Die Sucht der schnellen Meinung

Wer Journalist und schlau ist, twittert nicht. Das gilt auch für die meisten Personen in der Öffentlichkeit.

Ein schneller Finger mag für Revolverhelden nützlich sein. In den sogenannten sozialen Plattformen fingert man sich schnell ins Verderben.

Eine zu spontane Reaktion, ein kleiner Wutausbruch, ja nur schon ein Like oder eine Sympathiebekundung am falschen Ort – schon steckt man bis über beide Ohren in einem Shitstorm.

Oder wird zumindest angerempelt, vorgeführt, muss Stunden darauf verwenden, etwas wieder einzufangen, was man ohne Not und aus eigener Unfähigkeit rausgepustet hat. Debatte, Erkenntnisgewinn, Austausch von Argumenten und Positionen: wer behauptet, dass das auf diesen Plattformen stattfindet, glaubt wohl auch, dass eine Talkshow der Ort für tiefes Nachdenken und rasant aufklärerische Gespräche sei.

Wenn’s das nicht ist, wenn der Erkenntnisgewinn normalerweise null ist, wenn es schlichtweg reine Zeitverschwendung ist, wieso dann dieses lebhafte, von vielen geteilte Interesse, sich beispielsweise auf Twitter selbst zum Deppen zu machen?

Motivforschung für die Benutzung dieser Bedürfnisanstalten

Edle Motive kann es dafür nicht geben, also muss nach unedlen gesucht werden. Zunächst ist eine Echokammer wie Twitter eine Art Ersatz-Uterus. Also das wohlige Baden in gleichgesinnter Umgebung, die faulige Wärme der Gesinnungsblase, schlichtweg das Gefühl: ich bin nicht alleine.

Ein ungut-gutes Gefühl entsteht auch, wenn sich gelegentlich Eindringlinge in die Debatte verirren, gar ein freches Widerwort wagen. Dann wirkt stimmungssteigernd die gemeinsame Hatz, das erhebende Gefühl, mit Gefuchtel, Geschrei, dem Verschiessen der ewig gleichen Worthülsen einen Sieg über das Falsche und Böse errungen zu haben. Leider sind diese Siege immer nur von ganz kurzer Dauer, dann beginnt das mühsame Werk der Rechthaberei aufs Neue.

Aber all das verblasst vor dem wohl wichtigsten Grund, sich auf sozialen Medien zu tummeln und sich diesen Zeitvernichtungsmaschinen auszuliefern. Im Hinterkopf vielleicht manchmal der unangenehme Gedanke, dass man damit so nebenbei die eh schon prallvollen Geldbörsen der Besitzer dieser Plattformen füllt, indem man mit Daten, Bewegungsprofilen und allem, was für Big Data nötig ist, ein vermeintliches Gratisangebot bezahlt.

Der wichtigste Grund, mit Abstand aber ist: man suhlt sich in einem Gefühl der Bedeutung. Echo macht grösser, das Feuer der Kleingruppe wirft gigantische Schatten an die Klowände der asozialen Medien. Auch der kleinste Flachdenker pumpt sich am Gedanken auf, dass potenziell Millionen Menschen seine trübseligen Versuche, einen Satz an den anderen zu reihen, zur Kenntnis nehmen könnten.

Befriedigt künstlich alle Sinne

Einige scheitern aber immer noch an der Hürde, dass Tweets seit einiger Zeit nicht mehr 140, sondern gar 280 Zeichen umfassen können. 140 Zeichen reichen aus, um einen knappen Gedanken auszudrücken. Bei 280 müssten es schon zwei sein, und das auf einen Schlag zu haben, das ist dann nicht so einfach. Glücklicherweise hilft die Übernahme von Äusserungen sprachlich etwas gewandteren Mittippern. Aber früher oder später, wenn sich die Meute wieder verlaufen hat und nur noch die Langsamen und armen Mitläufer auf dem Platz sind, die nicht kapiert haben, dass die grosse Schlacht geschlagen ist, man sich längst anderen Themen und Aufregern zugewandt hat, dann folgt nach dem Glücksgefühl der Bedeutung der Absturz in die Bedeutungslosigkeit.

Das ist so, wie wenn man irgend etwas mampft, das mit Geschmacksverstärkern, Aromaträgerstoffen, Zucker oder Fetten vollgestopft ist. Befriedigt künstlich alle Sinne, aber sättigt nicht richtig und hinterlässt zudem ein schales Gefühl.

Abhängigkeit, Sucht, schwierige Entwöhnung

Diese Junkies, die an der Nadel von Twitter, Facebook, Telegram, Instagram oder was auch immer hängen, merken lange nicht, dass sie ganz bewusst getriggert und angefixt werden – um dann als Süchtige immer höhere Dosen für die gleiche Triebbefriedung zu brauchen.

Der einzig erkennbare Zweck dieser Plattformen besteht darin, die Besitzer noch reicher zu machen. Sicher, sie können auch zu organisatorischen, oppositionellen Vernetzungen dienen. Aber man soll ja nicht so tun, als wäre der arabische Frühling ewigwährend, als hätten die Machthaber nicht längst gelernt, wie man diesem subversiven Gebrauch den Stecker rauszieht.

Und in der Schweiz zum Beispiel kann ja niemand behaupten, dass so Gegenöffentlichkeit hergestellt werden müsse oder könne. Solche Wirkungen sind hierzulande nicht bekannt. Aber jede Menge schädliche Nebenwirkungen, wie sich mit einem Like, einem Tweet, einer unbedachten Sympathieerklärung in Teufels Küche zu manövrieren. Oder gar in den Bereich des Strafbaren.

Also müsste man doch in ungehemmtem Plagieren eines Werbespruchs sagen: twitterst du noch, oder lebst du wieder?

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