Tschanuns Auferstehung

Es gibt wenige Bluttaten, die so in Erinnerung bleiben wie der Amoklauf von Günther Tschanun.

Es geschah am helllichten Tag und am 16. April 1986. Als wären wir in den USA, lief Günther Tschanun durch das Zürcher Amtshaus IV und erschoss gezielt vier seiner Mitarbeiter. Einen fünften verletzte er schwer.

Nach kurzer Flucht wurde er verhaftet und zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Wegen guter Führung kam er im Jahr 2000 frei. Spätestens hier verlor sich seine Spur, bis die Journalistin Michèle Binswanger sich Einsicht in die Fallakten erzwang. In einer grossen Story zeichnete sie das Leben, die Bluttat, den Gefängnisaufenthalt und schliesslich das Leben unter Pseudonym im Tessin nach. Im Februar 2015 beendete ein Velounfall Tschanuns Leben. 

Natürlich beschäftigt alle bis heute, wie es zu einer solchen Bluttat kommen konnte. Die in der Schweiz eher singulär dasteht. Vergleichbar: Im Juli 2004 verletzte ein Kadermitglied der ZKB in der Filiale Enge durch Schüsse zwei Vorgesetzte so schwer, dass sie anschliessend im Spital verstarben, Dann richtete er sich selbst.

Es war ebenfalls – wie im Fall Tschanun – mehr eine Abrechnung als eine Amoktat. Denn in einer Sitzung, in der auch andere anwesend waren, zückte der Finanzberater plötzlich eine Pistole und schoss zwei Vorgesetzten in den Kopf. Daraufhin flüchtete er in sein Büro einen Stock höher und erschoss sich selbst.

2018 macht der Amoklauf eines offensichtlich geistig Verwirrten Schlagzeilen, der zuerst einen ehemaligen Freund mit einem Messer grausam ermordet und danach in einer Moschee drei dort betende Menschen schwer verletzt hatte. Schliesslich richtet auch er sich selbst.

Der fundamentalistische Terror übertrifft alles Vorherige

Der Amoklauf im Zuger Parlament, bei dem 14 Menschen erschossen werden und 10 weitere verletzt: Das war der grösste Blutzoll durch einen Einzeltäter bis heute. Auch hier richtet sich der Mörder anschliessend selbst. Glücklicherweise ist die Schweiz vom Ausmass und der hohen Frequenz solcher Amokläufe, wie sie in den USA üblich ist, bislang verschont geblieben.

Durch den islamistischen Terrorismus sind solche Blutbäder leider in Europa keine Seltenheit mehr. Aber Tschanun war nicht geistesgestört, kein fanatischer Terrorist. Er war offensichtlich von seiner Tätigkeit überfordert, damals kannte man den Begriff Burn-out noch nicht. Ebenso wenig die Symptome, die auf ein mögliches Ausrasten hinweisen könnten.

Damit ist Binswanger ein Primeur gelungen, rechtzeitig zum Jahrestag der Bluttat, der im Journalismus weiterhin eine grosse Bedeutung geniesst. Besonders bitter ist das für die Angehörigen der Todesopfer, die dadurch diese Schreckenszeit nochmal durchleben.

Aber richtig bitter ist es auch für den «Blick». Sein unermüdlicher Gerichtsreporter Viktor Dammann war schon damals dabei und darf auf «Blick tv» seine Artikel über den Prozess in die Kamera halten. «17 Jahre! Aber Tschanun blieb eiskalt», lautete einer seiner Titel. Das waren noch richtig schöne Boulevard-Zeiten. Und nun das. Man konzentrierte sich auf Pipifax wie ein neues, verunglücktes Logo, währenddessen zog Tamedia am «Blick» vorbei, und zwar vom Gröberen.

Der dienstälteste Profi und Gerichtsreporter Viktor Dammann.

Das konnte «Blick», mit oder ohne Regenrohr im Logo, nicht auf sich sitzen lassen. Also ballerte er gleich einen Strauss von Artikeln raus. «So gut lebte Tschanun», «so erhielt der Vierfachmörder eine neue Identität», «so starb der Vierfachmörder», dann ging «Blick» das «So» aus: «Hier ruht Vierfachmörder Günther Tschanun».

So lange Schlagzeilen wären damals undenkbar gewesen, im Bereich der grossen Buchstaben. Aber das alles nennt man im gepflegten Boulevard-Journalismus «Rehash». Also Bekanntes neu gewürzt, leicht ergänzt, gut gemixt – und nochmal serviert. Aber wo bleibt das Neue, wo bleibt die Story, zu der man mal wieder «Exklusiv» schreiben kann, sich auf die Schulter klopfen?

Endlich ein Durchbruch; Donghi kann sagen: ich bin dabei

Da kann es heute beim «Blick» nur einen geben: Ralph Donghi. Eine der letzten richtigen Boulevardgurgeln, hier im Duett mit Daniel Riedel. Der machte sich auf die Suche, schnüffelte und schüttelte und kam endlich mit der Story nach Hause. Er konnte mit dem Sohn der damaligen Freundin von Tschanun sprechen.

