«Vertrauen. Darum geht es»

Der Autor und Reporter Matt Taibbi* gehört in den USA zu den bekanntesten Kritikern der etablierten Medien. Hier folgt Teil 2 einer dreiteiligen Interview-Serie.

Von Marc Neumann**, Washington DC

Wie steht es mit der Wahrheit im Journalismus? 

Die Wahrheit begreift womöglich nur ein grossartiger Künstler, wenn er etwas Schönes und Zeitloses schafft. Aber die journalistische Wahrheit entwickelt sich ständig weiter. Es ist beinahe unmöglich, sie genau zu fassen.

Wahrheit ist eine Eigenschaft von Sätzen oder Propositionen – ist das nicht das Kerngeschäft von Journalisten?

Das ist Richtigkeit, Fehlerfreiheit, aber die Wahrheit ist etwas Grösseres.

Es ist korrekt zu sagen, dass Donald Trump in den letzten Wahlen Stimmengewinne in allen demografischen Gruppen ausser bei weissen Männern verzeichnete. Rein technisch stimmt das, aber heisst das, dass Trump der Held der Minoritäten ist? Wohl kaum, das wäre wohl eine gewagte, subjektive Ansicht (die ich nicht teile).

Wenn es Objektivität und Wahrheit im Journalismus nicht gebe, dann müssten alle subjektiven Standpunkte gleich viel wert und entsprechend vertreten sein, sagt eine neue «woke» Generation von Autoren. Wem das nicht passt, der wird gecancelt, also diffamiert und in den sozialen Netzwerken gelöscht. Teilen Sie diese Ansicht?

Nein. In «The Boys on the Bus» beschrieb Timothy Crouse die Berichterstattung von Reportern während des Präsidentschaftswahlkampfes 1972. In einer Anekdote erzählt er, wie die klassischen Reporter ihren Gattinnen jeweils beim Dinner verrieten, wie es tagsüber im Wahlkampfbus wirklich gewesen war. Der Einzige, der das nicht zu tun brauchte, war Hunter Thompson – weil er in seinen Artikeln seine Beobachtungen bereits genau berichtet hatte. Seine Frau musste nur die Artikel lesen. Für mich zeigt das schön, wie man journalistische Konventionen über Bord wirft, einschliesslich echter Gefühle von Komik bis Zynismus, der Infragestellung eigener Vorurteile und Fehler, und einfach darüber berichtet, was man sieht. Schreibt man das, fühlen die Leser, wer ehrlich schreibt und fühlt, und sie entwickeln Vertrauen. Darum geht es in unserem Metier. Die neuere journalistische Schule, die Sie ansprechen und die sich gerade durchsetzt, schreibt zwar ebenfalls in der ersten Person und subjektiv – aber in anderer Absicht. Diese «modernen» Journalisten verfolgen ein politisches Ziel.

Sie sind käuflich, indem sie aus einer spezifischen Warte über ein Thema berichten, um aufzurütteln.

In meiner Arbeit dagegen versuche ich niemanden politisch zu überzeugen, sondern einfach, unterhaltsam und ehrlich zu sein.

Das ist auch eine Art subjektiver Aktivismus.

Gut, das ist jetzt knifflig. Der Unterschied ist wohl, dass ich versuche, neuen Ideen gegenüber so aufgeschlossen wie möglich zu sein. Viele junge Journalisten der «neuen Schule» im Journalismus haben dagegen kein Interesse mehr, den ganzen Tag am Telefon mit anderen Menschen zu reden. Lieber suchen sie Links im Internet, um ihre oft guten Argumente zu stützen. Zudem ist die neue Schule darauf erpicht, dass die Leute nach der Lektüre auch politisch korrekt handeln.

Ist diese neue Schule eine Jugenderscheinung einer rebellischeren, leidenschaftlicheren Generation? 

Es ist definitiv altersabhängig. Im amerikanischen Journalismus gibt es derzeit viele interne Krisen, Kämpfe zwischen Redaktoren und Reportern und zwischen Generationen. Die Revolte in der «New York Times» vom letzten Sommer, die nach der Publikation eines Gastbeitrags von Senator Tom Cotton entbrannte, ist ein Beispiel dafür. Stellvertretend für die Jüngeren hat etwa Wesley Lowery von der «Washington Post» die journalistische «Sicht aus dem Nirgends» stark kritisiert.

