch hier ist die Meinungsfreiheit weder grenzenlos, noch kostenlos. Aber eigentlich wären die Voraussetzungen für Diskurse zwecks Erkenntnisgewinn vorhanden.

Die jeweils in einem wahren Crescendo endenden Debatten über die richtigen Methoden zur Bekämpfung der Pandemie belegen aber leider, dass die Entfaltung der Diskursfähigkeit einer Gesellschaft nicht unumkehrbar ist.

Damit ist nicht das Vorhandensein von Polemik, Vereinfachung, Propaganda oder gar Demagogie gemeint. Zur Durchsetzung der als richtig angesehenen Meinung ist einiges erlaubt. Schon in den ersten Debattierklubs in Griechenland oder im französischen Parlament nach der Revolution fanden wahre Redeschlachten statt, wo nicht immer und unbedingt der Zwang des besseren Arguments den Sieg davontrug.

Aber dort ging es auch nur um die Entscheidungsfindung unter ausgewählten Privilegierten. In einer direkten Demokratie wie die der Schweiz geht es um die Meinungsbildung der Staats- und Stimmbürger.

Was ist verlorengegangen in der Debattenkultur der Schweiz?

Dabei ist zu konstatieren, dass das sogar bei hochemotionalen Themen wie der Initiative für die Abschaffung der Schweizer Armee entschieden besser gelang als bei der aktuellen Debatte über das verschärfte Corona-Gesetz. Die Abstimmung fand am 26. November 1989 statt, vor fast genau 32 Jahren. Also eine gesellschaftliche Generation zurück.

Wenn das schöne Bild von Friedrich Schiller stimmen würde, stünde ja die nächste Generation immer auf den Schultern der vorangehenden, sich erhebend zu mehr Aufklärung, Fortschritt, Erkenntnis.

Das ist hier offensichtlich nicht der Fall. Zur Beschreibung ist ein ganzer Begriffszoo entwickelt worden. Gesinnungsblase, Filterblase, Fake News, alternative Wahrheiten, Verschwörungstheoretiker, Hetzer, Rechtspopulisten. Das Vokabular für die andere Seite des politischen Spektrums existiert schon länger. Linke Spinner, revolutionäre Umstürzler, Systemveränderer, Enteigner, Befürworter der Abschaffung des Privateigentums.

Einzig weggefallen ist seit 1989 alles, was man vielleicht mit «Moskau einfach» fassen kann. Also die Schablone, dass jeder Kritiker an bestehenden Verhältnissen ein mehr oder minder verkappter Anhänger des sozialistischen Lagers sei.

Wie ist aber zu erklären, dass wohl Konsens herrschen muss, dass die Debattenkultur, die Diskursfähigkeit ganz allgemein sehr massiv nachgelassen hat? Abstimmungsdebatten waren noch nie ein Streichelzoo. Aber es ist unbestreitbar, dass das Bedürfnis nach Erkenntnisgewinn durch Diskurs zu Spurenelementen geschrumpft ist. Die Akzeptanz, dass einer eine andere – dadurch natürlich falsche Meinung  – als man selbst haben darf, beherrscht nicht mehr die Debatte.

So wird’s wieder grau und trist und schmal.

Der Zwang des besseren Arguments, also die Verwendung von Zweckrationalität, Logik, Analyse, qualifizierter Durchdringung eines Themas, das alles hat an Bedeutung verloren. Schlafschafe gegen Schwurbler, an solchen polemische Zuspitzungen ist nichts auszusetzen. Wenn sie unterfüttert würden mit Argumentationsketten, an denen man sich intellektuell abarbeiten könnte. Im Streben danach, dass man schlauer und einsichtiger werden will.

Angstvoller Rückfall in ängstliche Zeiten

Es handelt sich um einen Einbruch tiefer Irrationalität in Diskurse, die deswegen kaum mehr geführt werden können. Irrationalität entsteht durch Emotionalität, in erster Linie durch Angst.

Offensichtlich hat diese anhaltende Pandemie, die genauso vorübergehen wird wie alle vorher, unsere moderne Gesellschaft auf dem falschen Fuss erwischt. Obwohl wir Ursachen und Möglichkeiten zur Bekämpfung unvergleichlich viel besser kennen, verhalten sich grosse Teile der Gesellschaft wie im finsteren Mittelalter mit seinen Seuchenzügen.

Es wird nach Schuld und Sühne gesucht, nach Schuldigen und Sündern.