Donghi kann sein Glück kaum fassen. «Geliebte verriet Vierfachmörder bei der Polizei», «sie waren schon vor der Tat ein Paar», «Sohn von Clara F. packt aus». Allgemeines Aufatmen beim «Blick» . Auch beim Oberchef Christian Dorer, der gerade von seinem Reisli mit Aussenminsiter Cassis zurück ist. Nach seinen Schulaufsätzen darüber – furchtbar heiss hier – wunderte sich Dorer sicher über die Schweizer Temperaturen.

Aber nach dieser Story wurde ihm wieder warm ums Herz. Ganze 11 (!) Storys ballerte das schreibende Regenrohr in den letzten zwei Tagen insgesamt raus. Und was sagt der Dritte im Bunde, im Tageszeitungs-Duopol der Multi-Kopfblätter? Nicht viel sagt CH Media. Nur Oberchefredaktor Patrik Müller setzte zu einer Kollegenschelte in Richtung Christoph Mörgeli an: «Mörder Günther Tschanun war SP-Mitglied – spielt das eine Rolle?» Wie Mörgeli da sagen würde: «Die Frage stellen, heisst sie beantworten.»

Bleibt nur noch die Frage, ob das Thema damit ausgewrungen ist – oder ob irgend eine verborgene Stelle in Tschanuns Leben Anlass zu weiteren Nachzügen gibt. Oder ob die Mitbetroffenen wieder Ruhe haben.

3 Kommentare
  1. Ruthli vom Rütli
    Ruthli vom Rütli sagte:

    Mag ja sein, dass es der «Blick» übertreibt mit all den Geschichten und Interviews in der Endlosschlaufe. Trotzdem sind Missstände publik geworden, die die Öffentlichkeit sonst nie erfahren hätte. Etwa dass ein vierfacher Mörder nach lächerlichen 14 Jahren ohne jegliche Auflagen aus dem Knast spazieren kann und die Behörden erst noch alles tun, um ihm ein sorgenfreies Leben zu verschaffen (neue, wasserfeste Identität, Wohnung, stattliche IV-Rente mit höchst seltsamer Begründung). Statt ihn als Österreicher schnurstracks in seine Heimat abzuschieben. Wie kann es eigentlich sein, dass diese Rente mit 2500 Fr. höher ist als die einfache max. AHV-Altersrente nach 45 Jahren Berufstätigkeit?

    Solche Machenschaften der Behörden gehören unbedingt ans Licht, weil sie dem breiten Publikum die Verkommenheit unserer Justiz und unseres Sozialwesens aufzeigen. Sowas ist weltweit mit Sicherheit einzigartig.

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  2. .Victor Brunner
    .Victor Brunner sagte:

    BLICK einmal mehr als Thementrittbrettfahrer, greift das Thema für Sensationsgeile auch noch auf. In der üblichen Manier: noch ein paar Föteli, noch ein paar entfernt Bekannte, knackig geschrieben und teilweise abgeschrieben. Gossenjournalismus von Ralph Donghi für einfache Gemüter wie gehabt.

    Michele Binswanger, ist der Person Tschanun auf den Grund gegangen, leider manchmal in einem REPUBLIK-, ausschweifend, und Rosamunde Pilcher-Stil, 1. Teil, 1 Abschntt:
    «Die Gegend gehört zu den beliebtesten Ausflugszielen der Region. Türkisfarben und gesprenkelt von weissen Steinen sickert der Fluss hier im Delta dem See entgegen, gesäumt von einem drei Meter hohen Damm. Unten flanieren die Spaziergänger, oben fahren die Velos. An diesem Mittwochabend…», fehlen nur noch Hinweise zum Sonnenuntergang.

    Zuwenig beleuchtet wird die Rolle vom damaligen FDP SR Wagner der die bekannten Probleme im Amt nicht anging, Trotzdem die ersten 2 publizierten Texte sind informativ und gut geschrieben. Zürcher Journalismus Preis verdächtig. Das journalistische Können unterscheidet sie von den Briefmimösli, die mobben können aber journalistisch nicht wirklich taugen. Binswanger unterscheidet sich auch von ihren Kollegen, die nicht viel taugen.

    Beispiel! Heute im TA: «Wie es zur grossen Öffnung kommen konnte». 4 Journalisten, VIER, Philipp Loser (Looser wäre besser), Markus Brotschi, Markus Häfliger, und Beni Gafner haben sich abgemüht einen Artikel zu den Corona Entscheidungen des BR zu basteln. Sie haben es auch geschafft, Resultat: Mittelmass, Annahmen, nice-to-have!

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  3. Marcella Kunz
    Marcella Kunz sagte:

    Der Unterschied zwischen der Schweiz und den USA bei den Amokläufen ist allein durch die Einwohnerzahl zu erklären: CH 8,5 Mio. vs. USA 330 Mio. Das entspricht einem Faktor von fast 40. Auch beim Thema Corona wird dieser immer und bewusst von den Medien unterschlagen.

    Wir sind nicht besser als die.

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