Er stösst sich am alten Standard von Objektivität, dem ausgewogenen, politisch neutralen Gesichtspunkt, und fordert stattdessen «moralische Klarheit».

Für die älteren Journalisten dagegen hat Objektivität auch eine Schutzfunktion. Ältere Reporter haben die Tendenz, ihre politischen Gefühle zu verbergen. Sie wollen keine Präsenz auf Social Media, weil sie ihrem Publikum nicht ihren politischen Standpunkt oder private Gedanken offenlegen wollen. Die neue Generation will keinen Schein von Objektivität vortäuschen, sondern einfach sein, wer sie ist und was sie denkt. Wer sich indes derart auf einen Standpunkt einschiesst, verliert die Fähigkeit, adäquat über wirklich überraschende Ereignisse zu berichten.

Zum Beispiel?

Nehmen Sie die «Russiagate»-Geschichte.

Sie meinen die lange gehypte, aber nie richtig bewiesene direkte Einmischung der Russen in den US-Wahlkampf zugunsten Trumps.

Das war eine riesige Geschichte in Amerika! Ich war von Anfang an kritisch. Nicht weil ich Donald Trump mag, sondern ich sah einfach keinen Beleg. Ich war besorgt, dass die Reporter ihren eigenen Ski davonliefen. Letztlich verrannten sie sich, weil das eben passiert, wenn man es als gegeben ansieht, dass eine Story wahr ist – nur weil alle sagen, dass sie wahr sei.

Das passiert, wenn eine komplexe Standpunktdiversität die moralische Klarheit nicht mehr trübt? 

Genau.

Normalerweise ist die Person, die die Komplexität der Standpunkte wahrt und moralische Urteile zulässt, der Pförtner beziehungsweise der Redaktor. Warum ist das heute nicht mehr möglich?

Viele Redaktoren wurden in letzter Zeit entlassen, weil sie sich mit ihren Newsrooms überworfen hatten. Die «New York Times» hat einen ihrer besten Reporter, Donald McNeil, entlassen, wegen eines zwei Jahre alten, relativ milden Zwischenfalls. Der Chefredaktor Dean Baquet fand die Sache zuerst auch harmlos. Aber dann bekam die Belegschaft Wind davon und ging zu Baquet – worauf dieser McNeil mit den Worten entliess, er habe den Newsroom verloren. Die Newsrooms geben als Kollektiv derzeit den Ton an.

Ist das ein Problem? 

Wir hatten solche Aufstände in beinah jedem Mainstream-Medium. Das führt dazu, dass die meisten Reporter sich ducken und mitschwimmen. Schliesslich wollen sie ihren Job nicht verlieren. Also schreiben sie einfach, was alle anderen schreiben – dann gibts keine Probleme.

Wer ist momentan Ihr Redaktor?

Ich habe keinen.

Mit dieser Frage beginnt morgen der dritte und letzte Teil des Interviews. Hier geht’s zu Teil 1.

*Mat Taibbi

Der US-Journalist und Autor Matt Taibbi (Jahrgang 1970) arbeitete zunächst als freier Korrespondent in postsowjetischen Staaten. Nach rund einem Jahrzehnt als Reporter, Redaktor und Magazin-Mitgründer heuerte er 2003 als Kolumnist bei der «New York Press» an. Ein Jahr darauf stiess er als Politikreporter zum «Rolling Stone»-Magazin, wo er als provokativer und investigativer Journalist bekannt wurde. Er hat mehrere Bücher verfasst, unter anderem zur Finanz- und Immobilienkrise oder zum gewaltsamen Tod von Eric Garner. 2019 lancierte er seinen eigenen Podcast «Useful Idiots»; seit letztem Jahr ist er selbständiger Autor auf der Plattform Substack.

 

  • **Dieses Interview erschien zuerst im Feuilleton der NZZ vom 19. April 2021 hinter Bezahlschranke. Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der NZZ haben wir es übernommen.
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