Wildwest im Internet
Eine Errungenschaft der Zivilisation war, das Faustrecht abzuschaffen. Die private Rechtsprechung. Nun ist sie wieder da.
Es dauerte im Wilden Westen, aber irgendwann setzte sich auch dort durch, dass der Cowboy nicht einfach das Recht – oder was er dafür hält – in die eigenen Hände nehmen darf. Sondern dass er Entscheidung und Urteil dem Staat zu überlassen hat.
Manchmal schlägt die Geschichte wirklich merkwürdige Purzelbäume. So wie sich vor 200 Jahren Grossgrundbesitzer oder die Halter von Riesenherden, später dann Ölbarone aufführten, inklusive Rechtsprechung, so ist das heute auch wieder.
Von vielen Kurzdenkern bejubelt, haben diverse soziale Plattformen bekanntlich dem Ex-Präsidenten Donald Trump den Stecker gezogen. Nachdem sie fast vier Jahre lang zusahen, was er alles so twitterte, auf Facebook stellte oder auf YouTube, entdeckten sie plötzlich kurz vor der Amtsübergabe ihre soziale, politische und sonstwas Verantwortung.
Statt Trump entscheiden nun Zuckerberg, Dorsey, Page?
Man tritt Mark Zuckerberg nicht zu nahe, wenn man ihn als leicht schrullig bezeichnet. Bösartiger könnte man von Autismus sprechen, auch das hässliche Wort Soziopath in die Runde werfen.
Man tritt auch Jack Dorsey nicht zu nahe, wenn man ihn als leicht abgedreht bezeichnet. Er ist, zusammen mit einem Hedgefonds, arabischen und russischen Investoren als Mitgründer einer der grössten Einzelaktionäre von Twitter. Man tritt auch Larry Page nicht zu nahe, dem Mitentwickler von Google (Marktmacht 92 Prozent) und damit Mitbesitzer von YouTube, wenn man ihn als grossen Heuchler (don’t be evil) bezeichnet.
Nun sind diese Herren daran beteiligt, wenn einem Nutzer ihrer Plattformen der Stecker gezogen wird. Deutschland, wovon auch Schweizer Betreiber von Webseiten betroffen sind, hat die Absurdität und staatliche Bankrotterklärung auf die Spitze getrieben. Mit dem nicht nur sprachlichen Monster «Netzwerkdurchsetzungsgesetz». Wer sich mal ein schönes Stück deutsche Wertarbeit anschauen will, bitte sehr.
Eine gute Absicht verkehrt sich ins Gegenteil
Kurz gefasst macht dieses Gesetz auch den Betreiber einer sozialen Plattform haftbar, wenn der Hassposts, rassistische Schmierereien, Aufrufe zur Gewalt und so weiter nicht zackig säubert. Wer entscheidet, was noch von der Meinungsfreiheit gedeckt ist und wo der strafbare Raum beginnt? Nun, der Betreiber natürlich. Erst in nächster Instanz der Gesetzgeber, wenn er Fehlverhalten mit strammen Bussen bestraft.
Wie so oft verkehrt sich hier eine gute Absicht, eine Schranke gegen Hass und Hetze im Internet hinzustellen, ins Gegenteil. Zunächst brauchte der deutsche Gesetzgeber bis Herbst 2017, um dieses Gesetz zu verabschieden. Der absolute Sündenfall besteht darin, dass damit ganz offiziell privaten Firmen die Autorität übergeben wird, Zensur ausüben zu dürfen.
Die Wurzel des Übels liegt – wie meist – in den USA. Dort schafften es die grossen Plattformen mit geschickter Lobbyarbeit, sich vor einer Verantwortung zu drücken, die sonst jeder im Netz hat. Wenn ein Amok eindeutig gesetzwidrige Botschaften postet oder als Kommentar abschickt, dann haftet natürlich er selbst dafür. Aber auch die Plattform, die sich als Multiplikator missbrauchen lässt. Deshalb werden inzwischen von allen solchen Plattformen Kommentare moderiert oder gleich ganz abgeschafft. Ausser bei Facebook, Twitter & Co.
