9/11: ach, schnarch, gähn
20. Jahrestag des gröbsten Terroranschlags der Neuzeit. Gähn, sagt die Medienmeute.
Schlappe knapp 400 Treffer ergibt die Suche der Verwendung des Worts «Terroranschlag» in den letzten sieben Tagen in der Mediendatenbank am 10. September.
«Seen it all, been there, nothing new» sagt man gelangweilt auf Englisch. Ach ja, die Twin Tower, die Flugzeuge, jeder weiss, wo er war, als er diese Bilder das erste Mal sah. Das erste Mal sogar live sah, wie die eilig vor dem ersten brennenden Turm platzierten Reporter zusammenzuckten, als das zweite Flugzeug einschlug.
Dann noch das Pentagon und die Vereitelung eines dritten Anschlags durch todesmutige und heldenhafte Passagiere in der dritten entführten Maschine. All das ist bis zum Überdruss bekannt, und man will eigentlich nicht nochmal die quälenden Telefonate von Menschen hören, die oberhalb der Einschlagstellen wussten, dass sie sterben werden.
Man will auch nicht mehr das Bild des «falling man» sehen, ein Zufallstreffer eines Fotografen, eigentlich für Modeaufnahmen bestellt, der einen Menschen fotografierte, der mit Würde und Haltung kopfvoran am Gebäude entlang in den Tod flog.
Die Welterklärer fehlen schon
Man ist vor allem müde, die sich immer bildenden Verschwörungstheorien zu hören, über die Beteiligung von Regierungsstellen, der CIA, der jüdischen Weltverschwörung. Aber, muss man zugeben, da fehlt ein Peter Scholl-Latour schon. Für Nachgeborene: das war ein weitgereister Welterklärer. Man musste nicht einer Meinung mit ihm sein, aber Ahnung hatte er schon, Mut auch, dazu sprach er druckreif.
Peter Scholl-Latour (links) und Arnold Hottinger: zwei Koryphäen.
So wie Arnold Hottinger über die arabische Welt, bis ins hohe Alter hinein. Aber heutzutage? Kurzatmiges Japsen beherrscht die Debatte. Die Taliban sind doch nicht so schlimm wie 1996. Sie sind so schlimm. Im «Tal der Helden» leisten mutige Afghanen bewaffneten Widerstand bis zum Äussersten. Der Widerstand ist kläglich zusammengebrochen. Es gibt keine Freiheitsrechte mehr. Es finden Demonstrationen statt, die Taliban schauen zu.
Ein kleiner Lichtblick im Tunnel der Dunkelheit
Es herrscht Unschärfe in der Nahbetrachtung, es herrscht Unkenntnis und Schwachstrom-Analytik in der geopolitischen Einordnung. Immerhin, einer, von dem man das nicht unbedingt erwartet hätte, argumentiert differenziert:
«Ihr Gegenschlag führte die USA nach Afghanistan und in den Irak, aber auch in die Folterkeller der CIA auf dem Balkan und in Bagram. Ist der Sieg der Taliban nur der Schlusspunkt einer von Anfang an verfehlten Politik? Lässt sich, nach Abu Ghraib und Guantánamo, der «Global War on Terror» überhaupt moralisch rechtfertigen?
Die Fragen kann nur ohne Zögern beantworten, wer die Amerikaner ohnehin für Imperialisten hält oder alle Muslime für blutrünstige Fundamentalisten. Alle anderen finden sich in einem Labyrinth wieder. Macht und Menschenrechte, das Recht auf Selbstverteidigung und das Recht des Stärkeren bilden ein schwer entwirrbares Knäuel.»
In seinem «anderen Blick» arbeitet sich Eric Gujer in der NZZ erstaunlich differenziert und nachdenklich an der Frage ab, ob nach 20 Jahren Kampf gegen fundamentalistischen Terror die Zwischenbilanz positiv oder negativ ausfällt. Er kommt zur Schlussfolgerung: «Entscheidend aber ist etwas anderes: dass der Westen einen Weg gefunden hat, den Abwehrkampf im Innern wie im Äussern mit vernünftigem Aufwand zu führen, ohne die zivilisatorischen Grundprinzipien aufzugeben. Der Westen hat seinen Limes errichtet. In diesem Sinn hat er gewonnen.»
Auch darüber kann man geteilter Meinung sein. Aber in der Wüste der Holzschnittanalysen überforderter journalistischer Allzweckwaffen ist das eine Oase der geistigen Labsal. Tamedia hingegen, nichts gegen die Erinnerung an damalige Helden, bemüht das Porträt eines Polizisten und eines Feuerwehrmanns, die damals im Einsatz waren.
«Das lässt sich nicht in Worte fassen», lautet das Titelzitat. Wieso lässt man es dann nicht? Die «Schweizer Illustrierte» interviewt den unter Aufmerksamkeitsdefizit leidenden Alt-Bundesrat Moritz Leuenberger.
Der Pluralismus in den Schweizer Tageszeitungen …
Wie flache Kieselsteine fallen Dutzenden von Kommentatoren die Worte «Krieg gegen den Terror», «gescheitert», «bittere Ironie der Machtergreifung der Taliban» aus dem Mund, der vermurkste «US-Prozess gegen die Drahtzieher und Urheber von 9/11». Dazu die «Zeitzeugen», gar die «Kinder von 9/11», die Würdigungen, Warnungen, Mahnungen. Ziemlich schräg: «Diese Kunstwerke würde es ohne 9/11 nicht geben». «Zeit für den Schlussstrich» unter die Bewältigung von 9/11, Pakistan als «der eigentliche Feind», der Bataclan-Prozess in Frankreich.
Wo sind die Zusammenhänge und Einordnungen?
Es fehlt eigentlich nur, dass jemand Zusammenhänge zwischen der Pandemie und dem islamistischen Terror, den Taliban, dem Islamischen Staat oder Al Kaida herstellt. Falls es die reduzierte Mannschaftsstärke noch hergibt, sind in den überlebenden Zentralredaktionen kleine Piketts im Einsatz, falls es am 11. September einen neuerlichen terroristischen Grossangriff geben sollte. Eher unwahrscheinlich, denn seither haben die glücklicherweise auch hier versagenden religiösen Wahnsinnigen nur mehr kleinere Anschläge hingekriegt. Deshalb würde das Schweizer Farbfernsehen sicherlich nicht das geordnete Tagesprogramm unterbrechen.
Mit Lastwagen und Messern, nicht mehr mit Flugzeugen, um es auf den Punkt zu bringen.
Schreibtischstrategen vor dem Sandkasten
So ordnen mehr oder minder überforderte Schreibtischstrategen diese 20 Jahre ein. Nur noch wenigen gelingt es, die Auswirkungen des «Kriegs gegen den Terror» auf die gesamte arabische oder islamische Welt einzuordnen. Kaum einem gelingt es, ein Wort über die Zukunft der Atommacht Pakistan zu sagen, viel bedeutender in Afghanistan als die Taliban-Führer. Kaum einem gelingt es, die Rolle Chinas, die wirklich wichtige Macht hier, zu analysieren.
Der Chor der Afghanistan-Kenner, eigentlich alle mit einem ganz grossen Fernrohr bewaffnet, die Wiederholung der Keywords, das Abholen von Klicks, der menschliche Faktor als Ersatz für Hirnschmalz in der Analyse, der erkennbare Unwillen, sich neben Corona auch noch mit einem zweiten Thema auseinandersetzen zu müssen: ein Trauerspiel der Medien, wieder mal. Der deutschsprachigen, wohlgemerkt.
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