Der Andersdenkende ist nicht länger Bereicherung, sondern Bedrohung. Er muss nicht mehr überzeugt, sondern überwunden werden.

Seine Meinung ist nicht nur falsch, sondern gefährlich. Es ist zudem nicht einfach eine Meinung, sondern eine Haltung, eine Gesinnung.

Während man falsche Meinungen vielleicht noch argumentativ überwinden kann, müssen falsche Haltungen und Gesinnungen bekämpft, ausgemerzt werden. Sie stören nicht nur, sie sind eine tödliche Bedrohung. Deshalb ist jedes Gegenmittel erlaubt. Im Ernstfall die physische Vernichtung des Meinungsträgers.

Der Fortschritt ist leider nicht unumkehrbar.

Jean Gabin in «La bête humaine» nach Zola.

Ein Rückfall in Barbarei ist jederzeit möglich. Der Firnis des respektvollen Diskurses als einzig anerkannte Methode zur Entscheidungsfindung ist sehr, sehr dünn. Er ist abgekratzt. Darunter zum Vorschein kommt das lauernde, irrationale Tier im Menschen. Das nur gebändigt, nicht ausgelöscht wurde.

11 Kommentare
  1. Victor Brunner
    Victor Brunner sagte:

    de Sade, Montesquieu, Rousseau, Marat, Robespierre, Danton, de la Mettrie, Guillotin, Habermas, Platon, der Stützstrumpf von Baba Bleisch. Dachte zuerst ich lese eine Kolumne von Loser oder Bleisch! Die suchen immer Argumentationsunterstützung bei verstorbenen Geistern.

    Die Debattenkultur ist am Boden weil eine laute Minderheit in der Bevölkerung mischt. Nicht das Virus ist der Feind oder das Problem, sondern der «diktatorische» Staat und den versuchten «Ermächtigungsgesetzen». Diese Abstimmung haben sie verloren. Schuld SRG, die Mainstreammedien, Fehler im Abstimmungsbüchlein, die Post die Stimmcouvert gescannt und aussortiert hat, es ist nur noch peinlich!

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    • Rolf Karrer
      Rolf Karrer sagte:

      Gut gesagt Victor Brunner mit dem Argumentationsunterstützungs-Syndrom vielen Journalisten.

      Die Verunglimpfung der «Mainstreammedien» darf nicht hinwegtäuschen, dass diese «Experten» im freien Netz überhaupt nicht besser sind. Denke, es wird noch ein böses Erwachen geben mit all diesem vielen Unsinn in den schnellen «social medias».

      Letzte Woche hat ein flash mob in Kalifornien ein Warenhaus ausgeraubt. Innert Sekunden lassen sich 80 Kommilitonen finden, mit gleicher Gesinnung. Ein aufgeheizter flash mob könnte gar das ganze Bundeshaus stürmen………..via Smartphone.

      Die schnellen Medien stellen eine Gefahr dar, die kolossal unterschätzt wird in seiner Brandbeschleunigung. Ob Freiheitstrychler oder Reithalle Bern-Anarchisten, innert wenigen Minuten steht die Demokratie auf dem Prüfstand.

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  2. Simon Ronner
    Simon Ronner sagte:

    Ich habe diese Debatte nicht ganz so gehässig erlebt wie z.B. diejenige zur EWR-Abstimmung (und deren Nachgang), oder solche zur Zuwanderung, oder zur Ausschaffung krimineller Ausländer.

    Linke Mainstreammedien verloren in den letzten 20, 30 Jahren jegliche Zurückhaltung und haben das Diffamieren und Niedermachen Andersdenkender gesellschaftsfähig, wenn nicht gar -pflichtig gemacht. Wer auch zu den cool, sexy, progressiv, intellektuell wirkenden Linksliberalen gehören wollte, der hatte sich anzuschliessen. Im urbanen Raum, in der Kulturbranche, in Medien ohnehin ist diesbezüglich ideologischer Gehorsam unumgänglich.

    Diesen intoleranten, dazu vor Selbstgerechtigkeit besoffenen Menschen fehlt ein Minimum an Demut und Zurückhaltung, ein Bewusstsein für die eigene Unzulänglichkeit. Können sie sich im demokratischen Prozess durch sachliches Argumentieren nicht durchsetzen, oder sind sie denkfaul da überzeugt davon, qua ihrer Haltung per se auf der «richtigen» Seite zu stehen, wird das Konzept der «Entscheidungsfindung durch «Zwang des besseren Argumentes»» ausmanövriert. Eine effektive Methode ist es, Haltung, Motiv und Wesen des Gegners zu diskreditieren.

