Die Granulierung des Betroffenseins, Teil I

Jeder für sich in seiner Privatblase und ansonsten alle gegen alle. Der neuste Unfug.

Exemplarisch wird in Holland zurzeit eine aufgeregte Debatte geführt. Wer ist legitimiert, das bei der Inauguration von Joe Biden verlesene Gedicht einer jungen Afroamerikanerin zu übersetzen?

Jeder, der’s kann und diese Flachsinnslyrik im Kopf aushält? Könnte man meinen. Zudem guckte sich der Verlag eine junge, wilde Poetin aus, die sich als non-binär bezeichnet, also wohl auch als ausgegrenzt und diskriminiert empfindet, wie Amanda Gorman in den USA.

Aber weit gefehlt. Es erhob sich grosses Geschrei der dunkelhäutigen Community in Holland, wie man es wagen könne. Denn die holländische Poetin ist – weiss. Dazu fehle ihr jeder sozio-kulturelle Hintergrund, um das Werk aus den USA adäquat übertragen zu können. Darüber könnte man hinweglachen, wenn es nicht ein Ausdruck der allgemeinen Verwilderung wäre, der Protest, Debatten, gemeinsam sind wir stark, so mühsam bis unmöglich macht.

Die offene Debatte liegt im Koma

Gleich zwei Wellenbewegungen beschädigen, oftmals zerstören sogar die offene Debatte, unser einziges und wichtigstes Alleinstellungsmerkmal gegenüber diktatorisch oder fundamentalistisch-religiös beherrschten Gesellschaften. Die offene Debatte röchelt vor sich hin.

Zunächst durch diesen Mitbetroffenheitsschwachsinn. Nur eine junge Schwarze mit ethnisch ähnlichem Hintergrund kann ein Gedicht einer anderen Schwarzen korrekt übersetzen? Nur ein Einbeiniger kann über die Probleme von Einbeinigen klagen? Nur eine Mutter darf sich zu Kindererziehung äussern? Es wird grundsätzlich bestritten, dass ohne Teilhabe, die sich in schlichter Ähnlichkeit äussert, eine Teilnahme an der Debatte über ein Problem möglich sei.

Und diese Qualifikation wird mit absurden Korrelationen erworben? Gleiche Pigmentfärbung der Haut, gleiches körperliches Gebrechen, gleicher Erfahrungshorizont? Gleiches Geschlecht, gleiche Sozialisierung? Wenn die älteren, weissen, reichen Männer im englischen Parlament auch so gedacht hätten, wäre ihnen nicht im Traum eingefallen, Sklavenhandel und Sklaverei zu verbieten.

Statt immer mehr Teilnehmer immer weniger

Früher, ja früher wurde der gesellschaftliche Fortschritt und die Erkenntnis dadurch befördert, dass im Verlauf der Demokratisierung immer mehr Teilnehmern das Mitdiskutieren, Mitstreiten, Mitdenken erlaubt wurde. Das gipfelte dann in den Erklärungen der allgemeinen Menschenrechte, die jedem alleine durch das Menschsein unveräusserliche Rechte zubilligten.

Auch das wurde zuerst ausschliesslich von wohlhabenden, nicht mehr ganz jungen  weissen Männern beschlossen. Dann entwickelte sich eine Inklusion, die den Namen auch verdiente. Von Frauen, von Besitzlosen, von ethnisch oder schlicht an der Hautfarbe erkennbar anderen. Das war seit 1776, seit 1789, seit 1848 ein grandioses Erfolgsmodell.

Bis 1989, als der Zusammenbruch des sozialistischen Lagers und der damit verbundene Wegfall eines einfachen Schwarzweiss-Rasters – hier gut, dort böse – das Koordinatensystem zur Weltkartographie und die Orientierung verlorengingen. Nach kurzzeitigem Triumphalismus – das Ende der Geschichte ist erreicht  –, begann eine ganz unheilvolle Entwicklung, um neue Weltvermessungen durchführen zu können und wieder Halt zu finden in einer unübersichtlichen, chaotischen, globalisierten Welt.

Selbstdefinition durch Abgrenzung

Es begann die Granulierung, also die Selbstdefinition jedes Einzelnen durch Abgrenzung, nicht durch Gemeinsamkeit. Während es vorher eine mächtige Schwulenbewegung gab, zersplitterte sie nun. Der schwarze Schwule im Ghetto, genauso meilenweit entfernt vom weissen mittelständischen Schwulen wie der vom reichen Schwulen, unabhängig von der Hautfarbe.

Ausgebeutete und Ausbeuter, Besitzer und Habenichtse, Mächtige und Machtlose, Dominierende und Dominierte? Aber nein, so einfach ist das nicht mehr. Habenichtse müssen nach Hautfarbe, Geschlecht, Herkunft, Sozialisation, Glauben, Aufenthaltsort und vielen weiteren Kriterien vorsortiert werden.

So entstehen vereinzelte Schneeflocken in ihren Blasen, die vor jedem Kontakt mit Andersartigen, aber auch mit eigentlich Gleichgesinnten, zurückschrecken. Einen schwarzen, schwulen Sozialdemokraten trennen Welten vom Ausbeuter, aber auch Welten von der weissen, weiblichen, heterosexuellen Genossin.

Komplettiert wird diese Symphonie des Wahnsinns durch eine zweite, völlig falsche Zuweisung. Indem eine Eigenschaft, die überhaupt nichts mit einer anderen zu tun hat, mit der korreliert wird, um einen sachunabhängigen Vorwurf zu legitimieren. Hä?

 

Fortsetzung folgt.

4 Kommentare
  1. Martin Schwizer
    Martin Schwizer sagte:

    Herr Zeyer, es geht um was ganz anderes. Alle waren angetan – aber nicht vom Gedicht, sondern von der Robe und der edelritterhaften Anmut der jungen Frau. Diese Bild darf nicht durch niedere Auslese der Uebersetzung besudelt werden. Es ist nämlich eine neue Säulenheilige gekrönt worden, aber kein Präsident.

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  2. Simon Ronner
    Simon Ronner sagte:

    Das beschriebene Geschrei ist so lachhaft überspitzt, wirr, unecht; es ist offensichtlich gespielt. Kein Mensch käme von sich aus auf solch abstruse Ideen. Die Methoden sind dieselben wie diejenigen von Kindern, die genau wissen wie zu quengeln, um ihren Willen durchzudrücken. Oder wie bei dieser Art von Frauen, die, anstatt einen Fehler zuzugeben, zu weinen beginnen.

    Perfide Methoden zwar, aber die Absicht ist durchschaubar: Es geht rein nur um Macht.

    Womit sich die Frage stellt, warum die Angegriffenen vor all diesen Twitterlis, Gymi-Kindern und Lifestyle-Empörten reihenweise einknicken. Vielleicht schüchtert der Anschein eines vielfältigen, geballten Rückhalts von Medien, mitte-links Politikern, Showstars, Künstlern ein, der ein Gefühl der übermächtigen Masse erzeugt, verbunden mit der Angst vor Ausschluss. Gleichzeitig werden ja Gegenpositionen gezielt diskreditiert, als unstatthaft getadelt.

    Das könnte böse rauskommen. Darum: Standhaft bleiben.

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