Der schöne Godi
Wer schön sein darf und wer nicht.
Tennisspiele kommentieren kann ganz schön öde sein. TV-Experte Boris Becker streute kürzlich aus Träumerei einen verhängnisvollen Satz ein: «Wenn ich das auch mal erwähnen darf, eine ausgesprochen hübsche Schiedsrichterin.» Er meinte Tennis-Referee Marijana Veljovic, und er hatte objektiv gesehen recht. Trotzdem prasselte ein Schwall von Sexismus-Vorwürfen auf den Vierfachvater mit drei Frauen. Frau. Hübsch. Das geht gar nicht.
Unwort des Jahres: Grenzverletzungen
Szenenwechsel. Aline Wanner schreibt ein mehrseitiges Portrait über den gestrauchelten Chef der Reformierten Kirche der Schweiz, Gottfried «Godi» Locher. In ihrem Text in der NZZ-Samstagsausgabe vom 12. September stellt sie fest: «Er ist ein schöner Mann, ein begabter Redner, schnell im Kopf, überzeugend im Auftritt.» Dabei gibt Aline Wanner zu, dass Locher mit der NZZ nicht über die Hintergründe seines Rücktritts sprechen wollte. Fragen beantwortete er keine. Ein «kaltes» Portrait also, das Aline Wanner schreibt. Trotzdem scheint sie ziemlich beeindruckt vom 53-jährigen, verheirateten Dreifachvater. Mann. Schön. Begabt. Doch auch ihr gelingt nicht, das in fast jedem Medienbericht auftauchende Wort «Grenzverletzungen» gegenüber Frauen zu konkretisieren. Ist es Scham, Prüderie, reformiertes Denken? Grenzverletzung kann ein Lob über das Aussehen, ein Griff an den fremden Po, aber auch eine klassische Bettnummer sein. Doch niemand will konkret werden. Hat das rechtliche Gründe? Deckt Locher alle Kritiker mit Klagen ein? «Grenzverletzungen» scheint ein Kandidat zum Unwort des Jahres zu werden.
Auch geht Aline Wanner der Frage nicht nach, wie es denn der Familie von Gottfried Locher gehen könnte nach den vielen Seitensprüngen von «Godi». Eine Frage, die sich auch bei Geri Müllers sexuellem Aussetzer niemand fragte. Denn auch der damalige Badener Stadtammann pflegte eine aussereheliche Beziehung. Der Unterschied: Objektiv gesehen kann man bei Müller nicht von einem «schönen» Mann sprechen, im Gegensatz zu Locher.
Blick schiebt nach
Aline Wanner schliesst ihr Portrait mit der Feststellung: «Es bleibt eine teure Angelegenheit zwischen Anwälten und PR-Beratern, die versuchen werden, die Mitglieder der Kirche, Journalisten und schliesslich die Öffentlichkeit von ihrer Wahrheit zu überzeugen.» Wie teuer, hat Wanner nicht herausgefunden. Das schiebt Blick-Politik-Chefin Sermin Faki am Montag nach. An der Synode in Bern sei bekannt geworden, dass die «Aufarbeitung des Locherskandals teuer» werde. Allein für die Untersuchung seien 170’000 Franken veranschlagt, der Grossteil davon für Honorare der beauftragten Anwälte. Dass somit Steuergelder verbrannt werden, steht nicht im Bericht. Dem schönen Godi dürfte es egal sein.
P.S. Aline Wanner ist übrigens nicht die Tochter von Peter Wanner, wie Roger Köppel irrtümlich mal schrieb. Aline Wanner arbeitete bis vor kurzem beim Schweizteil der «Zeit» und seither beim NZZ-Folio. Weil dieses nur noch alle zwei Monate erscheint, springt Wanner auch bei der NZZ und bei der NZZ am Sonntag – dort mit einer Medienkolumne – ein.
Schöner Text. Trotzdem hinkt der Vergleich der unpassende Aussage von Becker mit einem Porträt etwas.