Nackte Brust schwierig, brauner Kommentar kein Problem
Die haben sich nämlich eine Ausnahmebewilligung gemischelt, dass sie eben keine Newsplattformen sind, sondern nur dem sozusagen privaten Meinungsaustausch ihrer Nutzer dienen. Ausdruck typisch amerikanischer Verklemmtheit ist dabei, dass es sehr schwierig ist, eine nackte Brust, selbst von einem Kunstwerk, hochzuladen. Rassismus, Hetzreden, absurde Verschwörungstheorien, Geschwafel über eine jüdische Weltverschwörung, das ist hingegen kaum ein Problem.
Ausser im deutschen Sprachraum. Das ist die vermeintlich gute Seite. Die rechtsstaatlich mehr als bedenkliche ist, dass es dem Belieben und der Willkür der Kontrolleure von Privatfirmen überlassen bleibt, ob eine Mitteilung im Netz bleibt oder gelöscht wird. Oder gleich der Account gesperrt wird.
Genau wie bei vielen grauen und schwarzen Listen herrscht hier völliger Wildwest. Wer als Person gesperrt wird oder gar auf eine Blacklist kommt, hat keinerlei rechtsstaatliche Möglichkeiten, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Wer’s nicht glaubt und sehr viel Geld hat, kann gerne versuchen, eine dieser Plattformen haftbar zu machen oder zur Streichung seines Namens aufzufordern.
Chancen zur Gegenwehr: faktisch null
Alle Dummköpfe, die das Verstummen von Trump auf den sozialen Netzwerken bejubelt haben, sind sich offenbar nicht darüber im Klaren, dass sie Willkür und Faustrecht applaudieren. Was sich nicht zuletzt darin manifestiert, dass fast vier Jahre lang alle diese Plattformen x-fach an Trump verdienten. Durch Gratis-Werbung in Form von Nennung in allen Newskanälen, und in Form von volumenabhängiger normaler Werbung auf dem Gleitmittel Trump.
Das Gesetz in Deutschland, die hilflosen Aufrufe zur Beseitigung rechtsfreier Räume im Internet bewirken bis heute nur eins: Wildwest wird durch reine Willkür ersetzt. Jedem kann begründungslos oder mit windiger Begründung der Stecker gezogen werden. Rechtsmittel dagegen: null. Willkommen in der schönen, neuen Welt.
«Willkür und Faustrecht» (Zeyer)? Oder das Recht einer Person, sei sie noch so «schrullig», «abgedreht» oder «heuchlerisch» (Zeyer), ihre vertraglichen Beziehungen nach Belieben zu gestalten (Privatautonomie) und jemandem den Stecker zu ziehen, wenn dieser Jemand ihr nicht oder nicht mehr passt? Aus meiner Sicht wäre etwas mehr Differenziertheit am Platz. Siehe dazu den Fall des Tages-Anzeiger-Filmkritikers Seelig (BGE 80 II 26): Ein Kinobesitzer verweigerte Herrn Seelig den Zutritt zu seinem Kino, weil sich dieser in einer Kritik unsachlich über sein Kino geäussert habe. Auch das Bundesgericht öffnete Herrn Seelig die Tür zum Kino nicht. Selbst die Berufung auf die Pressefreiheit reichte dazu nicht aus. Zugegeben, der Entscheid ist schon ein bisschen älter (heute auf den Tag genau 67 Jahre), und er wurde in der Lehre heftig kritisiert. Aber vielleicht liefert er Argumente für eine umfassendere Würdigung. Facebook, Twitter etc. sind jedenfalls nicht die SBB AG, die mit jedermann einen Transportvertrag abschliessen muss. Zum Schluss: Ich bin ein grosser Fan von Zackbum. Sehr gute Themen, sehr gut geschrieben und sehr gut begründet. Ich bin gerne bereit, dem offenbar zu gründenden Trägerverein eine Spende zukommen zu lassen.
Und alle Dummköpfe, die das Verstummen von Trump auf den sozialen Netzwerken bejubelt haben, sind sich offenbar nicht darüber im Klaren, dass auch sie früher oder später dran sind. Man sei links, daher kein Problem? Doch. Denn auch typische Bünzli-Linke sind bald einmal nicht mehr links genug.