    Nie erwachsen geworden, fehlt diesen Menschen ein Minimum an Demut und Zurückhaltung, das Bewusstsein für die eigene Unzulänglichkeit. Für andere Charaktere wiederum ist die Nestwärme, die Sicherheit gebende Zugehörigkeit zum Rudel wichtiger, als das Einstehen eigentlicher Überzeugungen und Prinzipien. Denn die Gefahr drohender Konsequenzen ist schlicht zu gross. Schade, sind wir so tief gesunken.

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    • Victor Brunner
      Victor Brunner sagte:

      Lieber Rohner, da schreiben sie krassen Unsinn. Das Niedermachen von Andersdenkenden ging Anfangs der 90er Jahre von der SVP aus. Auch mithilfe von Ueli Maurer der unter der Fuchtel von Christoph Blocher stand und heute den «Elder Statesman» markiert. Alles was nicht SVP zugehörig war verpönt, Linke, Freisinnige, Weichsinnige, Frauen, Leute aus dem Balkan, Asylanten. Die SVP hat die Saat für politischen Haas, Verhöhnung in der Schweiz gelegt. Was heute von den Linken kommt ist die Retourkutsche. Genauso unsäglich und primitiv. Wenn sie ein Beispiel für SVP Primitiv wollen schauen sie sich die Arena vom letzten Freitag an und den Auftritt von Wobmann SVP. Dümmer, primitiver, faktenloser gehts nicht. Andersdenkende als Taliban beschimpfen. Haben sie in den letzten 30 Jahren geschlafen oder nichts verstanden?

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      • Simon Ronner
        Simon Ronner sagte:

        «Die SVP hat die Saat für politischen Haas, Verhöhnung in der Schweiz gelegt.»

        Ja gälled Sie, so steht es seit jeher im Tagi. Sie übernehmen sogar noch 1:1 den Wortlaut.

        Mit Ihrem irrationalen Hass und Ihren emotional getriebenen Beleidigungen gegen Roger Köppel und Markus Somm sind sie der Letzte, der zu diesem Thema ernst genommen werden könnte. Vielmehr beweisen Sie, wie wirkungsvoll diese perfide, abstossende Stimmungsmache bei Charakteren wie Ihnen in den letzten 30 Jahren war.

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  3. René Küng
    René Küng sagte:

    Trister Sonntagsausblick am too aid eleven 2021, selbst die Schönheit von Verlorengegangenheit bietet nur melancholischen Trost.
    Frösteln muss uns, wenn selbst ein Habermas sich nach all seinen Theorien (danke Herr Zeyer, hab auch die Bücher nicht gelesen) in der Jetztzeit auf die Schultern jener stellt, die uns mit Lüge, Zensur, Staats-Gewalt auf den schlammigen TRAMPELpfad verbannen. ‹grau und trist und schmal› – das wär ja nach längeren Zeiten der protzigen avenues noch erträglich.

    Ich pflege für ein paar wenige Stunden noch die Hoffnung, dass die Schweizer und Schweizerinnen zwar feige (um öffentlich dafür einzustehen), aber nicht total abgetrennt von der ehemaligen Schlauheit und dem latenten Misstrauen der MACHT gegenüber sind.
    Und mit diesem Rest von Instinkt 56% ein NEIN eigelegt haben.
    E schöne Sunntig.

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      • René Küng
        René Küng sagte:

        Liebe Frau Lager
        seit Corona-Zeiten braucht es besonders viel Fassung. Und selbst gesund sein ist – amtlich gesehen – kein Vorteil.
        Aber eine kleine Meldung wie die Ihre, das sind die schönen Seiten unseres Notstandes, herzlichen Dank.
        Solche Blumen am Wegrand, helfen viel beim munter bleiben.
        Auch Ihnen gesund, munter und BLUMEN,
        mit freundlichen Grüssen RK

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  4. Robert Müller
    Robert Müller sagte:

    Im von Ihnen geschilderten „Begriffszoo“ haben Sie noch das „Arschloch“ vergessen, welches das Niveau der heutigen Debatten(un)kultur aufs trefflichste veranschaulicht.
    Ansonsten ist dem nicht sehr optimistisch stimmenden Text leider gar nichts mehr beizufügen.

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