Nach der Schlagzeile kann man abdrehen

Radio SRF will in seinen Nachrichten nicht nur informieren, sondern auch «einordnen». Das tut der Sender so konsequent, dass man gar nicht sehr lange hinhören muss.

Von Stefan Millius*

Die gefühlte 842. Corona-Medienkonferenz des Bundesrats steht an, das Gewerbe bettelt im Vorfeld laut um Lockerungen, und Radio SRF 1 schaut in der Sendung «Heute Morgen» um 8 Uhr nach vorne. Das tut sie in Form eines Interviews mit dem Inlandredaktor von SRF 1, dieser beliebten, leicht nach Inzucht riechenden Form des erweiterten Selbstgesprächs.

Kommt Ihnen das Klötzchen-Logo auch bekannt vor?

Aber muss man da hinhören? Muss man nicht. Jedenfalls nicht lange. Denn «Heute Morgen» liefert bereits in der Themenübersicht, den ersten 30 Sekunden der fast 13 Minuten langen Sendung, die Auflösung darüber, was danach kommen wird. Die Schlagzeile zum Thema lautet:

«Bei den Coronamassnahmen hat der Bundesrat derzeit wenig Spielraum. Wir fragen, ob er ihn trotzdem nutzt an seiner heutigen Sitzung.»

Wie von der Bundeskanzlei formuliert

Es gab eine Zeit, da diente eine Schlagzeile dazu, zu sagen, was passiert ist. «Heute Morgen» macht es anders, und das nicht erst seit heute. Der Moderator sagt uns lieber, was eigentlich nicht passieren darf. Nämlich weitere Lockerungen. Dass der Bundesrat «wenig Spielraum» für eine Öffnung hat, beispielsweise in der Gastronomie, ist keine journalistische Betrachtung, sondern eine Schutzbehauptung, als wäre sie von der Kommunikationsabteilung der Bundeskanzlei formuliert worden. Es ist eine rein subjektive Einschätzung. Sie ist richtig, wenn man die Kriterien, die der Bundesrat für Lockerungsschritte eingeführt hat, ernst nimmt. Aber das tun ja hoffentlich nicht mehr viele Leute.

Denn zu den erwähnten Kriterien gehören unter anderem der aktuelle R-Wert und die 14-Tage-Inzidenz der Neuinfektionen. Beides basiert bekanntlich auf der Teststrategie, bei der auch mal an Schulen und in anderen Institutionen nur die positiven Resultate gezählt werden, weil alles andere zu aufwendig wäre. Nur in die Rechnung nehmen, was einem in die Hände spielt: Kann man machen, hat hinter dem Eisernen Vorhang ja auch lange funktioniert und in den Büchern zu sensationellen Übererfüllungen der Produktion geführt, während die Läden leer waren.

Freie Betten – na und?

Das einzige Kriterium, das wirklich Sinn macht, ist die Belegung der Intensivstationen, und da wissen wir aus den offiziellen Zahlen: Es gab kaum je einen besseren Zeitpunkt, um einen schweren Unfall zu bauen oder anderweitig Intensivpflege zu benötigen. Freie Betten und Personal hat es zuhauf. Aber eben, nützt alles nichts, solange die anderen Kriterien nicht erfüllt sind, und die sind nicht erfüllbar, weil das System es gar nicht zulässt.

Es ist ein bisschen, wie wenn man seinem Kind sagt:

«Du kriegst mehr Taschengeld, wenn du bis heute um 16 Uhr erstens dein Zimmer aufgeräumt und zweitens eine funktionierende Mondrakete gebaut hast. Beides muss erledigt sein, sonst gibt es nichts.»

Diese Ausgangslage belegt für SRF 1 also, dass es der Bundesrat «wenig Spielraum» für Lockerungen hat. Dass das nur so ist, weil die Kriterien von Anfang an absurd waren: In «Heute Morgen» ist das kein Thema. Der vom Staat total unabhängige Staatssender mag nichts hinterfragen, sondern nimmt das bundesrätliche Wort so absolut wie Moses seine Steintafeln.

Lockern oder nicht lockern, das ist die Frage.

Der Schein der gute Tat

Das Ganze ist aber nicht ungeschickt. Denn wenn es ja kaum Spielraum gibt, wirkt jeder Hauch einer Lockerung plötzlich wie eine grosszügige Geste.  Die Terrassen könnten allenfalls geöffnet werden, raunt der Inlandredaktor im Interview, wissen tut er es natürlich nicht, jedenfalls nicht offiziell, aber es könnte sein. Und kommt es dazu, ist die Landesregierung eine wahre Wohltäterin: Eine Teilöffnung, obwohl die Lage so fürchterlich ist, mehr kann man doch wirklich nicht verlangen!

Damit kann man «Heute Morgen» zwar nach journalistischen Massstäben für seine subtil beeinflussende Schlagzeile kritisieren, muss gleichzeitig aber bewundernd feststellen: Orchestriert sind die 13 Minuten perfekt. Zuerst jede Hoffnung nehmen, dann ein bisschen Hoffnung geben mit dem mutigen Bundesrat als Winkelried der leidenden Gastronomie. Die Achse Radiostudio-Bundeshaus funktioniert eben doch.

*Stefan Millius ist Chefredaktor «Die Ostschweiz». René Zeyer publiziert regelmässig dort.

3 Kommentare
  1. Benedikt Kracke
    Benedikt Kracke sagte:

    Hut ab für all jene, die sich die Staatströten jeden Tag erneut reinziehen, damit ich resp. wir das nicht mehr tun müssen. Ich kann einfach ÖR und MSM nicht mehr. Danke, für eure Aufopferung :-).

    Sehr süffisant geschrieben im übrigen.

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  2. Tim Meier
    Tim Meier sagte:

    Tagesschau gestern Abend auf SF. Die Protagonisten hatten echt Mühe, sich mit dem Entscheid des BR abzufinden. Der BR folgte mal nicht der selbstkonstituierten Task-Force mit ihren 5 Richtwerten, die sich einzig und allein auf gesundheitliche Aspekte beziehen. Konkurse, steil ansteigender Schuldenberg, monatelange Wartezeiten bei Psychologen und Psychiatern usw. werden scheinbar als alternativlose «Kollateralschäden» angesehen.
    Mit ihrem «Einordnen» macht SF auf betreutes Denken wie man das von ARD und ZDF bereits kennt. So bleibt auch hier einzig: Power off oder Weiterzappen.

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  3. Robert Holzer
    Robert Holzer sagte:

    «………….als wäre sie von der Kommunikationsabteilung der Bundeskanzlei formuliert worden».
    Unsere SRG ist das (meinetwegen erweiterte) Verlautbarungsorgan unserer Regierung.
    Ich mag übrigens einordnen sehr, offenbar hält man nicht nur mich in den «Nuusstuben» für zu bildungsfern um das Geschwurbel in der richtigen Mülltonne zu entsorgen.

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